Dunkle Zahlen – Das Lesetagebuch (2/4)

Weiter im Text: Heute geht es unter anderem in die DDR und nach Kuba, und ein Mathematiker wird zum Dichter.

Der Ausflug in die Biografie des fiktiven Dichter-Programmierers Gavriil Efimović Teterewkin im Kapitel „Nachwort“ wird gefolgt von einer kurzen Ergänzung („Paradigmenwechsel“), die von einem Zusammentreffen des „vermeintlichen Großneffens“ Teterewkins, Rodion Woronin, mit Lenin und Maxim Gorki auf der Ferieninsel Capri berichtet. Er kündigt an, das unvollendete Werk seines Großonkels, die Erfassung der Welt in einem gigantischen Poem durch automatisierte Schreibverfahren, zu einem glorreichen Abschluss zu bringen. Seinen Zuhörern ist es aber eher an einer Partie Schach gelegen – und außerdem sei Teterewkin doch ästhetisch vornehmlich ein Produkt der Herrschaftssysteme des 19. Jahrhunderts, die der Sozialismus zu überbieten suche.

Zurück ins Jahr 1985: Mireya Fuentes gelingt es nach einer wilden Taxifahrt tatsächlich, den Fahrer zu finden, der das kubanische Spartakiaden-Team in die Quarantänestation des Chowrinskaja-Krankenhauses im Leningrader Rajon gebracht hat. Das Krankenhaus stellt sich heraus als ein gespenstischer Ort: Zu großen Teilen noch Baustelle, aber von Arbeitern keine Spur. In einem etwas versteckt liegenden Flachbau trifft Mireya dann aber endlich ihr Team, allesamt wohlauf, von schwerer Krankheit keine Spur, doch auch behandelnde Ärzte sind für keine weitere Auskunft zu erreichen. Um die Chance zu nutzen, zumindest noch beim internen Trainerwettbewerb der Spartakiade einen Erfolg zu verbuchen, bekommt Mireya nun von Teamtrainer Eduardo den Auftrag, seinen Koffer ausfindig zu machen. Die dort verwahrten Bänder mit dem Programmiercode müsse sie nur in seinem Namen zur Startzeit in einen Computer einlegen und den Startbefehl geben, um das Programm zu starten.

Damit kehrt Mireya zum Austragungsort zurück – und nun kommt es zur ersten Verknüpfung der Erzählstränge: der sowjetische Trainer, den Mireya kurze Zeit später während einer Versammlung im Untergeschoss des Hotels „Kosmos“, wo die Programmier-Spartakiade stattfindet, zusammen mit den anderen kennen lernt, ist niemand anders als Leonid Ptuschkow, der im bisherigen Romanverlauf erst als junger Mann auftrat! Auf diesen richtet sich nun auch wieder die Aufmerksamkeit: In seiner Zeit im Krankenhaus hat er die schöne Nadeschda kennen gelernt, mit der er bald nach seiner Entlassung nach Moskau zurückkehrt. Er versucht, sein Studium der Angewandten Mathematik wieder aufzunehmen, doch das fällt ihm sichtlich schwer. Konzentrationsschwierigkeiten und Kopfweh machen ihm zu schaffen, er wirkt abgelenkt, und beginnt stattdessen aus einem plötzlich aufkommenden inneren Impuls heraus, Gedichte zu schreiben: „Statt Binären und Programmierbefehlen spukten ihm rhythmisierte Wortgruppen durch den Kopf“. Mit der Zeit kehrt die Konzentration zurück, doch Leonid macht sich Gedanken: War er nicht in einer ähnlichen Stimmung, damals, als er Sergei Alexejewitsch sein Notizheft mit mathematischen Versuchen präsentierte? Auf der Suche nach Antworten kehrt er in seinen Heimatort Feofania zurück, hat dort eine Epiphanie und macht sich an die Abfassung eines Traktakts über die „Automatisierte Ermittlung der Leistungsfähigkeit Künstlicher Intelligenzen“. Er wird eingeladen, die neue Forschungseinheit OMEM zu unterstützen, wo er zum zum ersten Mal in Kontakt mit der ominösen Rechenmaschine GLM und einer großen Menge Lochkarten kommt.

Hier schwenkt die Erzählung zu einem Betriebsausflug einer Gruppe DDR-Geheimdienstler auf die Insel Warenz in den frühen sechziger Jahren. Kleinwerth, der spätere Trainer der DDR-Auswahl bei der Internationalen Programmier-Spartakiade, ist mit von der Partie, außerdem Achim Zwierer, der einen Geheimauftrag erhält, der mit der Beschaffung einer Rechenmaschine zu tun hat.

Neuer Handlungsort Kuba, im August 1961: Juri Gagarin, der erste Mann im All, besucht mit einer Entourage die Hauptstadt Havanna, darunter ein gewisser Oberst Bolaño; außerdem Personenschützer Sergei Bogosian, der es bald mit der etwas zudringlichen Plakatmalerin Aldonza Fuentes zu tun bekommt und mit ihr eine Nacht verbringt. Könnte sich hier ein Rätsel in Mireya Fuentes‘ Familiengeschichte lüften? Dmitri Sowakow indes, der schon länger nicht mehr auftrat, kehrt, im Jahr 1962, als Inspekteur der sogenannten „Meschpoweff“ zurück in die Handlung.

Es wird kompliziert: Während sich nach und nach die Bezüge der verschiedenen Handlungsebenen herausschälen, bereitet es beim Lesen mitunter Schwierigkeiten, den rasanten Zeitsprüngen zu folgen. Mit großer Hingabe ist beispielsweise die Geschichte von Leonid Ptuschkow erzählt (hier wurden beim Handlungdsprotokoll bewusst einige Auslassungen gemacht) – muss dann wirklich der in DDR-Strang hineingrätschen? Die Antwort darauf, was es nun wirklich mit der Quarantäne der kubanischen Programmierer auf sich hat, scheint sich der Erzähler absichtlich für später aufzuheben: Hier kommt es schon zu leichten Frustrationserscheinungen.

Fortsetzung folgt! Der dritte Teil des Dunkle Zahlen Lesetagebuchs erscheint am 1. März 2018. Neuigkeiten auch auf Twitter und bei Facebook.

Dunkle Zahlen – Das Lesetagebuch (1/4)

Eine „wilde und manchmal fantastische Erzählung“, ein „schillerndes Mosaik“, ein Roman „so unberechenbar wie die Geschichte selbst“: So wurde Matthias Senkels neuer Roman Dunkle Zahlen in der Frühjahrsvorschau des Verlags Matthes & Seitz Berlin beworben. In Leipzig war man angetan: „Eine anarchische Hommage an den Unernst“ befand die Jury und setzte das Buch auf Nominierungsliste für den Preis der Buchmesse. Für Lothar Müller war in der Süddeutschen Zeitung der Fall klar: Dunkle Zahlen sei nichts weniger als „eines der witzigsten, übermütigsten Experimente in der Gegenwartsliteratur“.

Grund genug, genauer hinzuschauen. Und da Dunkle Zahlen mit etwas unter 500 Seiten ein durchaus ausladender Roman ist, soll dies in den kommenden Wochen in der Form eines Lesetagebuchs geschehen, einer Form, die schon einmal Anwendung fand bei Thomas Pynchons komplexem Cyberspace-Roman Bleeding Edge. Angelegt ist das Lesetagebuch auf vier Teile, der erste Teil behandelt die Seiten 1-113.

Zack, Zack, gebe ich ihre Zahlen ein und tippe, zack, zack noch ein paar dazu, dann läuft die GLM heißer – so viel verstehe ich immerhin von den wundersamen Werken unserer Altvorderen.

Weißer Umschlag, schwarzer Titel, keine Autorenangabe: Kryptisch, „wie ein Rebus“ (Lothar Müller) präsentiert sich die äußere Aufmachung von Dunkle Zahlen. Allein die Rückseite verzeichnet Autor und Verlag, liefert einen kurzen Klappentext sowie einen Blurb von Olga Martynova: „Eine Parabel, die auch vor der Zukunft warnt“. Parabel? Schon ein erster Wink zur möglichen Rezeption? Aber erst einmal das Buch aufgeschlagen – und da folgt auch schon die zweite Irritation: Unvermittelt beginnt ein Textabsatz, in dem ein gewisser Motja von zwei Annuschkas darum gebeten wird, Teewasser für eine größere Gesellschaft aufzusetzen – was er auch prompt tut, indem er in eine nicht genauer definierte Maschine mit dem Namen GLM zwei Zahlen eingibt, worauf diese heißzulaufen beginnt. Die nächste Seite zeigt einen schwarzen Bildschirm mit ein paar Zeilen russischem Programmcode und der Erklärung, dass es sich hier um den Startbildschirm der Literaturmaschine GLM-3 handelt, die quasi auf Knopfdruck „das unvollendete Poem Dunkle Zahlen“ ausspuckt. Und wirklich: Jetzt erst folgen Titelseite, Verlagsangabe sowie der Vermerk „Deutsch von Matthias Senkel“, weiters ein Inhaltsverzeichnis in der Anmutung eines Schaltkreises, und das erste Kapitel „MSMP#01“, das in Moskau am 27. Mai 1985 einsetzt.

Die metafiktionalen Zeichen sind gesetzt: Wir sollen es hier also mit einem computergenerierten Roman in russischer Sprache zu tun haben, der von Matthias Senkel lediglich ins Deutsche übertragen wurde. Eine ziemliche Volte zur Eröffnung! Dafür ist man im ersten Kapitel gleich mitten im Geschehen: Es sind sieben Stunden bis zur Eröffnung der zweiten Internationalen Spartakiade der jungen Programmierer in Moskau, und der Vorsitzende Dmitri Sowakow muss sich mit der unangenehmen Geheimdienstlerin Jewhenija Swetljatschenko herumschlagen, die eine nicht so ganz saubere Abhöraktion zu planen scheint. Ein kurzes Stimmungsbild – dann ist das Kapitel schon wieder zu Ende und wir springen ins Leningrad des Jahres 1948. Hier treffen wir auf den jungen Leonid Ptuschkow, einen wissbegierigen Schüler, der in seinem Notizheft mathematische Operationen improvisiert. Diese lassen Sergei Alexejewitsch Lebedew, Leiter eines örtlichen Labors, aufhorchen und alle Hebel in Bewegung setzen: Dieser Junge braucht einen Studienplatz in Moskau! Zurück im Jahr 1985 muss Mireya Fuentes, die Dolmetscherin des kubanischen Teams der Programmierer-Spartakiade feststellen, dass die Kader-Auswahl zwar in Moskau gelandet, aber aus unbekannten Gründen mit sofortiger Wirkung unter Quarantäne gestellt wurde. Da aufgrund der Zeitverschiebung niemand in Kuba zu erreichen ist und die Zeit drängt, beginnt sie, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Eingeschoben wird nun ein erneuter Rückblick in die Jugend der Geheimdienst-Majorin Jewhenija Swetljatschenko, die sich in einer vorerst nicht näher bezeichneten „nordrussischen Industriesiedlung“ ihre Sporen verdient, nachdem sie schon in ihrer Kindheit ausgeprägten detektivischen Spürsinn bei der Klärung von Nachbarschaftsstreitigkeiten an den Tag gelegt hat. Von Dmitri Sowakow erfahren wir ebenfalls mehr: Dieser arbeitet, bevor er Vorsitzender der Programmier-Spartakiade wurde, an experimentellen Stadtentwicklungsmodellen, die der herrschenden Parteilinie aber zu progressiv erscheinen. In der Konsequenz sieht sich auch Dmitri in die Provinz verschlagen, namentlich einem Arbeitslager, in dem im Akkord Rechenoperationen „für Forschung, Produktion und Verwaltung“ des Landes durchgeführt werden. Dmitris Aufgabe ist es, diese Prozesse zu optimieren und das Lager auf eine bevorstehende Automatisierung der Rechenleistung vorzubereiten. Nach einem enzyklopädieartigen Einschub über den Begriff der „dunklen Zahlen“ und ihre Bedeutungen richtet sich der Fokus wieder auf Leonid Ptuschkow, der mittlerweile am Institut für Angewandte Mathematik in Moskau studiert, wo er sämtliche Komilitoninnen und Komilitonen mit seinem Können überflügelt. Aus dem bequemen Studentenleben reißt ihn jäh ein Einberufungsbescheid – er muss fortan seine mathematische Begabung der Armee zur Verfügung stellen. Kurz bevor er sich zum unfreiwilligen Dauereinsatz verpflichtet sieht, wird er jedoch durch einen Unfall, der ihn für einige Zeit ans Krankenbett fesselt, aus dem Spiel genommen.

Die Hauptfiguren scheinen gesetzt: So ist zumindest zu hoffen, denn schon jetzt fällt es schwer, den Überblick über die verschiedenen Handlungsebenen zu behalten, die Matthias Senkel einführt. Ob und wie diese zusammengeführt werden, ist zu diesem Punkt völlig offen. Die Sowjetunion der fünfziger und achtziger Jahre schildert Senkel mit einem Auge fürs Detail, das intensive Recherche vermuten lässt. Voraussetzungsreich ist sein Schreiben allerdings auch – Begriffe wie „Komsomol“ oder Anspielungen auf das zeithistorische Alltagsgeschehen werden nicht näher erklärt oder kommentiert. Hinzu kommt, dass man Matthias Senkel als Erzähler auch nicht trauen kann: Unversehens montiert er nach Leonid Ptuschkows Studentenjahren nämlich nun das Kapitel „Nachwort“ ein, mitnichten ein Nachwort des Romans, sondern der Schluss einer Biografie über die auf genialische Weise ausgedachte Dichterfigur Gavriil Efimovič Teterevkin (1812-1841), dessen unollendetes Hauptwerk eine Art früher Quellcode für einen Proto-Computer ist, ein „eiserner Golem“, der, so der Plan des Dichters, auf Knopfdruck die gesamte Welt erzählen soll…

Fortsetzung folgt! Der zweite Teil des Dunkle Zahlen Lesetagebuchs erscheint am 22. Februar 2018. Neuigkeiten auch auf Twitter und bei Facebook.