Karteikarte (1): Lotz, Wolfram

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Statt einer Thilo-Sarrazin-Karikatur entschied sich der Verfasser dafür, diesen Beitrag mit einem harmlosen Pony zu bebildern.

Dieser Artikel ist der Auftakt der neuen Reihe Karteikarte und soll die verstreuten Veröffentlichungen interdisziplinärer Künstlerinnen und Künstler sammeln, die sich einer einfach Kategorisierung typischerweise entziehen. Die erste Karteikarte beschäftigt sich mit dem Lyriker, Dramatiker, Erzähler und Hörspielautoren Wolfram Lotz.

Treuen BELLA-triste-Lesern ist sicherlich der „Monolog des gefangenen Negers“ in der aktuellen Ausgabe 35 hängengeblieben. Wer genau hingeschaut hat, dem wird nicht entgangen sein, dass auch in der zeitgleich erschienenen Edit Nr. 61 ein Lotz-Monolog abgedruckt ist, namentlich aus der Perspektive von Thilo Sarrazin. Bewegt man sich von hier aus rückwärts in der Zeit, gelangt man zu einer Rezension im Poetenladen, die sich der Einzelveröffentlichung Fusseln widmet, einer Liste, die in der Parasitenpresse erschienen ist. Theater macht Wolfram Lotz auch, da erzählte Nikola Richter kürzlich von einem amüsanten Kommentaraustausch aufgrund einer Verwechslung im Blog zum diesjährigen Theatertreffen:

Auch bin ich es ja als Jungautor gewöhnt, mit anderen, ebenfalls nichtssagenden Jungautoren verwechselt zu werden, die ihr Handwerk ebenfalls auf einer Schreibschule gelernt haben (zum Beispiel, wie man einen Stift hält, oder dass man einen Satz mit einem Großbuchstaben anfängt), allerdings dann eher textlich, nicht so sehr mein Äußeres betreffend.

Die Verwechslungsgefahr ist offenbar tatsächlich ein Problem, denn das Hörspiel über die „Seekuh Tiffany“, das ursprünglich in diesem Artikel Wolfram Lotz zugerechnet werden sollte, stammt in Wirklichkeit von Roman Ehrlich. Obwohl Wolfram Lotz auch Hörspiele schreibt, was sich aber aufgrund eines Ladefehlers auf der Webseite des SWR nicht hundertprozentig verifizieren lässt. Erreichbar ist dagegen dieser Klagegesang über die Zerstörung eines Hochhauses, der mit der schönen Zeile schließt: „Hier stellte die Frau einen Apparat an, aber dieser war kaputt.“

Von Golems und Gulaschkanonen

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Als ich dieses Mal den Caligariplatz zur Brotfabrik quere, fällt mir ein ungewöhnliches Gefährt am Straßenrand ins Auge: Eine Gulaschkanone auf eine Autoanhänger, daran befestigt eine Werbetafel mit Handynummer: zu vermieten! Vielleicht ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Sommer nun in Berlin angekommen ist: Wenn die Werbemaßnahmen der Gulaschkanonenvermieter beginnen.

Um Zeichen, Worte, Sprache soll es auch an diesem Abend bei „Literatur in Weißensee“ gehen: Alexander Graeff hat Caca Savic in den Roten Salon geladen, deren Gedichte er als „Gebäude, das nur Fenster, aber keine Türen hat“ beschreibt: Man kann hereinschauen, aber nicht eintreten.

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Ob dieser Vergleich standhält? Empfiehlt es sich überhaupt, über Texte zu sprechen, bevor das Publikum sie überhaupt kennt? Diese Fragen zerstreuen sich glücklicherweise schnell, denn es geht schon los. Was sofort auffällt und sich wie ein Widerhaken im Gehör festsetzt, ist der inhärente Widerspruch von Caca Savics Vortrag: Sie schreibt von Traumfluchten, bewegten Mündern, dem Ausbruch aus der Realität – aber sie liest diese Texte äußerlich ruhig, fast lakonisch, in einem berichtsartigen Ton, als handle es sich um Alltagserlebnisse. Diese äußere Spannung beginnt nun nach und nach mit einer inneren Spannung zu korrespondieren: Gespräche hängen an Fäden, etwas wird verschwiegen, Rausch wechselt sich mit Ernüchterung ab, etwas kommt in Bewegung, aber tritt gleichzeitig einen Schritt zurück: Vorwärts zum Rückzug. Wäre es nicht so ein schrecklich abgegriffenes Wort, könnte man von Seelenlandschaften sprechen, in denen Gebäude stehen (siehe oben!), die durch präzise Wortwahl und die Prägnanz des Vortrags wie mit dem Lineal genau abgemessen sind.

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Ein gehöriger Sprung in der Dramaturgie des Abends ist an dieser Stelle Alexander Graeffs erster Beitrag, der das Leitmotiv Sprache mit einem Auszug aus seiner Novelle Prag aufgreift, in der sich eine junge Frau zwischen sinnlichem Erleben und aufgeklärtem Verstehen durch eine voll und ganz literarisch ausgestaltete Stadt bewegt. Überraschend ist, trotz der geographischen Nähe, Graeffs Rückgriff auf den Mythos vom Golem, dem Anweisungen mittels in den Mund platzierter Notizzettel erteilt werden: Auch Adrina, von der die Novelle erzählt, sei eine Art Golem, in der zweiten Bedeutung des Wortes, nämlich die der kinderlosen Frau. Der uralte Zusammenhang zwischen Sprache und der Erschaffung von Leben erhält so, über den Mythos, noch einmal eine ganz andere Bedeutungsebende.

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Die Annäherung der beiden Autoren an diesem Abend setzt sich formell fort: Nach einem zweiten Gedichtblock von Caca Savic liest Alexander Graeff – eine Premiere! – vier eigene Gedichte; den Abschluss macht ein dialogischer Vortrag, bei dem die Grenzen zwischen Autor und Autorin gänzlich verschwimmen.

Die amüsanteste Äußerung über Sprache und Sprechen, die ich von diesem Abend mitnehme, ist wohl diese: „In meinem Mund gastiert ein Zirkus.“ Was wohl Lord Chandos dazu sagen würde?

Literatur in Weißensee findet jeden 3. Sonntag im Monat statt. The Daily Frown berichtet als Medienpartner über die Lesungen.

CW was here: Requiem for Carl

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„You don’t wanna be a bum, you better chew gum.“
(Bob Dylan, Subterranean Homesick Blues)

„Willste kein Penner sein, schieb dir nen Kaugummi rein.“
(Carl Weissner, Heimweh-Blues aus dem Keller)

Carl Weissner, the man, war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Dylan-Übersetzer, Bukowski-Kumpel, einziger voll und ganz Underground-Literat, den Deutschland je hatte. In den Sechzigern mit einem Fulbright-Stipendium aus Bonn straight nach San Francisco abgehauen, mit Ginsberg, Ferlinghetti und Burroughs abgehangen, zurückgekehrt und die ersten Underground-Magazines mit Jörg Fauser und Jürgen Ploog herausgegeben: Klactoveedsedsteen, UFO, Gasolin 23, allein der Klang dieser Titel, darin steckte die große weite Welt, tune in, drop out, free your mind. Bukowski von der Kneipe bis zum Friedhof nicht von der Pelle gerückt, übersetzt übersetzt übersetzt und nebenbei ein neues Slang-Deutsch erfunden, das die Welt noch nicht gesehen hat.

Menschenskind, wir kommen extra aus Heidelberg hier angerollt, weil wir Art Blakeley hören wollen in diesem Klub da, wie heißt er noch? Saint German da Brass, oder so. Und verdammt noch mal, mir schnallt das Plasma ab, und du läßt hier den Linkmichel raushängen! Glaubst du vielleicht, ich bin ein belgischer Tourist oder so was?

Dann selbst geschrieben: Manhattan Muffdiver, ein New-York-Alptraum von einem Roman, der die Schädeldecke sprengt, Die Abenteuer von Trashman, ein Nachtjournal aus dem vernebelten Jahr 1968. Death In Paris, auf englisch geschrieben, nur im Internet veröffentlicht. Dann, gerade war der Trashman beim Wiener Milena Verlag erschienen, da hatten sich zwei gefunden, true believers, die schreckliche Nachricht vom 24. Januar 2012: Carl Weissner ist tot.

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Wenn jemand ein Requiem wie den Band Eine andere Liga verdient hat, dann CW bei Milena („Well, I guess those guys at Hanser got to have their minds in their asses is all I can say“). Auf 374 Seiten haben seine letzten Verlegerinnen, nachdem der Schock überwunden war, noch einmal alles zusammengepackt, was man über diesen transatlantischen Teufelskerl wissen muss. Briefe. Cut-Ups. Skripte, Interviews, Zeitungsausschnitte, Faksimile-Abdrucke der Underground-Magazine, und wenn man das Buch wendet, der vollständige Romantext von Death In Paris, deutsch von Walter Hartmann. It’s the bomb.

Spanish Eddie, seit drei Tagen ohne Stoff, der kalte Rotz läuft ihm aus der Nase, und die Connection läßt sich nicht blicken… wir hängen ihn bei Shmuel in der Metzgerei an einen Haken, aber er will nicht singen… Sal holt eine Ampulle aus der Tasche und hält sie ihm vor die Nase: „Ich hätt nicht gedacht, Eddie, daß du mir noch mal einen Tropfen Nitroglyzerin wert bist.“

Eine andere Liga unterstreicht mit dickem Rotstift, was das für einer war, dieser Carl Weissner: Nämlich einer der wenigen Autoren, die, immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, drauf und dran sind, alle Konventionen über Bord zu werfen und mit wenigen Worten sämtliche Schranken im Kopf in die Luft fliegen zu lassen.

Als er 2011 auf der Leseinsel der jungen Verlage während der Leipziger Buchmesse aus Manhattan Muffdiver las, wirkte er wie ein Alien mit Schnapsodem und speckiger Lederjacke. Aber er war sowas von da. CW was here. And he left some good stuff behind for us.

Carl Weissner: Eine andere Liga. Milena Verlag, Wien, 374 Seiten, 24,90 €. Collage von Norman O. Mustill.

Vermutlich im März notiert

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Schmal, ja unscheinbar ist dieser Band mit neuen Gedichten von Elke Erb, den Urs Engeler in einem weiteren seiner roughbooks-Serie vorlegt.

Zum Anlass aus der Verleihung des Ernst-Jandl-Preises für Lyrik an Elke Erb versammelt Das Hündle kam weiter auf drein in chronologischer Folge Notate von 2005 bis 2012, das jüngste, eine „emphatisch ververste“ Neufassung eines Texts von 1965, datiert auf den 15.3.2013.

Wenn man Elke Erb einmal lesen gehört hat, kann man keines ihrer Gedichte mehr „einfach so“ lesen. Unweigerlich ist der Sprechrhythmus im Ohr, die Gedankenstriche, Doppel- und Auslassungspunkte werden zur Partitur für die innere Stimme. Und wieviel sie zu erzählen hat! Natürlich über den Alltag, das Fahrradfahren auf der Brunnenstraße, die Schlaflosigkeit, die Häuserreihen vor dem Fenster. Dann die Erinnerungen an das Spekulatiusbacken, die Eltern, die Kindheit. Und das Übersetzen: Mandelstam, immer wieder.

„Vermutlich im März notiert“ ist das kürzeste Gedicht betitelt, das vielleicht am besten die Spontanität und Offenheit (und Schönheit!) von Elke Erbs Lyrik auf den Punkt bringt:

Wenn der Hirsch aus dem Wald tritt – denk nicht, das ist nichts.
Oh, weißt du, das ist das Leben!

2012

Elke Erb: Das Hündle kam weiter auf drein. Roughbooks, Berlin, Wuischke und Solothurn, 62 Seiten, 7 €

Lumpen, Marx und wahre Polizisten

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Was alle Romane von Roberto Bolaño gemeinsam haben, ist das Punctum, frei nach Roland Barthes‘ Bemerkungen zur Photographie in Die helle Kammer, an dem sich die jedem Buch eigene Bizzarerie festmachen lässt.

In 2666 ist das unzweifelhaft der Karl-Marx-Traum aus dem zweiten Kapitel; im Lumpenroman das Gleichnis von den Anglern, die Fische mit ihren eigenen Jungen ködern. In Die Nöte des wahren Polizisten, das jetzt als letzter aus dem Nachlass rekonstruierter Bolaño-Roman in wieder einmal vorbildlicher Ausstattung im Hanser Verlag erschienen ist, ist es die Binnenerzählung des spanischen Rekruten im Zweiten Weltkrieg, der in russische Kriegsgefangenschaft gerät und verdächtigt wird, Mitglied der SS zu sein. Ein Missverständnis rettet ihn vor der Erschießung, aber erst nachdem er unter Folter fast seine Zunge verloren hat.

Manchmal tat er den Mund auf und erzählte mit viel Humor von seinen Schlachten. Andere Male tat er den Mund auf und zeigte allen, die es sehen wollten, die Zunge mit dem fehlenden Stück. Wenn man den Sevillaner darauf ansprach, erklärte er, das Stück Zunge sei mit der Zeit nachgewachsen.

Was man bei Romanen wie 2666 schnell vergisst, ist die Tatsache, dass Roberto Bolaño auch Gedichte geschrieben hat wie dieses, das man bei der New York Review of Books nachlesen kann. Eine Kurzrezension zum Frühwerk gibt es außerdem bei City Lights zu lesen, deren Blog sowieso eine große Empfehlung ist: der Friday Staff Pick zu Antwerp.

Zeitlos in Sibirien

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Ibissur: Unter den Neuerscheinungen dieses Frühjahrs war diese eine der ungewöhnlicheren. Beginnt scheinbar mitten in der Handlung, gibt sich keine Mühe, Personen, Gegebenheiten und Hintergründe ausführlich zu erklären – und ist dann nach 138 Seiten schon wieder vorbei. Handlungsangabe: von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Roman Widder, Texte von ihm konnte man in einer Ausgabe der Edit lesen, selbst lesen hören konnte man ihn auf der diesjährigen Buchmesse in Leipzig, verbrachte einen Teil seines Studiums in Sibirien, womit sich vielleicht die Selbstverständlichkeit erklärt, mit der sich der Erzähler in dieser so fern und fremd wirkenden Welt bewegt. Außerdem denkt dieser Erzähler sehr viel nach, weshalb dieser Roman wohl im für seine erstklassigen Theorie-Bücher bekannten diaphanes Verlag erschienen ist, und in diesem Nachdenken verlieren sich buchstäblich Zeit und Raum:

Meine Uhr funktionierte hier nicht, es war wohl zu heiß in der Sonne. Ich fragte Tschepucha, aber er hatte vergessen, seine eigene Uhr aufzuziehen.

So wie die Uhren scheint in Ibissur auch die Zeit stillzustehen. Diesen Zustand erzählerisch einzufangen mit einer Leichtigkeit, die auf ihre ganz eigene Art schon wieder bedrohlich wird, war bis jetzt die Spezialität von Autoren wie Richard Obermayr, Leif Randt und Alexander Schimmelbusch – mit Roman Widder dürfte einer dazugekommen sein.

Roman Widder: Ibissur. Erzählung. Diaphanes Verlag, Berlin, 138 Seiten, 14,95 €