Über die Vorzüge von Lesungen

megaphon
Die Lesungsreihe „Literatur in Weißensee“ ist inzwischen bereits in die zehnte Runde gegangen – Zeit für einen kleinen Rückblick.

Die Lesung ist das ideale Format, um unbekannte Literatur zu entdecken: Man muss sich nicht durch Klappentexte quälen oder Geld für ein Buch ausgeben, das dann doch im Regal verstaubt, man lernt nicht nur ein Werk, sondern auch den Autoren kennen und ist – social reading! – nicht allein mit seinen Eindrücken, sondern kann sich direkt im Anschluss mit anderen darüber austauschen.

Das erklärte Ziel, den Berliner Stadtteil Weißensee kulturell mit einem breitgefassten Lesungsprogramm zu bereichern, hat Veranstalter Alexander Graeff in wechselnden Konstellationen verfolgt und so ein großes Angebot für Literaturinteressierte geschaffen: Zu Themen mit großen Assoziationspielraum wie „Tier“, „Zeit“, zuletzt „Religion“ und „Tradition“ lud er Autoren zum literarischen Dialog in den Roten Salon der Brotfabrik. Das Genre von reichte dabei von Kürzestgedichten bis zum 400-Seiten-Roman, multimedial angereichert oder gleich mit eigenständigem musikalischen Begleitprogramm.

Auch mehrsprachig ging es zu: Mit Dato Barbakadse war ein georgischer Autor zu Gast, Ricardo Domeneck brachte portugiesische Verse auf die Bühne, wohingegen Verleger Johannes Frank Erzählungen auf englisch vortrug und Tobias Roth sich nicht scheute, die Motti seiner Gedichte im lateinischen Original zu lesen.

literatur-in-weissensee

So ist mit der Zeit eine kleine Bibliothek der Gegenwartsliteratur entstanden, die auch Empfehlungscharakter für Nicht-Weißenseer hat:

Weiter geht es übrigens am 17. November mit Marlen Pelny, die als literarischer und musikalischer Gast auftreten und ihr neues, bei Voland & Quist erschienenes Buch Wir müssen nur noch die Tiere erschlagen mitbringen wird.

Pynchon-Tagebuch (4): Dick Tracy’s wrist radio

2pw4wlgl

Eine weitere Leiche, noch mehr verbrachte Zeit im Deep Web und ein lehrreicher Vortrag über das Internet – trotzdem geht Bleeding Edge, das helical and slow begann, der real ice cream huldigte und die New Yorker im dritten Viertel scared shitless zeigte, unbefriedigend zuende. Der vierte und letzte Teil des Thomas-Pynchon-Tagebuchs bei The Daily Frown.

Lesefortschritt: 100%

Zunächst einmal fällt der trotz weiterhin verschlungener Handlung chronologisch geordnete Ablauf der Kapitel ab Nummer 34 auf, die Pynchon an die großen Familienfeste Halloween, Thanksgiving und Weihnachten knüpft. Da scheint ihm wohl etwas die Puste ausgegangen zu sein – die große Kostümparty ähnelt Festszenen aus vorangegangenen Kapiteln, das Festtagstreiben in New York ist willkommener Anlass für noch mehr Aufzählungen von Markennamen, Elektronikherstellern und Popkultur-Artefakten. Soll hier nach drei Vierteln des Romans immer noch das Mosaik der Entropie weiterbestückt werden? Oder soll vielleicht fehlende Puste mit gegenwartsgesättigtem Faktenwissen kompensiert werden, das der Autor stolz seinen Lesern vorsetzt? So richtig kommt der Roman nicht mehr in Gang, trotz eines zweiten Mordopfers und der sich langsam enger ziehenden Masche um Software-Guru Gabriel Ice. Auch die DeepArcher-Software, in die sich Maxine zeitweise so sehr vertieft, dass sie nicht mehr zwischen Spiel und Realität unterscheiden kann, fördert keine spektakulären Wendungen mehr zutage. Am stärksten formulieren die letzten Kapitel von Bleeding Edge noch einmal eine grundsätzliche Internet-Kritik, die Pynchon Maxines Vater Ernie – eventuell sogar als einer Art alter-ego-Figur? – in den Mund legt: Der Traum von freier Kommunikation und der Vernetzung mittels des World Wide Web sei schon in seinem Grundgedanken vergiftet, als Erfindung des US-Militärs für einen Ernstfall im Kalten Krieg: „Call it freedom, it’s based on control. Everybody connected together, impossible anybody should get lost, ever again.“ Das ist, im Licht der Whistleblower-Affäre und der gewonnenen Erkenntnisse über die Tätigkeiten der NSA, eine hellsichtige Beobachtung – und eine der stärksten Passagen des gesamten Romans.

Auf eine Detektivgeschichte mit Auflösung und befriedigendem Schluss darf man dagegen bei Bleeding Edge nicht hoffen. Bemerkenswert bleibt die schillernde Hommage an New York kurz vor und nach 9/11 und ein mit 76 Jahren immer noch furioser Erzähler mit einem übergenauen Blick auf die unmittelbare Gegenwart. Etwas kürzer hätte Bleeding Edge allerdings schon sein dürfen – denn mit Ermüdungserscheinungen hatte nicht nur der Leser, sondern offenbar auch der Autor vor allem im letzten Viertel deutlich zu kämpfen.

Markierte Zitate:

„Around them, the City That Doesn’t Sleep is beginning to not sleep even more.“ (Link)

Ernie Tarnows desillusionierter Blick auf das Internet:

„Call it freedom, it’s based on control. Everybody connected together, impossible anybody should get lost, ever again. Take the next step, connect it to these cell phones, you’ve got a total Web of surveillance, inescapable. You remember the comics in the Daily News? Dick Tracy’s wrist radio? it’ll be everywhere, the rubes’ll all be begging to wear one, handcuffs of the future. Terrific. What they dream about at the Pentagon, worldwide martial law.“ (Link)

Pynchon-Tagebuch (3): Scared shitless

2pw4wlgk

Der unheilvolle 11. September nähert sich, und New York vibriert wie nie: Nach helical and slow und real ice cream der dritte Teil des Lesetagebuchs zu Thomas Pynchons Bleeding Edge.

Lesefortschritt: 75%

Noch mehr Cafés mit ausgefallenen Namen, verrückte Konzerte, ausufernde Partys: Je näher sich Bleeding Edge auf den 11. September zubewegt, desto höher scheint die Fieberkurve New Yorks zu steigen. Wir begegnen der Programmiererin Driscoll Padgett wieder, die auch Sängerin der Band Pringle Chip Equation ist, Maxines Freundin Heidi stürzt sich in eine kurze Affäre mit dem Geruchsexperten Conkling Speedwell, und neu auf den Spielplan treten Maxines Schwester Brooke und ihr Schwager Avi, die von einer geheimnisvollen Reise nach Israel zurückkehren. Mossad-Verbindungen? Jedenfalls hatte der undurchsichtige Detektiv Nicholas Windust sich auch schon nach Maxines Schwager erkundigt. Im Vordergrund stehen aber erst einmal seitenlange Familiendiskussionen und Geschwisterzwist. Zwischendurch kommt heraus, das Gabriel Ice, der Geschäftsführer von hashslingrz.com, Avi einen Job in seiner Firma angeboten hat. Neue Unterlagen, die ans Licht kommen, beleuchten die Geldwäschegeschäfte über hashslingrz.com, in die auch ein sogenannter Wahhabbi Transreligious Friendship (WTF) Fund verwickelt zu sein scheint. Eine beunruhigende Entdeckung, da diese Organisation als „terrorist paymaster“ gilt. Eine zweite Filmaufnahme – diesmal auf DVD – landet in Maxines Briefkasten; sie zeigt ein Raketengeschütz auf einem Hochhaus, das auf ein vorbeifliegendes Flugzeug zielt, aber im letzten Moment abgebaut wird. Maxine ist sich ziemlich sicher, dass die DVD von dem Dokumentarfilmer Reg Despard stammt, der sie ursprünglich auf hashslingrz.com aufmerksam machte, aber inzwischen abgetaucht ist. Einige Shopping-Touren, Familien-Reunions und Dotcom-Partys später dann die Nachricht: „Something bad is going on downtown.“

Bleeding Edge ist Familienroman, New-York-Roman und Verschwörungsthriller in einem. Das ist typisch Pynchon, und auch auf eine Art und Weise sehr sarkastisch: Maxine erhält eine alarmierende Filmaufnahme mit Raketenwerfern, die auf Flugzeuge zielen – und geht im nächsten Kapitel erst einmal shoppen. Die Gleichzeitigkeit von Terror, Alltag, Abendunterhaltung und Familienleben, die vielleicht auch erst seit dem 11. September zur Normalität geworden ist, wird hier in ihren Anfängen gezeigt. Aber was in den restlichen 25% noch passieren soll? Alles offen.

Markierte Zitate:

Über eine Party von hashslingerz-Gründer Gabriel Ice:

„Even though the dotcom bubble, once an eye-catching ellipsoid, now droops in vivid pink collapse over the trembling chin of the era, perhaps no more than a vestige of shallow breath left inside it, no expense tonight has been spared.“ (Link)

Der Tag nach dem 11. September und des im Fernsehen übertragenen Einsturzes der World-Trade-Center-Türme:

„A viewing population brought back to its default state, dumbstruck, undefended, scared shitless.“ (Link)

Deutsche Pressestimmen: