Herrn Kermanis Gespür für Rockmusik

Allen digitalen Unkenrufen zum Trotz: Es gibt sie noch, die dicken Romane (früher sagte man auch Schinken dazu), so auf richtigem Papier, mit Buchdeckeln und allem Drum und Dran. Als müsste das analoge Medium gleichsam in einem letzten Aufbäumen zeigen, was es wirklich kann, machen sich dieses Jahr besonders viele Exemplare dieser Gattung bemerkbar.

Eines davon ist „Dein Name“, ein Roman des iranischstämmigen Orientalisten Navid Kermani. Der hat neben dem Gebiet, in dem er ausgewiesener Fachmann ist, auch eine Schwäche für Rockmusik. Und so geht es in „ein[em] der ungewöhnlichsten Romane unserer Zeit, der das Privateste ebenso in den Blick nimmt wie die Geschichte, in der wir leben, ein[em] Buch, das unser Bild der Gegenwart nachhaltig verändern wird“ (Verlag) eben auch um – Neil Young.

Wer Navid Kermanis „Buch der von Neil Young Getöteten“, eine mit viel Herzblut geschriebene Ehrerbietung an den Godfather of Grunge, kennt, den wird es nicht wunder nehmen, dass Kermani auch in „Dein Name“ immer wieder seinem Idol huldigt. Das freut den Young-Exegeten und nimmt vielleicht auch manchem die Scheu vor dem mit seinen immerhin 1232 Seiten allzu intellektuell gigantomanisch erscheinendem Riesenroman:

It’s all one song, rief Neil Young, als sich bei einem Konzert jemand lauthals beschwerte, daß alles gleich klinge. Den Unterschied macht nicht die Geschichte, die beliebig, ja austauschbar anmutet, sondern der Mut, sich in eine einzelne Situation, eine abseitige Episode von vielleicht zehn, vielleicht fünf, vielleicht zwei Minuten Realzeit hineinzustürzen wie in einen reißenden Fluß, sich darin zehn, fünfzehn, dreißig Seiten treiben zu lassen, ohne einen Gedanken zu verschwenden ans Ufer, an das, was draußen in der Handlung passiert.

Navid Kermani: Dein Name. Carl Hanser Verlag, 1232 Seiten, 20 Abbildungen, 34,90 €.

„Malchuth ist Malchuth und damit basta.“

In Max Czolleks Gedichtband „Druckkammern“ zischt und brodelt es wie in einem Labor.

Das 35. Quartheft aus dem Verlagshaus J. Frank in Berlin, ein Lyrikdebüt, das unlogischerweise in der Reihe „Edition Belletristik“ erscheint, ist ein lesefreundliches Softcover von knapp neunzig Seiten; die fünfzig Gedichte überschreiten selten eine davon und genießen, mittig platziert, viel Freiraum.

Soviel zur Zahlenmystik, die in diesem Band überhaupt keine Rolle spielt, wie das hier titelgebende Zitat aus Umberto Ecos Verschwörungssatire „Das Foucaultsche Pendel“ unterstreicht. Stattdessen wird ein himmelweiter Referenzraum eröffnet: Czollek zitiert neben Eco auch großformatig Bob Dylan, Maxim Biller, den Talmud – und den Schlager „Over the Rainbow“. Um eine visuelle Komponente ergänzen ihn drei doppelseitige Illustrationen (eine Straßen-, eine U-Bahn- und eine Waldszene) von Frederik Jurk.

In seinen Gedichten ist Max Czollek in der ersten Hälfte ein detailversessener Beobachter von Großstadt- und Reiseszenen von Weimar bis Tel Aviv, die er mit naiv-kindhafter Bildsprache ausgestaltet: „wer verreisen will/kaut zitrusfrüchte/malt sich eine karte/zur videothek und zurück.“ In der zweiten Hälfte wagt er sich an größere Themen: „ein oder zwei zonen zwischen mir/und dem rest der geschichte“, heißt es im fünfteiligen Zyklus „leuchten“, dem das Talmud-Zitat vorangestellt ist. Eine Spurensuche nach der mame loyschen, dem jiddischen Wort für Muttersprache, bildet den Abschluss und deutet so den Versuch einer eigenen Verortung des Schreibens an: „hast dich los gemacht/zurück in das ghetto/aufgänge gesucht/deine frühen gesichter:“.

Was da zischt und brodelt und sich zwischen Zitaten und Illustrationen, die den Blick bisweilen ein wenig verstellen, auftut, ist so etwas wie ein Labor für eine neue Stimme, die sich ausprobiert – und wie ein Taucher in der Druckkammer langsam auf die Außenwelt vorbereitet.

Max Czollek: Druckkammern. Verlagshaus J. Frank, 84 Seiten, 13,90 €.