Schlafwandler kreuz und quer durch Europa: Wer wissen will, was Literatur jenseits von Familien- und Beziehungsdramen vermag, für den führt in diesem Frühjahr an Dorothee Elmigers neuem Roman Schlafgänger kein Weg vorbei.
Wobei – wie schon beim letzten Buch – wieder spätestens nach der zweiten Seite die lästige (weil eigentlich völlig unnötige) Frage auftauchen mag: Ist das überhaupt noch ein Roman? Antwort: Egal! Geht doch diese Prosa ohnehin ihrer ganz eigenen Wege, so kühn und experimentell montiert, noch ein ganzes Stück experimenteller als in Einladung an die Waghalsigen, ist dieser neue Text, der gleich fünf Hauptpersonen hat, die abwechselnd ihre Geschichten erzählen, bruckstückhaft, fragmentarisch, man kann sich nicht einmal sicher sein, ob diese Personen sich beim Sprechen im selben Raum befinden, also wer wem gerade genau erzählt, so oft kommt es zu Überschneidungen, Wiederholungen und unvermittelt wechselnden Perspektiven auf ein und dasselbe Geschehen.
Dieses Geschehen, das flüchtige, oszillierende Thema des Romans, lässt sich vielleicht am besten mit einem stetigen Kommen und Gehen umreißen: Es geht um afrikanische Flüchtlinge in einer Grenzstadt nahe Basel, die hinein wollen, dann aber wieder um die Bewegung fort, aus der Schweiz, diesem „nur scheinbar geschlossenen Ganzen“, an die Grenzen Europas, nach Portugal zum Beispiel. Ein guter Teil des Romans spielt aber auch in Los Angeles, der Stadt, die auf „tausend kleinen Erhebungen“ (eine kleine Reminiszenz an den glühenden Flöz in der Einladung an die Waghalsigen) erbaut wurde. Ähnlich auch zum Vorgängerroman – freilich aber viel genauer herausgearbeitet und formuliert – die Atmosphäre: In allem, was die Hauptfiguren, im Übrigen anscheinend ein willkürlich zusammengeworfener Haufen, ein „Logistiker“ ist darunter, eine Schriftstellerin, eine Übersetzerin, ein Musiker und eine Frau, die nur mit ihrem Namen A.L. Erika vorgestellt wird, in allem, was diese Figuren also berichten, schwingt eine bedrohliche, beunruhigend-ruhelose Stimmung mit: Gewalt, Unterdrückung oder schlicht, und das ganz ohne Witz, eine Angst vor dem bevorstehenden Weltuntergang.
Im Schlaf, sagte die Übersetzerin, sah ich einmal das ganze europäische Gebirge zusammenbrechen, wie von Sinnen lag ich da, aber still, hörte auch Geräusche in diesem Zusammenhang, die Gipfel zerbrachen vor meinen Augen, alles stürzte langsam ein und kam mir als Geröll entgegen, Gestein wurde durch die Luft geschleudert, ich sah, wie die Flanken in Bewegung gerieten, in Stücke zerfielen, alles kam auf mich zu. Später wachte ich auf, der Raum war leer, die Heizung auf höchster Stufe eingestellt. Unverändert lag die Landschaft vor den Fenstern, das ganze nächtliche Panorama, das aufgefaltete, das gestapelte Gestein.
Dass das immanent politische Literatur ist, die ohne Zeigefinger, vielmehr im Auffangen einer Stimmung viel über eine Zeit aussagt, der nahezu alle Sicherheiten abhanden gekommen sind, dass sie das aber auch in einer Sprache vermag, die vor Schönheit fast zerbirst, ohne je pathetisch oder gekünstelt zu wirken, das ist eine Kombination, die nur in absoluten Glücksfällen, wie dies zweifellos einer ist, gelingt.
Dorothee Elmiger: Schlafgänger. DuMont Verlag, 160 Seiten, 18 €
Dieser Artikel erscheint live von der Leipziger Buchmesse 2014. Dorothee Elmiger stellt ihren Roman Schlafgänger im Rahmen von „Leipzig liest“ an folgenden Terminen vor:
Donnerstag, 13. März, 21 Uhr: Lange Leipziger Lesenacht
Samstag, 15. März, 18 Uhr: «Auftritt Schweiz» (Schauspielhaus)
Sonntag, 16. März, 16 Uhr: Schweizer Forum (Glashalle)
Hat dies auf open mike – der blog rebloggt und kommentierte:
Fabian Thomas in The Daily Frown über Dorothee Elmigers neuen Roman.
Meine Güte, wie schön. Also deine Besprechung – den Roman kenne ich noch nicht. Aber das wird sich ändern, da bin ich mir ganz sicher. Merci, dass du mich drauf aufmerksam gemacht hast.