Wohlfühlpessimismus war gestern

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Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur wäre ohne Andreas Stichmann ein ganzes Stück farbloser. Sein neuer, wilder Roman Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk beweist das aufs Neue.

Die Handlung ist schnell erzählt – Unternehmensspross wird zum Aussteiger und beschließt, seine eigene Entführung vorzutäuschen, um von seiner Familie vier Millionen Euro zu erben, die er einem guten Zweck zuführen will –, lebt dieser Roman doch vielmehr von seinem schillernden Personal. Ort des Geschehens ist ein Bauernhof in Hamburg-Ossendorf, der seine besten Tage schon hinter sich hat: Von den Hippie-Gründern ist nur noch Ingrid übrig geblieben, inzwischen depressiv geworden, und ihr Sohn Ramalafene, der den Laden am Laufen hält, also sich um die mit der Zeit auf dem Hof gestrandeten Bewohner kümmert, allesamt Outcasts, Freaks, die in verschiedenen Ausprägungen ganz in ihrer eigenen Welt leben: Der naive Küwi, der seine Tage am liebsten auf dem Rasenmäher verbringt, auch wenn es gar nichts mehr zu mähen gibt, Ludwig, der Windeln trägt, nicht sprechen kann und sich über Zungenschnalzen verständlich macht, die alte Zwergin Wendy, die nur in Reimen spricht. Zwei Personen bringen diese schräge, sehr liebevoll ausgestaltete Welt ins Wanken: Bibi, die als jugendliche Strafträterin Sozialstunden auf dem Hof ableisten muss, aber durch ihre positive, aufgeschlossene Art besonders von Ramalafene ins Herz geschlossen wird – und David, dem oben erwähnten Unternehmenserben, der nach Erfahrungen als Klinik-Clown in Südafrika sein Leben radikal ändern will und auf dem Hof dafür seine ideale Wirkungsstätte sieht.

Was Andreas Stichmanns Roman besonders auszeichnet, ist, neben der nahezu ins Fantastische übergleitenden Figurengestaltung, die schon ein Markenzeichen in seinem Erzählband Jackie in Silber und dem Roman Das große Leuchten war, die Thematisierung eines trotz der lockeren Lesart, die dieses Buch mit sich bringt, sehr ernsthaften Anliegens: Wie können wir die Zukunft gestalten, sodass es anderen besser geht? Der in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stark vorherrschende dystopische Einschlag wird hier in sein Gegenteil verkehrt: Die titelgebende Sydney-Seapunk-Bewegung versteht sich als ein genuin neuartiges utopisches Projekt, das gegen die Verbitterung der 68er-Generation den Spaß an der Neuerfindung der Gesellschaft betont. Stichmann scheut sich nicht davor, seiner Hauptfigur David Parolen in den Mund zu legen, die im ersten Moment naiv oder lachhaft klingen, tut aber gut daran. Ebenso wie die kindlichen, vom Autor selbst gestalteten Microsoft-Paint-Collagen im Anhang des Romans („Wohlfühlpessimismus war gestern – Happy Seapunks fordern Umverteilung ein“) legen sie diesem auf der Oberfläche sehr leichtfüßigen Roman einen tiefen Wunsch nach wirklicher Weltverbesserung zu Grunde.

Andreas Stichmann: Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk. Rowohlt Verlag, 240 Seiten, 19,95 €. Die Bände Jackie in Silber und Das große Leuchten sind jetzt beide auch bei Rowohlt im Taschenbuch lieferbar.