Reading Pynchon – Das Bleeding Edge Lesetagebuch

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Es ist schon eine Meldung wert, wenn heute, fast genau ein Jahr nach der englischen Ausgabe, im Rowohlt Verlag die deutsche Übersetzung von Thomas Pynchons neuem Roman Bleeding Edge erscheint.

In diesem Blog wurde das Erscheinen der Originalausgabe mit einem Lesetagebuch begleitet, das in vier Teilen nachgelesen werden kann:

Pynchon-Tagebuch (1): Helical and slow
Pynchon-Tagebuch (2): Real ice cream
Pynchon-Tagebuch (3): Scared shitless
Pynchon-Tagebuch (4): Dick Tracy’s wrist radio

Und hier noch eine Besonderheit: Sozusagen als kostenlose Dreingabe zur Feier der deutschen Übersetzung kann das gesamte Lesetagebuch ab sofort auch als kostenloses E-Book heruntergeladen werden.

Reading Pynchon – Das Bleeding Edge Lesetagebuch (EPUB, 16 KB, ca. 20 Seiten) / Kindle-Version

Wandmedien, Handmedien: Willkommen im Insektenstaat

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Ein Brief Kaiser Hadrians an die Pergamener (137 n. Chr.), Pergamon-Museum Berlin

Die Buchpreis-, Sexismus- und Literaturbetriebs-Debatten ließen die E-Book-Debatte zuletzt etwas in den Hintergrund geraten. Zu Unrecht! Gibt doch der Wallstein Verlag dem lodernden Feuer neuen Zunder, in Form eines Broschürleins, das sich namentlich der „Ästhetik des Buches“ widmet. Das ist ein wahrscheinlich zufällig, aber doch auf eine bezeichnende Weise direkt mit den Anstrengungen der Macher der Electric Book Fair und ihrer Ästhetik des E-Books korrespondierender Untertitel; freilich unter umgekehrten Vorzeichen, nimmt doch Autor Uwe Jochum gewissermaßen die Rolle Friedrich Forssmans ein und setzt fort, was dieser in einer wahren Litanei im Logbuch Suhrkamp gegenüber dem digitalen Lesen vorgebracht hatte: Seien doch die E-Books nichts weniger als ein Unfug, ein Beschiß und ein Niedergang. So urteilte der renommierte Typograf und Buchgestalter im Februar diesen Jahres nicht gerade zimperlich und machte damit den Anfang in einer recht lebhaft geführten Debatte, an der sich, neben einigen anderen, die Verleger Christiane Frohmann, Zoë Beck und Volker Oppmann beteiligten.

In der beim Wallstein Verlag erscheinenden Reihe zur Ästhetik des Buches hat Jochum nun etwa sechzig Seiten Raum, um seine Ansichten über den digitalen Wandel darzulegen. Diesen nimmt er sich zunächst für eine grundlegende Rekapitulation der menschlichen Kulturgeschichte seit 7500 v. Chr. Hut ab, möchte man fast zu dieser historischen Fleißarbeit sagen, wäre da nicht stets die Stoßrichtung zu spüren, die Jochum antreibt: Tausende Jahre von Kulturgeschichte, von den Höhlenmalereien (=Wandmedien) zum Buch (=Handmedien) stehen mit dem digitalen Wandel vor der Auslöschung. Durch den Hypertext droht jedem Inhalt das Plagiat durch den anonymen Schwarm. Geräte wie iPad und Kindle: Gehäuse unheimlicher „Technikparks“, in denen Wissen nicht mehr lokalisiert werde kann und ohnehin nicht ernstzunehmen, da in kürzester Zeit Elektroschrott. Das alles könnte man zu einem gewissen Grad getrost als technologiekritisches Mahnen eines etwas kauzigen, aber im Grunde harmlosen Bibliothekars abtun, wäre da nicht der zunehmend ätzende Tonfall, den Jochum auf den finalen Seiten seiner Broschüre anschlägt:

Dieser vor rund 5000 Jahren sich herausbildende handmediale Raum wird von den Digitalia zerstört, in deren Reich die Namen verfallen und das Eigentum kollektiviert wird. Damit bleibt buchstäblich kein Raum mehr für Personen, die nun ersetzt werden durch Schwärme und Herden, für die nicht mehr die Frage des Bewußtseins und der Reflexion von Interesse ist, sondern nur noch die des agitierten Bewegungsballets, das sich mit ausgefeilter Biotechnik nachbauen läßt. Am Ende aber, wenn der lebendige Mensch mit seinem Wissen digital nachgebaut wird, steht kein Reich der Freiheit, sondern der von Algorithmen gesteuerte insektenhafte Plan- und Überwachungsstaat.

Dass die von Konzernen gesteuerte digitale Wirklichkeit durchaus kritisiert werden darf, bezweifelt wohl kaum ein denkender Mensch – Autoren wie Dave Eggers und, ja, immer noch, Thomas Pynchon äußern diese sogar auf literarisch höchstem Nivau. Themen wie Schwarmintelligenz, Digitalisierung und Buchkultur zu einem Brei zu verrühren und dabei in die letzten Fächer der Metaphern-Mottenkiste (Stichwort „Insektenstaat“) zu greifen, dürfte dagegen wohl eher zu einer noch größeren Entfremdung und Lagerbildung zwischen Analog- und Digitalkultur führen. Womit niemandem geholfen wäre.

Uwe Jochum: Medienkörper. Wandmedien, Handmedien, Digitalia. Wallstein Verlag, 64 Seiten, 14,90 € (=Ästhetik des Buches, Band 5)

Disclaimer: Der Autor ist Teil des Organisationsteams der Electric Book Fair und Mitherausgeber der Publikation zur Ästhetik des E-Books.

Auf der Suche nach dem Dorsch

kabeljau-dorschWas macht eine gute Lesereihe aus? Ist es der Ort, die Auswahl der Lesenden, das Publikum? Und was macht Kabeljau & Dorsch zu so einer guten Lesereihe?

Vermutlich die Kombination aller drei Punkte. Aber schauen wir einmal genauer hin. Am vergangenen Freitag öffnete das Gelegenheiten, ein alternativer Veranstaltungsraum in Berlin-Neukölln, nach einer kleinen Sommerpause wieder seine Türen für die neueste, inzwischen zwölfte (oder dreizehnte, zählt man eine Sonderausgabe im Prosanova-Festivalbus mit) Ausgabe von Kabeljau & Dorsch. Geladen waren fünf Autoren, die Texte aus allen Sparten zwischen Lyrik, Prosa und dem dramatischen Schreiben mitgebracht hatten.

Erstes Indiz für eine gute Lesereihe: Pünktlich und ohne große Umstände anfangen. Nach einer kurzen Anmoderation und während sich die letzten Gäste noch in den Eingangsbereich zwängen, eröffnet also Armin Steigenberger, Jahrgang 1965, aus München angereist, den Abend und entkräftet damit direkt einmal das Argument, nur junge Szeneliteratur aus Berlin gebe sich hier die Klinke in die Hand. Lyrik, gleichermaßen aus Chat-Fenstern abgelauscht und sich nachdenklichen Naturbildern hingebend: „Wir wachsen immer weiter zu/bis wir mit Grün überwuchert sind.“ Zweites Indiz: Fliegende Wechsel. Ehe man sich’s versieht, sitzt schon Anne-Kathrin Heier, u.a. diesjährige Klagenfurt-Kandidatin, am Leseplatz und liefert einen introvertierten Großstadttext ab, der laut eigenen Angaben noch am selben Tag geschrieben wurde – ein Hoch auf die Produktivität der jungen Literatur! Drittes Indiz: Immer auf die Mischung achten. Nach Lyrik und Prosa ist nämlich nun Österreicherin Gerhild Steinbuch an der Reihe, die einen atemlosen Theater-Monolog mitgebracht hat, der Bilder von Sterblichkeit und Liebe auftürmt, die, mal in Gebetston, mal wütend, schleichend eine immer packendere Wucht entfalten. Pause, Bier/Wein (die nicht zu gering zu gewichtenden Soft-Faktoren einer gelungenen Lesung), weiter mit Prosa, diesmal postmodern: Michael Wolf, Polizistensohn, lässt Medienwissenschaftler und Ornithologen hintereinander herjagen, dass es eine wahre Freude ist – darunter ein gewisser Polizistensohn namens Michael Wolf, der einen Laptop auf- und zuklappt. Viertes und letztes Indiz: Die Überraschung für das Ende aufheben, stehen doch mit der für den Schluss angekündigten Elsa Jach auf einmal vier weitere Personen am Mikrofon, die das Gelegenheiten für einen kurzen Moment in den wohl kleinsten Theatersaal Neuköllns verwandeln.

Gute Lesereihe: So geht es richtig! Wer die genannten Faktoren auf eigene Faust überprüfen möchte, ist eingeladen, sich selbst ein Bild zu machen. Jeden letzten Freitag im Monat, Weserstraße Ecke Elbestraße, Eintritt frei. Mitschnitte und Bilder unter www.kabeljau-und-dorsch.de.

Plakat: © Anky Brandt