…said Austerlitz

Die ständige Verfügbarkeit von Inhalten und deren kontinuierliche Weiterverbreitung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit lässt die Sensibilität für wirklich neue, unerhörte, besondere Artefakte, die das Internet bereithält, zusehends schwinden.

Hier ein Gegenmittel dazu: Die Lesung von W.G. Sebald vom 15. Oktober 2001 aus seinem Roman „Austerlitz“ in einen Kulturzentrum in der New Yorker Upper East Side, ziemlich genau zwei Monate vor seinem tragischen Unfalltod. Es ist, füttert man die YouTube-Suche mit den einschlägigen Suchbegriffen, die einzige via Internet dokumentierte Lesung Sebalds überhaupt – ein glücklicher Umstand, in dem digital unterstützte Aufzeichnungsmethoden der Jahrtausendwende und ein Sinn für die konservatorische Bedeutung der Übertragung dieser Aufzeichnung auf einen öffentlichen YouTube-Kanal zusammentreffen. Aufmerksam darauf machte Terry Pitts in seinem Blog Vertigo; aufgerufen wurde das Video inzwischen 647 mal.

Bemerkenswert ist Sebalds monotones, fast maschinenhaft-perfektes Englisch, das sich aber immer wieder als Zweitsprache zu erkennen gibt, sobald das aus dem Deutschen noch wie ein Fragment übriggebliebene hart gerollte „r“ zur Artikulation kommt. Der gleichsam trockene, emotionslose Vortrag macht aber die Spannung zum Inhalt des vorgetragenen Romanauszugs, in dem es um existenzielle Verluste und die Suche nach einer eigenen Identität geht, umso größer; um eine weitere Ebene erweitert sich dieses Spannungsmoment, wenn man sich bewusst macht, dass die Autoren auf der Bühne an diesem Abend (denn etwas später tritt noch Susan Sontag dazu) trotz der zeitlichen Entfernung von etwas mehr als zehn Jahren beide inzwischen aus dem Jenseits zu uns sprechen.

5 Kommentare zu „…said Austerlitz

  1. „Die ständige Verfügbarkeit von Inhalten und deren kontinuierliche Weiterverbreitung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit lässt die Sensibilität für wirklich neue, unerhörte, besondere Artefakte, die das Internet bereithält, zusehends schwinden.“

    — Steile These, so im Großen und Ganzen sowie im Speziellen. Warum dann die ganzen Retromania-Rufe? Leben wir überhaupt noch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit? Und was sind eigentlich „neue“ Artefakte?

    1. Vielleicht wird sorum ein Schuh draus: Indem man dieses Video dem großen Inhaltsstream entreißt, der über reddit, Facebook, Twitter, Tumblr ohne Unterlass strömt, und einfach mal kontextualisiert, wird man sich erst klar darüber, dass es ein einzigartiges Dokument ist. Call me Auratiker :-)

      1. Not sure if Benjamin would’ve liked (or ‚liked‘) it. Mir wird zumindest gerade kein Schuh draus, auch wenn ich schon verstehe, was du meinst. Aber da es den e i n e n (Main-)Stream ja nicht gibt, halt ich’s immer noch für zweifelhaft. Aber das ist jetzt vielleicht Haarspalterei meinerseits.

    1. Najanu, es hat ja eigentlich wenig mit dem Video an sich zu tun und ist zudem noch arg grundsatzdiskussionswürdig, da mach ich doch lieber den Bartleby (bitte aber um Verzeihung, das muss schließlich sein). Würde zumindest sagen: Die Retro-Kultur (oder meinetwegen mit Reynolds: -mania) stürzt sich doch gerade auf die Artefakte, die in den Archiv-Clouds vor sich hindümpeln, insofern halte ich die Sensibilität (da ich Reynolds schon, wenn auch nur bedingt, Recht geben würde) für absolut gegeben (wenngleich etwas pervertiert).

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