Ich krieg die Krise: Winkler, Werber, Holtrop

Wirtschaftskrisenliteratur? Bitte sehr: Rainald Goetz reißt in Johann Holtrop munter die Gesellschaft ab. Enno Stahl treibt in Winkler, Werber noch munterer den Agenturirrsinn auf die Spitze.

Würden sich Jo Winkler und Johann Holtrop verstehen? Mit großer Wahrscheinlichkeit würden sie es nicht lange in einem Büro aushalten. Holtrop ist Chef der Assperg AG, Winkler Senior Texter in einer Agentur. Im direkten Vergleich bilden die beiden ein Gegensatzpaar mit der Sprengkraft einer Ladung TNT.

„Als hätte ich nicht genug zu tun, aber was soll’s, gebt das alles mir, gebt alles dem Jo, der macht das schon, gar kein Problem, sieben Sachen gleichzeitig, dreizehn Sachen gleichzeitig, normal, ganz normaler Tag, der normale Wahnsinn.“ (Winkler) – „Die Tür flog auf, Holtrop stand da, demonstrativ unbewegt. Ein Eiswind sollte von Holtrop her in den Raum hineinfegen. Holtrops unbewegtes Dastehen sagte: ‚Da sitzt ihr alle und schaut mich an.’“ (Holtrop)

So gegensätzlich ihre Figuren angelegt sind, was Enno Stahl und Rainald Goetz beide sichtlich genießen, ist die Aneignung manisch-hysterischer Denk- und Sprechweisen aus der Geschäftswelt. Lange Absätze, zerhackte Schlangensätze, Wortungetüme am Rande der Sinnlosigkeit hier wie dort. Gerade bei Goetz, dem das überquellende Talent des Loslaberns ja in die Wiege gelegt scheint, ächzt die Romankonstruktion allerdings spürbar unter den Riesenegos Johann Holtrops und einem ganzen Geschwader weiterer paranoid-schizoider Manager-Typen. Stahl hat es da leichter, er muss den zwanghaft vor sich hin monologisierenden Winkler nur immer weiter in den Abgrund torkeln lassen. In Johann Holtrop ist es die gesamte Wirtschaftskrise, die nach dem Schema „Ein Chef stürzt ab“ Literatur werden soll. Mit deutlich weniger Pathos geht es in der Kölner Werbeagentur zu, der dauerquasselnde Texter auf Betriebsausflug wird, tragisch zwar, aber doch zur Witzfigur. Spaß machen auf beiden Seiten die in schöner Regelmäßigkeit irrer werdenden Kostproben aus dem Werbe- und Management-Kauderwelsch: „Catch-Visuals“, „Extrakosten“, „Rewrite für den Notfall“ bei Enno Stahl, „Delegationskaskaden“, „Kickbackgutschriften“, „Fundamentalfaktizität“ (der Laptop-Screen erzittert ob der Wortungetüme) bei Rainald Goetz.

An dieser Stelle wäre vielleicht der richtige Augenblick zu fragen: Schön und gut, aber soll, muss, kann man das alles denn auch lesen? Die Antwort: Ja, nein, vielleicht.

Rainald Goetz: Johann Holtrop. Suhrkamp Verlag, 343 Seiten, 19,95 €/Enno Stahl: Winkler, Werber. Verbrecher Verlag, 320 Seiten, 22 €

Eilmeldung: Kurzeck geht ins Taschenbuch!

Peter Kurzeck macht es richtig: Er schreibt nicht mehr. Er lässt schreiben. Zumindest sein letztes Buch Vorabend diktierte er im Frankfurter Literaturhaus einer ganzen Armada von freiwilligen Aufschreibern.

Hat auch seine praktischen Seiten, gerade bei einem Seitenumfang ab 1.000 aufwärts und ohne falsche Bescheidenheit: „Ich habe mir vorgenommen, mein Zeitalter aufzuschreiben. Jetzt ist es noch wie eine Landkarte, die erst entsteht, oder ein Puzzle.“

Und da Peter Kurzeck am liebsten selber erzählt, sei an dieser Stelle einfach mal das schon im März erschienene Hörbuch Unerwartet Marseille empfohlen, das man sich auszugsweise hier anhören kann:

Um zum eigentlichen Thema zu kommen: Peter Kurzecks Bücher erscheinen ja im sehr feinen Stroemfeld Verlag, der auch die nicht genug zu lobende historisch-kritische Kafka-Ausgabe herausbringt. Der einzige Nachteil: Da der Stroemfeld Verlag jedes Buch auch sehr schön bindet, war das Lesen von Peter Kurzeck bislang auch immer eine Frage des Geldbeutels.

Da ist es schon eine Meldung wert, dass der Fischer Taschenbuch Verlag jetzt damit begonnen hat, die Romanfolge über „das alte Jahrhundert“, deren vorläufig letzter Band ja der voluminöse Vorabend war, ins erschwingliche Softcover-Segment zu heben. Da fällt das Puzzlen gleich viel leichter. Also bei der nächsten Zugreise: Auf den Kurzeck-Stapel in der Bahnhofsbuchhandlung achten!

Peter Kurzeck: Übers Eis/Als Gast. Fischer Taschenbuch Verlag, ab 26. September 2012, 9,99/10,99 €

Eine Nachtmeerfahrt mit Hundred Waters

Heute in der Clipkritik: Ein Musikvideo, in dem gar nicht viel, aber dafür umso Schöneres passiert.

Die Handlung von „Thistle“ wiederzugeben würde so ziemlich allem widersprechen, was den Reiz dieses kleinen Films ausmacht. Daher nur soviel: Ein heimwehkrankes Pferd wird in letzer Sekunde vom Galgen befreit und galoppiert durch Scheune, Sand und ein Meer aus Plastikfolie. Zusammen mit der versponnenen elektronischen Musik von Hundred Waters ergibt das eine verträumt-alptraumhafte Nachtmeerfahrt in Stop Motion irgendwo zwischen Tim Burton und der Augsburger Puppenkiste.

Bisher erschienen in der Rubrik „Clipkritik“:

Auf Expedition mit Band of Horses
Kindergeburtstag mit Black Moth Super Rainbow
Motorradfahren mit Spiritualized

Here Comes The Sun

Eigentlich ist die Plattenkritik ein Relikt. Eine Reminiszenz an die guten alten Zeiten, als man sehnsüchtig auf den Tag wartete, an dem das neue Lieblingsalbum im Laden stand und vorher im Radio die Single-Auskopplungen auf Kassette aufnahm, um sie wieder und wieder anzuhören.

Hielt man das Lieblingsalbum dann in den Händen, galt es, durch endloses Durchhören auch noch die kleinsten Details dieses Gesamtkunstwerks zu erfassen, Dramaturgie zu erspüren oder sich über Brüche in der Tracklist zu ärgern.

Das neue Album von Cat Power ist vielleicht das beste Beispiel für den Umbruch, der seit einigen Jahren geschieht. Chan Marshall macht unter diesem Namen seit der Zeit der großen Popalben Musik, tatsächlich ist Sun schon das neunte seit Dear Sir aus dem Jahr 1995. Und spätestens seit Jukebox hat die Auflösung des Popalbums als homogenes Kunstwerk bei Cat Power Methode.

Lampenfieber, Lebenskrisen, Alkoholexzesse: Die zerbrechliche Seite von Chan Marshall ist auch zum Erscheinen von Sun wieder dankbarer Aufhänger in den Porträts, die landauf, landab in der Tagespresse zu lesen sind („Tränensäcke lügen nicht“). Und doch ist die Zerbrechlichkeit für Sun wichtig – und zwar als Kompositionsprinzip. War der Vorgänger Jukebox bis auf eine Ausnahme ein reines Coveralbum, in dem die Künstlerin allein als Stimme existierte, ist Sun eine stilistisch zutiefst heterogene Angelegenheit. Auf Hochglanz polierte Elektronik, unbedenklich Tanzbares und abgrundtiefe Düsternis wechseln sich in atemberaubendem Tempo ab. Dramaturgie hingegen sucht man vergebens, selbst das Artwork wirkt so nebenbei hingeworfen, als möchte hier jemand sagen: Das, was du hörst, ist kein Album. Es ist nicht dein nächstes Lieblingsalbum. Das sind nur ein paar Musikstücke, die du dir herunterladen kannst, und wenn du schon mal dabei bist, denk dran, es ist nicht wichtig, was du hier hörst, es ist doch nur Popmusik – die schönste, die man sich vorstellen kann.

Cat Power: Sun. CD, Doppel-LP, Download. Matador Records 2012, 56:07 Minuten, ca. 14,99 €.