Neues aus der Wildnis

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Detroit’s Beautiful, Horrible Decline: Fotostrecke auf time.com

„Wir waren drei Brüder und auf eine Million Dollar versichert“: Ein gescheiterter Roadtrip nach Detroit, erzählt auf kleinstem Raum.

Constantin Göttfert ist Spezialist für düstere Familienszenarien, das hat er mit seinem Erzählungsband In dieser Wildnis und dem Roman Satus Katze gezeigt – ein sehr interessantes Interview zu dem Roman kann man etwa im TUBUK-Blog lesen.

Jetzt ist im Hamburger Textem Verlag eine kurze Erzählung mit dem Titel „Detroit“ erschienen, die auf nicht einmal dreißig Seiten von einem gescheiterten Roadtrip erzählt, drei sehr unterschiedlichen Brüdern und brüchigen Familienstrukturen – wohl nicht zufällig vor dem Hintergrund einer zerfallenden Stadt wie Detroit, die hier zu einem schrägen Sehnsuchtsort verzerrt erscheint.

Eng bedruckt, unauffällig geheftet, könnte man diese Veröffentlichung leicht übersehen. Das sei tunlichst zu vermeiden.

Constantin Göttfert: Detroit. Erzählung. Textem Verlag, 2012, 28 Seiten, 3 €

Fledermäuse in Weißensee

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Als ich auf den Alexanderplatz trete, tönt mir der Imperial March entgegen. Ein einsamer Trompeter spielt gegen die Kälte an, vergeblich. Ich suche Schutz in der Straßenbahn.

Weißensee empfängt mich mit „Super Burger“ Schnellimbiss, Gardinenläden und ausgebranntem Autowrack auf der Verkehrsinsel. Schnell ins Warme: Der Rote Salon, ein kleiner, holzgetäfelter Raum, ist so etwas wie die gute Stube der Brotfabrik. Hier mache ich es mir gemütlich, um die erste Lesung in der Reihe „Literatur in Weißensee“ zu verfolgen. Alexander Graeff und Mikael Vogel tischen eine großzügige Auswahl Lyrik und Prosa auf, von der man sich gerne berieseln lassen möchte – aber so einfach machen es die beiden einem nicht.

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Mikael Vogels minutiöse Tiergedichte, die geschickt zwischen Pittoreske und Verstörung changieren, führen auf unsicheres Gelände: Mein Kater hat das Stockholmsyndrom. Alexander Graeff bietet Paroli mit dionysischen Betrachtungen, in denen er sich etwas versteigt, zur vollen Form läuft er erst mit einem Stück Kurzprosa auf, das, in verteilten Rollen gelesen, die Geschichte einer Dreiecksbeziehung mit Tierbeteiligung erzählt, in der die Idee von der menschlichen Projektion von Gefühlen zu Tieren etwas zu wörtlich genommen wird. Die Konter von Mikael Vogel spielt dagegen durch, was passiert, wenn die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen: Kafkas Verwandlung gegen den Strich gelesen entwickelt eine ganz neue Ebene des Grotesken; außerdem eine Anekdote aus dem Zoo von Tokio, in der Menschen bei einer Katastrophenübung in überdimensionierte Tierkostüme schlüpfen.

Ich stelle mir den Autor als Fledermaus vor, der den Roten Salon über das Fenster verlässt; nach der Lesung bin ich beruhigt, dass Alexander Graeff und Mikael Vogel doch ganz normale Menschen sind. Aber ist der Mensch nicht letztlich auch nur ein Tier?

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Fledermäuse aus Ernst Haeckels Kunstformen der Natur

Auf dem Rückweg studiere ich die Speisekarte von „Super Burger“ an der Ostseestraße und muss unweigerlich an die Zeitungsmeldung denken, in der von Pferdefleisch-Resten in der Hamburger-Produktion berichtet wurde. Ein guter Zeitpunkt, um Vegetarier zu werden.

Literatur in Weißensee findet jeden 3. Sonntag im Monat statt. The Daily Frown berichtet als Medienpartner über die Lesungen.

Blackout Orwell

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Die Lieblings-Dystopie im neuen Gewand: Penguin geht in der neuesten Ausgabe von 1984 einen Schritt weiter ins Ministry of Truth – und weckt Assoziationen zur Ausstreichungs-Lyrik.

George Orwells 1984 ist schon so etwas wie ein Prüfstein für Buchdesigner – ein historisches Beispiel gibt es in der Daily Frown flickr-Galerie, in jüngster Zeit hat sich Shepard Fairey an einer Neugestaltung versucht, Flavorwire gibt einen internationalen Überblick, bei dem vielleicht die farbenfrohe schwedische Variante am meisten verstört.

Penguin Books setzt jetzt in der neuesten Taschenbuchausgabe noch einmal einen drauf: Auf Basis des klassischen Penguin-Designs wurde die Zensur, Lieblingsbeschäftigung im Ministry of Truth, wörtlich genommen und sowohl Titel als auch Autorenname komplett geschwärzt. Nur beim genauen Hinsehen kann man die Schrift, die sich durch eine glänzende Lackierung vom Hintergrund abhebt, lesen.

Die Blackout-Edition nimmt so – bewusst oder unbewusst – Bezug auf die Arbeiten von Austin Kleon, der Gedichte mittels der Schwärzung von Zeitungsseiten schreibt, ein Prinzip, das auf ähnliche Weise auch in Deutschland angekommen ist: Der Berliner Lyriker Jan Skudlarek veröffentlich auf dem tumblr-Log Growing Pale seit Neuestem eigene Erasure Poems, mit erstaunlichen Ergebnissen:

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Eine Stufe komplexer ist das Projekt SONNE FROM ORT, ein experimenteller Gedichtband, der aus der Bearbeitung eines Insel-Bändchens von 1907 durch Christian Hawkey und Uljana Wolf entstanden ist: Die ursprünglichen Liebesgedichte von Elizabeth Barrett-Browning, ihrerseits übertragen ins Deutsche von Rainer Maria Rilke, werden durch Tipp-Ex neu modelliert. Statt einer fotografischen Reproduktion dieser Arbeitsweise hat sich der Verlag aber dazu entschieden, die Charakeristika der Streichungen noch einmal grafisch durch Andreas Töpfer übersetzen zu lassen – das sieht dann so aus:

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Robert Musil für alle!

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Ein neues Jahr – das bedeutet auch wieder mal das Auslaufen des Copyrights für alle die Autoren, deren 70. Todestag verstreicht.

Die Public Domain Review listet einige der interessanteren davon in ihrem Artikel „Class of 2013“ auf, darunter Stefan Zweig, Edith Stein, Bruno Schulz – und: Robert Musil! Ähnlich wie im Fall von Joseph Roth (The Daily Frown berichtete) lässt es sich folglich kein Verlag, der einigermaßen etwas auf sich zählt, nehmen, zumindest die jahrzehntelange schullektüreerprobten Verwirrungen des Zöglings Törleß in einer ganz eigenen Ausgabe herauszubringen und so vielleicht ein Stückchen von der Torte abzubekommen. Kubistisch Suhrkamp, schlöndorffesk dtv, bibliophil Manesse, bibliophob Reclam, wohlfeil der marix verlag.

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Ach ja: Auch für den Kindle kann man es sich aussuchen – wo die Unterschiede zwischen der Variante 0,99 € und 6,49 € liegen, war bis Redaktionsschluss nicht auszumachen.

Death Rattle Boogie in Mittelerde

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Neuseeland ist derzeit wieder auf der ganz großen Leinwand als Kulisse für Peter Jacksons Hobbit-Abenteuer. Aber auch in Mittelerde gibt es staubige Garagen und versiffte Proberäume.

Die Datsuns sind für diese Tatsache ein verlässlicher Garant. Heraufgespült im The-Band-Trubel der frühen 2000er Jahre, haben sie mal mehr, mal weniger erfolgreich, aber stets kontinuierlich weiter an ihren Alben herumgebastelt, zuletzt eher uninspiriert, aber jetzt mit Death Rattle Boogie doch wieder in ziemlich guter Verfassung. Das B-Movie-artige Musikvideo „Gold Halo“ kann man vernachlässigen, auch als Single-Auskopplung ist das Stück eine schlechte Wahl – viel eher überzeugt da die Live-Aufnahme „Gods Are Bored“, die geradewegs aus eine dieser staubigen Garagen irgendwo in Neuseeland kommt. Der etwas andere Neuseeland-Tipp zum Hobbit-Fieber:

[youtube:http://www.youtube.com/watch?v=o_DHCL2Q2d0%5D
 

The Datsuns: Death Rattle Boogie. Hellsquad Records, 2012, 50:31 Min., ca. 18 €