Hallo, weißes Blatt

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Alan Mills ist ein guatemaltekischer Schriftsteller, der nach eigener Aussage das Gedichteschreiben eingestellt hat, nachdem er Twitter entdeckte.

Bei mikrotext sind jetzt, als seine erste deutsche Veröffentlichung überhaupt, gesammelte Tweets von Alan Mills unter dem Titel Die Subkultur der Träume erschienen – ein minimalistisches Mammutwerk von über 700 Seiten. Alan Mills‘ Tweets sind komisch, seltsam und von einer geheimnisvollen Schönheit. Zum Jahreswechsel hier eine Auswahl.

Ich möchte auf eine Party gehen, wo mich niemand kennt. Etwas Spaß haben. Gehen, ohne dass jemand weiß, ob er mich gesehen oder nur geträumt hat.

Vielleicht wollte Kafka nur „La Cucaracha“ tanzen.

Wir sind alle das Monster unter dem Bett von jemand anderem.

Hallo weißes Blatt, ich glaube, ich habe hier etwas für dich.

Es reicht aus, einen Leser zu haben. Erfinde ihn.

Meine Schiffe verbrennen nicht, weil sie aus Feuer sind.

Die weiße Seite ist rassistisch.

Ein Gedicht muss so künstlich wirken wie eine Rose aus Kristall. Aber es muss sich so lebendig anfühlen wie ein warmes Schweineherz.

Wenn ihr genau darauf achtet, seid ihr gerade inmitten des Buches.

Träumen die Schafe von elektrischen Schriftstellern?

Seien wir Hyperrealisten, versuchen wir das Unsichtbare.

Mein Plan B ist genauso wie Plan A, bloß mit gerösteten Maiskolben.

Dies sind meine Hirngespinste. Wenn sie euch nicht gefallen, habe ich andere.

Die weiße Seite ist ein Entwurf für eine Wolke.

Träumen die Haushaltsgeräte von Schriftstellern, die bügeln können?

Könnten alle, die nicht Borges sind, bitte mal die Hand heben?

Das Leben ist das, was passiert, während man nicht den Ulysses liest.

Jeder Tweet ist autobiografisch für den Leser.

Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an den Berg.

Als ich einen Zirkus gründete, rasierte sich die Frau mit Bart.

Ich habe ein Leben wie im Film, aber es ist eine Raubkopie.

Ich habe die Negative meines Gehirns entwickelt: Es ist eine weiße Seite geworden.

Was die Wolke dichtet

cloudpoesie

„Es wird wehtun“; „es wird nicht ganz zu kontrollieren sein“: Eingangs Warnungen, wie sich selbst zugesprochen, wussten doch weder Andreas Bülhoff, Martina Hefter, Georg Leß, Katharina Schultens noch Charlotte Warsen so ganz genau, worauf sie sich mit diesem Projekt einließen.

Das Ergebnis mehrerer Workshops, auf dem sich Coding, Poesie und Proben für eine Performance miteinander verschränkten, konnte am 22. November im Berliner Theaterdiscounter begutachtet werden: Dichter unter Hypnose, unter einem Moskitonetz aneinandergekuschelt, dazwischen großflächig Projektionen mit Tanzszenen und Rabenflug und wie zufällig herumliegende Auberginen.

Nun steht – unter Einbeziehung der Performance im Theaterdiscounter und Beteiligung des anwesenden Publikums (so konnten etwa Audiosamples live vor Ort eingesprochen und Chats geführt werden) eine erste Version von Cloudpoesie – Dichtung für die vernetzte Gesellschaft als hybrides E-Book bereit, das gemeinsam vom KOOK-Verein und dem Digitalverlag mikrotext herausgegeben wird.

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Animation: Andreas Töpfer

Und das ist eine echte Augen- und Ohrenweide. Wunderbar verspielte Kurzgedichte („protagon, verzeih“), repetitive experimentelle Textmassen wechseln sich ab mit gewitzten GIF-Animationen aus der digitalen Feder Andreas Töpfers; im Zentrum des Ganzen ein Musical mit Ungeheuern, in dem Gartenroboter Gesänge zu der Frage anstimmen, „warum das Ungeheuer sie schlägt“ – ein derart lustvoller kreativer Overkill kann einem schon einmal die Sprache rauben. Und das klingt dann so: „Wentkräff deren und warkellenener Loger und rene Pass oden A.M., nobote nichteräte anch satundere nach zu inforgume Gras weln sch zu hen S. Menachen von bren Icht den 9 unges kom”)“. Wer will, kann mit Audiosamples das Medium wechseln oder sich durch behutsam gesetzte Hyperlinks gleich wieder in das große Referenzsystem des Internets katapultieren lassen, wo etwa Diagramme zur Theorie des Uncanny Valley lauern. Die Textsorten changieren währenddessen fröhlich vom Kinderreim zur Spielanleitung mit Safeword und mittelalterlichen Rezeptanweisungen, die auf Plinius verweisen; eine Form, ein äußeres Raster scheint immer wieder durch (etwa begonnene Aufzählungen), um aber gleich darauf wieder lustvoll verworfen zu werden.

Ein hemmungsloser, anarchischer Spaß ist hier gelungen, der das Zeug hat, das Feld der Gegenwartslyrik um eine ganze Wagenladung neuer Impulse zu bereichern. Übrigens: Das E-Book war in seiner ersten Version, soviel Geheimniskrämerei muss sein, nur am Abend der Performance erhältlich. Eine bearbeitete Version soll aber in Kürze auf einschlägigem Wege erhältlich sein.