Videos zurückspulen mit Ty Segall

Zur Grundausstattung jedes Haushalts bis weit in die neunziger Jahre hinein gehörte selbstverständlich: der Videorekorder.

Ob man nun eifriger Nutzer von Videotheken war oder einfach nur die Lieblingssendung aufzeichnete, das Überspielen, Zurückspulen und die charakteristischen Streifen im Bild – die sich mit jedem Abspielen häuften – wurden zwangsläufig zum festen Bestandteil vieler in dieser Zeit gesehener Lieblingsfilme. Das war alles natürlich unglaublich umständlich, aber auch auf eine im Rückblick sehr erleichternde Weise unperfekt: War das Band kaputt, konnte man den Film halt nicht sehen – Sicherheitskopien, Torrent-Download, YouTube oder Streaming gab es ja noch nicht.

Ty Segall aus San Francisco, um den es eigentlich in dieser Ausgabe der Clipkritik geht, hat dieses Jahr schon drei Alben in wechselnder Band-Besetzung herausgebracht, die tief im Garagenrock der sechziger Jahre verwurzelt sind. Seinem neuesten, diesmal solo aufgenommenen Album Twins schickte er die Single „The Hill“ voraus. Auf dem dazugehörigen Video kann man alle Vorzüge der Betrachtung eines VHS-Videos wiedererleben, als Bären kostümierte Bandmitglieder vor weißem Hintergrundrauschen inklusive. Und was den Vertrieb angeht, bleibt das Label Drag City dem Magnetband treu: Twins ist auch auf Musikkassette erhältlich. Also, Walkman raus und Videorekorder an!

Bisher erschienen in der Rubrik „Clipkritik“:

Eine Nachtmeerfahrt mit Hundred Waters
Auf Expedition mit Band of Horses
Kindergeburtstag mit Black Moth Super Rainbow
Motorradfahren mit Spiritualized

Robert Walser in Südafrika

Ein Blick in die internationalen Literaturzeitschriften lohnt sich immer. Besonders empfehlenswerte Ausgaben lohnen einer genaueren Erwähnung, so etwa die fünfte Nummer der White Review aus London.

Die berichtet unter anderem über Christoph Schlingensiefs Operndorf in Ouagadougou, es gibt, als vierfarbigen Einleger gedruckt, drei neue Collagen-Gedichte von Herta Müller und einen Kurz-Essay über Robert Walsers letzten Spaziergang im Schnee – aus der Perspektive des südafrikanischen Schriftstellers Ivan Vladislavić.

In der Online-Ausgabe wurde dieser Beitrag noch um ein Interview ergänzt, bei dem schon die Fragestellungen lesenswert sind:

Your writing reveals a lot of deep reflection on the English language. Grammar, punctuation, dictionaries, crossword puzzles, lists of bird names, little known collective nouns, arcane forms, malapropisms, and the unruly polysemy of puns, all feature in your fiction at one time or another. How does this heightened awareness of language, the practice of taking your medium as your subject, help or impede you in telling the stories you want to tell?

Daneben kommt in der Papier-Ausgabe noch der amerikanische Schriftsteller Ben Marcus zu Wort, der sich am Beispiel von seinem letzten Roman The Flame Alphabet zur Zugänglichkeit von Literatur und dem Sinn des Kreativen Schreibens äußert, man kann zwei Kurzgeschichten lesen und Kunst gucken. The Daily Frown meint: Schön!

The White Review No. 5, 190 Seiten, £ 12.99

Aufwachen mit 1000 GRAM

1000 GRAM spielen, anders als der Name vermuten lässt, federleichten Pop, der sich auf dem Debütalbum Ken Sent Me der Melancholie gerade soweit ausliefert wie nötig.

Besonders kitschig wird es in Plattenkritiken ja immer, wenn der Rezensent sich dazu hinreißen lässt, „in die Welt“ der besprochenen Band „einzutauchen“, sich „auf eine Reise“ begibt oder gar anfängt „zu träumen“.

Das Problem: Genau so könnte man über die Musik von 1000 GRAM schreiben. Aber wirklich über die Musik gesagt wäre dabei wenig. Und 1000 GRAM können Musik machen: Laut und leise, akustisch, elektrisch verzerrt und mit einem soliden rhythmischen Grundgerüst, das von Anfang an das Tempo bestimmt. Sogar ein ganz dezent plazierter Background-Gesang lässt Lust am minimalistischen Pop-Arrangement erkennen.

Und wie sieht es mit den Texten aus? Die emphatische Aufforderung „close your eyes my friend/and bring your lantern“ gleich zur Eröffnung kann für einen Moment schon in Versuchung bringen, eine der obigen Klischee-Formulierungen zu bemühen. Aber das wäre an dieser Stelle sogar grob falsch. Denn 1000 GRAM sind nicht auf dem Weg ins Wunderland, schon im nächsten Stück „Came Back To Me“ bekommt die Euphorie des Aufbruchs einen Dämpfer, es geht ums Aufwachen, um die Stadt und die Natur, das Sich-Zurechtfinden und die Erinnerung an etwas, das einmal war: „I searched my patch most cautiously/because what I could not find/the rangers came and took from me/but they never took my mind.“ Damit ist auch schon der Spannungsbogen von Ken Sent Me beschrieben: Das Drängende des Anfangs wird immer wieder aufgegriffen und in unterschiedlicher Kombination kontrastiert, bis zum – eine gute Wahl! – offenen Ende „Steps Into Unknown Territory.“

1000 GRAM sind auf jeden Fall große Melancholiker. Da sie aber offenbar viel zu großen Spaß am Musikmachen haben, liefern sie sich der Melancholie nicht in voller Gänze aus, was Ken Sent Me zu einem spannenden Album macht. Das ist, ganz klischeefrei, eine Aussage, die diese Plattenkritik guten Gewissens machen kann.

Das Album Ken Sent Me erscheint am 23. November bei FIXE RECORDS, im Dezember kann man es dann auf Bühnen in Berlin, Görlitz und Stuttgart hören.

1000 GRAM – Teaser by TusenGram

Kopfschmerzen aushalten mit Christoph Wenzel


Hochspannungs-Idylle: Ein Waldweg irgendwo in Nordrhein-Westfalen

Heimatlyrik? Also damit will man ja erstmal nichts zu tun haben, so ein klebriger Begriff. Was sollte dann also an diesem Heftchen aus der „Edition Haus Nottbeck“, die sich als „Forum für Poesie in Westfalen“ versteht, auch nur in irgendeiner Form interessant sein für urbane, gegenwartsorientierte Leser?

Kurz gesagt: Eine ganze Menge. Aber der Reihe nach. Christoph Wenzel, ausgezeichnet bei der Lesung um dem renommierten Lyrikpreis Meran, Zeitschriftenherausgeber, Verleger, ist kein Wald- und Wiesenpoet. Und er macht sich in weg vom fenster ein ernstzunehmenes Bild von Nordrhein-Westfalen, dem wohl widersprüchlichsten aller Bundesländer, und seinen Regionen, insbesondere dem Ruhrgebiet.

Einige wenige der Gedichte in dem schmalen Band kennt man bereits aus Wenzels Lyrikdebüt tagebrüche, so etwa das mit dem etwas kryptischen Titel THTR. Hier geht es nicht um Science Fiction, sondern, sehr viel profaner, um den Kühlturm des ehemaligen Kernkraftwerks im Stadtgebiet von Hamm-Uentrop: „dieser tage zu hause gibt es gemüse in dosen/von bonduelle und becquerel in den wiesen.“ Das Miteinander von Bohnen und Becquerel, der Messeinheit für Radioaktivität, ist prägend für die Herangehensweise dieser Lyrik, in den Blick gerät das, was man vielleicht Heimat nennen könnte. Aber es ist eine Heimat fernab jeder Idylle, wortwörtlich: kontaminiert. „landschaften/wie kopfschmerzen“, heißt es an anderer Stelle. Kaum zutreffender könnte man ein Land beschreiben, in dem Kühe vor Kühltürmen grasen, Autobahnknoten auf Autobahnknoten folgt und die Sonne dann doch wieder in irgendeinem Feld ohne Handyempfang untergeht.

Gänzlich neu ist in weg vom fenster der Zyklus „das schwarzbuch die farbfotos“, eine Art lyrische Reportage aus der Vergangenheit des Ruhrgebiets, das wie kaum eine andere Region vom industriellen Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen betroffen ist. Eine gewisse Schwere in der Melancholie lässt sich nicht verhehlen, etwa wenn Wenzel die sozialdemokratische Heilsfigur Willy Brandt auftreten lässt („Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!“). Jedes der Gedichte nimmt darüber hinaus eine klare Funktion als Speicher für Dialogsequenzen und dialektale Besonderheiten ein – das ist schön zu lesen und verblasst schnell, wie eben die Bilder in einem alten Fotoalbum. Oft genug überbrückt aber eine trockene Ironie die Kluft zwischen Gestern und Heute und macht sie weniger gefährlich für Sentimentalitäten: „herne und wanne und/nebenan ist wieder einer: weg vom fenster.“

Man kann die Kopfschmerzen ertragen, wenn man Christoph Wenzel durch seine Landschaften folgt. Die Gefahr festzukleben besteht nicht.

Christoph Wenzel: weg vom fenster. Edition Haus Nottbeck, Oelde 2012, 32 Seiten, 5 €