Werner Herzog und der Rest der Welt

An Werner Herzog scheiden sich die Geister, man ist entweder entrückt oder befremdet von dieser Art des Filmemachens, die sich noch den entlegensten Alltagsbeobachtungen mit kindlichem Staunen annähert.

Gut beobachten konnte man das am Ende des letzten Dokumentarfilms „Die Höhle der vergessenen Träume“, wenn Herzogs sanfte Erzählerstimme plötzlich über die Albino-Alligatoren zu meditieren beginnt, die unweit der Chauvet-Höhlen im Kühlwasser eines Atomreaktors leben.

Dass Werner Herzog auch auf dem Papier fesselnd erzählen kann, zeigt sich in seinem neuen Buch „Vom Gehen im Eis“, das eine Wanderung von München nach Paris im November 1974 dokumentiert, entstanden aus der wahnwitzigen Idee, dadurch der Filmhistorikerin Lotte Eisner das Leben zu retten. Wahrscheinlich auch ein Buch, an dem sich die Geister scheiden – aber das kann ja zum Glück jeder für sich selbst entscheiden.

Sonne, wie ein Frühlingstag, das ist die Überraschung. Wie aus München herauskommen? Was beschäftigt die Menschen? Caravans, die Unfallautos, die aufgekauft werden, Autowaschstraße? Das Nachdenken über mich fördert eines zutage: der Rest der Welt reimt sich.
Ein einziger, alles beherrschender Gedanke: weg von hier. Die Menschen machen mir Angst. Die Eisnerin darf nicht sterben, sie wird nicht sterben, ich erlaube das nicht. Sie wird nicht sterben, sie wird nicht. Nicht jetzt, das darf sie nicht. Nein, jetzt stirbt sie nicht, weil sie nicht stirbt. Meine Schritte gehen fest. Und jetzt zittert die Erde. Wenn ich gehe, geht ein Bison. Wenn ich raste, ruht ein Berg. Wehe! Sie darf nicht. Sie wird nicht. Wenn ich in Paris bin, lebt sie. Es wird nicht anders sein, weil es nicht darf. Sie darf nicht sterben. Später vielleicht, wenn wir es erlauben.

Werner Herzog: Vom Gehen im Eis. München-Paris 23.11. bis 14.12.1974. Hanser Verlag, 112 Seiten, 10 €

Auf Expedition mit Band of Horses

Wenn nichts anderes mehr im Fernsehen läuft, man gleichzeitig aber zu faul zum Ausschalten ist, gibt es meist zwei Möglichkeiten: Shoppingkanäle. Oder Tierfilme.

In der dritten Ausgabe der Clipkritik nehmen sich Band of Horses aus Seattle dem oft geschmähten Genre der Naturdokumentation an. Die wilden Pferde werden in dem Fall – soviel Wortwitz sei erlaubt – durch die Bandmitglieder selbst dargestellt. Auf amüsante Weise gelungen ist hier die heimelige Fünfziger-Jahre-Atmosphäre, über die der eigentlichen Auftritt der Band als Lehrfilm inszeniert wird, inklusive steifem Biologie-Professor, schleimigen Studenten und einem schönen alten Super-8-Vorführgerät. Leider kann das dazugehörige Musikstück „Knock Knock“ in Sachen Originalität nicht so recht mithalten – aber da könnte man sich ja mit der Tonspur eines Grzimek-Tierfilms behelfen.

Bisher erschienen in der Rubrik „Clipkritik“:

Kindergeburtstag mit Black Moth Super Rainbow
Motorradfahren mit Spiritualized

Kindergeburtstag mit Black Moth Super Rainbow

Zarte Gemüter aufgepasst: In diesem Musikvideo werden Hipster fertiggemacht!

In dieser Ausgabe der Clipkritik geht es, nach Motorradfahren mit Spiritualized, wieder um ein modernes Fortbewegungsmittel, sozusagen mit Tücken. Ein Hipster-Pärchen verfährt sich, weil das Navigationsgerät spinnt, im nicht so schönen Teil der Stadt. Es kommt, wie es kommen muss: Eine Bande Maskierter rückt ihnen mit Baseballschlägern auf den Leib. Aber statt einen klassischen Überfall durchzuziehen, zaubern sie plötzlich – Überraschung! – Sahnetorte, Elektrorasierer und ein Wasserbecken hervor und schocken die Hipster damit ungleich mehr. Dazu ein hippes Stück Elektromusik von Black Moth Super Rainbow, die aus dem gar nicht so hippen Pennsylvania stammen und ein glückliches Händchen bei der Wahl ihres Regisseurs bewiesen haben – Vorsicht vor dem „Windshield Smasher“!

Bisher erschienen in der Rubrik „Clipkritik“:

Motorradfahren mit Spiritualized

Trouble in Paradise

Land der Hobbits, Kiwis und Maoris! Wer sich ähnlich oberflächlich mit Neuseeland auskennt, wird sich über den Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 2012 freuen: Das diesjährige Gastland bringt Scharen von Autoren nach Deutschland, die das romantisierte Bild der fernen Insel ein wenig geraderücken könnten.

Carl Nixon ist einer von ihnen. Sein Roman „Rocking Horse Road“, der jetzt im Weidle Verlag erschienen ist, ist zwar wunderhübsch aufgemacht – gleich auf den ersten Seiten wurden als Beigabe herzerweichende Landschaftsszenen eingefügt –, handelt aber von gar nicht so schönen Dingen.

Ein Mädchen, Lucy, liegt eines Morgens am malerischen Strand nahe Christchurch: Nackt, erwürgt, vergewaltigt. Sie war der feuchte Traum aller halbwüchsigen Jungs in der Gegend, und ihr Tod reißt eine Lücke in das sonst so friedliche, verschlafene Leben der neuseeländischen Provinz. Was Carl Nixon hier schafft, schmerzt beim Lesen fast ebenso sehr wie es fasziniert: Er macht das traumatische Erlebnis, das der Tod einer geliebten Person bedeutet, spürbar, indem er konsequent aus der Wir-Perspektive die quälende Suche der Übriggebliebenen nach dem Schuldigen beschreibt. „Rocking Horse Road“ ist aber eigentlich noch mehr: In dem groß angelegten Erzählzeitraum, der über zwanzig Jahre umfasst, geht es auch um die ganz großen Themen. Das Erwachsenwerden, den Verlust der Unschuld – und immer wieder um Neuseeland, dieses Sehnsuchtsland, das nach dem Lesen dieses Buches auch ein bißchen entzaubert ist.

Passend dazu auch wieder die äußere Gestaltung: Nimmt man den prächtigen Umschlag ab, der erst einmal wie die schönste Ansichtskarte der Welt aussieht, entdeckt man auf dem Einband grobkörnige Schwarzweiß-Fotografien von Stacheldraht und Menschen, die mit Stöcken aufeinander einprügeln. Auch das, eine Anspielung auf die ersten gewalttätigen Demonstrationen in Neuseeland anlässlich des Besuchs der südafrikanischen Rugbymannschaft im Jahr 1981, ist Teil des Romans. Unter der Oberfläche brodelt es, auch im Land der Hobbits, Kiwis und Maoris.

Carl Nixon: Rocking Horse Road. Weidle Verlag, 240 Seiten, mit Abbildungen, 19,90 €.