Pynchon-Tagebuch (2): Real ice cream

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Es geht weiter: Nach dem „helical and slow“-Auftakt des letzten Beitrags nun der zweite Teil des Lesetagebuchs zu Thomas Pynchons Bleeding Edge.

Lesefortschritt: 48%

Was sich im ersten Teil noch angenehm spinnert las, wird nun durch zahlreiche neue Figuren und Schauplätze ernsthaft kompliziert, was zwar bei Pynchon nicht gerade überrascht, aber zwischenzeitlich doch etwas zu Lasten der Aufmerksamkeit geht. Es treten auf: March Kelleher, eine ehemalige Nachbarin von Maxine, die einen Alumni-Vortrag an der Otto Kugelblitz School hält. Sie ist die Schwiegermutter von Gabriel Ice, dem Geschäftsführer der obskuren Firma hashslingrz, die immer noch im Fokus von Maxines Ermittlungen steht. Auf ihrem Weblog tabloidofthedamned.com prangert sie dessen Geschäftspraktiken an – was Maxine ihr erzählt, liefert ihr noch mehr Stoff zum Rundumschlag gegen den ungeliebten Schwiegersohn. Im Gegenzug gibt sie wiederum Maxine den Hinweis, dass sich Gabriel Ice ausgiebig mit dem Montauk-Projekt beschäftigt, einer geheimen Studie der US-Regierung über neuartige Technologien (und eine beliebte Verschwörungstheorie) und bittet sie, Grüße an Tochter Tallis zu übermitteln, die schon vor längerer Zeit den Kontakt abgebrochen hat. Tallis ist nicht nur die Ehefrau von Gabriel Ice, sondern auch Controllerin für hashslingerz und scheint über mehr Bescheid zu wissen, als sie von sich preisgibt. Rocky Slagiatt macht Maxine außerdem mit dem Geschäftsmann Igor Dashkov bekannt, der sie bittet, einige Transaktionen von Bernie Madoff zu überprüfen und sie mit russischer Eiscreme versorgt. Mehr ungeklärte Zahlungen tauchen auf, unter anderem an die Fiberglas-Firma Darklinear Solutions, eine Observation ergibt, dass Tallis Kelleher Ice dort offenbar private Interessen verfolgt. Auf einer koreanischen Karaokeparty berichtet der ehemalige Inhaber von hwgaawgh.com, Lester Traipse, noch einmal über die ungewöhnlich großen finanziellen Zuwendungen von Gabriel Ice an seine Firma; später stellt sich heraus, dass Lester für sich selbst eine Ader aus dem Geldstrom abgezweigt hat. Nun taucht auch die erste Leiche auf, Maxine macht eine Bootstour mit Maxine Kelleher und ihrem Mann Sid und bekommt eine Videokassette zugespielt, die sie veranlasst, nach Montauk zu fahren, wo Gabriel Ice ein großzügiges Ferienhaus mit gesichertem Kellerabteil unterhält, ganz in der Nähe des Radargeräts AN/FPS-35, das in direkter Verbindung mit dem Montauk-Projekt steht. Weitere Nebenfiguren sind der Geruchsexperte („professional nose“) Conkling Speedwell, der mit seinen Fähigkeiten bei der Aufklärung hilft, sowie der Webentwickler und Fußfetischist Eric Jeffrey Outfield.

Der chaotische, durch zahlreiche Abschweifungen immer schwerer zu verfolgende Handlungsfaden ist im zweiten Viertel von Bleeding Edge stark durch Maxine Tarnows rasante Ermittlungsarbeit gekennzeichnet, die sie mal mehr, mal weniger zielgerichtet zu Land und zu Wasser bis in die ländliche Umgebung New Yorks verschlägt. Über das Deep Web erfährt man vorerst weniger, es wird lediglich angedeutet, dass sich auf der Defcon-Messe für Hacker und Internet-Experten in Las Vegas ein großer Pool an Interessenten für die DeepArcher-Software gebildet hat.

Markierte Zitate:

Maxine Tarnow zu Gabriel Ice über March Kellehers Weblog tabloidofthedamned.com:

„She’s got you that worried? Come on, it’s only a Weblog, how many people even read it?“ (Link)

Während der koreanischen Karaoke-Party:

„Drowning out even the piped-in karaoke music, the row ostensibly has to do with tables versus CSS, a controversial issue of the time, which has always, given its level of passion, struck Maxine as somehow religious.“ (Link)

Igor Kashkov über die Unterschiede zwischen amerikanischer und russischer Eiscreme:

„‚No, no, it’s real ice cream,‘ Igor explains. ‚Russian ice cream. Not this Euromarket food-police shit.‘ ‚High butterfat content,‘ March translates. ‚Soviet-era nostalgia, basically.‘ ‚Fucking Nestlé,‘ Igor rooting through the freezer. ‚Fucking unsaturated vegetable oils. Hippie shit. Corrupting entire generation. I have arrangements, fly this in once a month on refrigerator plane to Kennedy. OK, so we got Ice-Fili here, Ramzai, also Inmarko, from Novosibirsk, very awesome morozhenoye, Metelitsa, Talosto … today, for you, on special, hazelnut, chocolate chips, vishnya, which is sour cherry …‘ (Link)

Maxine nach der Bootstour mit March und Sid:

„(…) she feels free—at least at the edge of possibilities, like whatever the Europeans who first sailed up the Passaic River must have felt, before the long parable of corporate sins and corruption that overtook it, before the dioxins and the highway debris and unmourned acts of waste.“ (Link)

Deutsche Pressestimmen:

Pynchon-Tagebuch (1): Helical and slow

index

An dieser Stelle erscheinen in voraussichtlich vier Beiträgen Notizen zu Thomas Pynchons achtem Roman Bleeding Edge, der am 17. September bei Penguin USA erschienen ist. Ergänzt werden die Notizen mit Zitaten aus der Kindle-Version.

Lesefortschritt: 25%

Frühjahr 2001. Nachdem Maxine Tarnow ihre Söhne Otis und Ziggy in die Schule („Otto Kugelblitz School“) gebracht hat, bekommt sie in ihrer Firma zur Untersuchung von Wirtschaftskriminalität („Tail ‚Em and Nail ‚Em“) den Auftrag von Dokumentarfilmer Reg Despard (den sie auf einer Schiffstour der American Borderline Personality Disorder Association, kurz AMBOPEDIA, kennengelernt hat), das Sicherheitsunternehmen hashslingerz zu überprüfen und beschäftigt sich in dieser Angelegenheit unter anderem mit dem Internet-Startup hwgaahwgh.com („Hey, We’ve Got Awesome And Hip Web Graphix, Here“). Über ihre Freundin Vyrva McElmo wird sie außerdem in die Software DeepArcher eingeführt, einer Art Einstieg in das Deep Web, geht mit dem Risikokapitalgeber Rockwell „Rocky“ Slagiatt italienisch essen (wo dieser eine Diskussion über die richtige Bezeichnung von pasta e fagioli vom Zaun bricht) und wird von dem mysteriösen Nicholas Windust kontaktiert, der eine Verstrickung von hashlingerz in zwielichtige Geschäfte im Mittleren Osten andeutet. Nebenbei berichtet Maxines Ex-Mann Horst Loeffler, dass er Büroräume in den oberen Etagen des World Trade Center angemietet hat.

Das Deep Web scheint als eine Art Leitmotiv eine große Rolle in Bleeding Edge zu spielen, wie zuletzt auch Evgeny Morov in der FAZ betonte („For Pynchon, the ‚Deep Web‘, in its early years at least, is what Baudelairean Paris was for Walter Benjamin: a nostalgic celebration of what once was, set against the painful realization of what it has become and the still lingering [but rapidly fading away] utopian vision of what it might still be.“). Allerdings scheint der Begriff des Deep Web als literarisches Motiv hier sehr stark überhöht – inwieweit sich das mit der Wirklichkeit deckt, wird noch zu klären sein.

Übrigens verweisen weder die Seiten hashslingrz.com noch hwgaahwgh.com auf die offizielle Verlagsseite – da hat Penguin eine clevere Marketing-Chance verpasst. Zumindest um hashslingrz.com haben sich aber schon die Thomas-Pynchon-Fans gekümmert.

Markierte Zitate:

Der Arbeitsplatz von Maxine Tarnow:

„(…) an old bank building, entered by way of a lobby whose ceiling is so high that back before smoking was outlawed sometimes you couldn’t even see it.“ (Link)

Reg Despard über investigativen Journalismus im Web 1.0:

„Cause see, if all you want’s an asset search, you don’t need a forensic person really, just go on the Internet, LexisNexis, HotBot, AltaVista, if you can keep a trade secret, don’t rule out the Yellow Pages—“ (Link)

Driscoll Padgett, Webdesignerin und ehemalige Freelancerin für hwgaahwgh.com:

„Don’t get me started, ‘window.open,’ most pernicious piece of Javascript ever written, pop-ups are the li’l goombas of Web design, need to be stomped back down to where they came from, boring duty but somebody’s got to.“ (Link)

Maxine zu Reg über die Redewendung moving to Seattle:

„Ah, Reg. Sorry. In the old soap operas, ‘transferred to Seattle’ was code for written out of the script. I used to think Amazon, Microsoft, and them were started up by fictional soap-opera rejects.“ (Link)

Über die Entwickler von DeepArcher:

„They’d heard this rumor that back east content was king, not just something to be stolen and developed into a movie script.“ (Link)

Und kurz vor dem Einschlafen (wie das wohl übersetzt werden wird?):

„Tonight’s descent into sleep is helical and slow.“ (Link)

Weltverzauberung vor Ort

kookwalks

Martha, Martha: Ob den Namen zu schreiben auch Unglück bringt? Aussprechen sollte man ihn jedenfalls nicht laut in dem kleinen Viertel zwischen Alt-Moabit und Lessingbrücke, wenn man Annika Scheffel und Friederike Kenneweg folgt.

Das Folgen kann in diesem Fall ganz wörtlich genommen werden: Im Rahmen eines neuen Literaturformats, das kookbooks-Verlegerin Daniela Seel auf der Litfutur-Tagung in Hildesheim bereits angedeutet hatte, waren von 17. August bis zum 7. September sechs Autoren mit vier unterschiedlichen Programmen in Berlin unterwegs. Eine dieser mobilen Lesungen, kurz kookwalks, führte eben nach Moabit – und zeigte einen zu Unrecht unterschätzten Stadtteil als geheimnisvoll-verwunschenes Gebiet.

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Allein das würde schon genügen, die kookwalks als Institution für das Berliner Stadtmarketing einzurichten. Aber darum soll es hier nicht gehen, würde es doch die künstlerische Darbietung von Annika Scheffel und Friederike Kenneweg schmälern, die sich alle Mühe gegeben haben, ihren poetischen Spaziergang multimedial auszugestalten. Und wirklich: Jeder, der sich jemals über eine allzu trockene Wasserglas-Lesung mokiert hat, konnte hier das genaue Gegenteil des verstaubten Klischees erleben. Ausgehend vom alten, geschlossenen Hansa-Theater, dem Geburtsort der mysteriösen Hauptfigur, um die es in der kommenden Stunde gehen sollte, führte der walk durch Hinterhöfe, treppauf, treppab die Spree entlang, vor einen alten Trödelladen und unter modrige Brücken. Die Lesepassagen von Annika Scheffel unterstützte Friederike Kenneweg mit einem Fotoalbum, das sie als Beweismaterial für die unerhörten Ereignisse herumreichte. An ausgewählten Stellen kam eine Boombox zum Einsatz, die Zeugenaussagen über das immer gespenstischer anmutende Wesen, um das die Erzählung kreiste, sammelte. Audiodateien, vorher per E-Mail verteilt und auf den MP3-Player geladen, formten den Soundtrack für die Wege von Leseort zu Leseort.

Im Zusammenspiel gelang so tatsächlich etwas, was eine der größten Leistungen von Kunst sein kann: Die Weltverzauberung – vor Ort. Jeder Pflasterstein, jedes dahingeworfene Stück Müll auf der Straße war auf einmal potentiell wichtig, Teil der Geschichte. Und Moabit für kurze Zeit um eine literarische Figur reicher: Martha, Martha.

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Ebenfalls an den kookwalks beteiligt waren die Autorinnen und Autoren Martina Hefter, Simone Kornappel, Peter Weber und Lale Yavas. Bilder und Neuigkeiten auf kookberlin.wordpress.com.