
Die nun folgenden Kapitel verweisen noch einmal deutlich auf die dem Roman zugrundeliegende Funktion, nämlich dass er selbst Produkt einer gigantischen Rechenoperation ist: Ein Witzearchiv, eine Sammlung verworfener Motti, ein Abkürzungsschlüssel sowie ein Personenverzeichnis markieren den Übergang zum letzten Viertel von Dunkle Zahlen. Dann wird es wagemutig: In noch einer weiteren Handlungsebene, die im Paris des Jahres 1987 spielt, wird der belgische Geheimagent Dupont eingeführt, der zum Schein für die Softwarefirma IBM arbeitet. Leonid Ptuschkow dagegen, inzwischen schon ein alter Bekannter, begegnet uns wieder im Jahr 1974: Erneut ist er fasziniert von der poetisch durchdrungenen Idee, das universelle Computerprogramm, mit dem sich die Geschichte der Menschheit vorhersehen lässt, zu schreiben (Verweis auf den Dichter Teterewkin!). Auf der Programmierer-Spartakiade im Jahr 1985 wird zunächst zu Geheimdienstlerin Jewhenija Swetljatschenko geschwenkt, die, wie nun klar wird, das Computerprogramm aus dem verschollenen Gepäck des kubanischen Jugendtrainers Eduardo Piñero an sich gebracht hat, dessen ausgefeilte Analysemethoden für die Arbeit der Staatssicherheit enorm hilfreich sind. Dupont, der belgische Geheimagent, ist inzwischen in Moskau angekommen, wo er geheime Bänder, getarnt als Kassetten mit russischer Volksmusik, sowie eine geheimnisvolle rote Kladde durch verschiedene Stationen (darunter eine Spielzeugfabrik) transportiert, bis er unversehens einen Schlag gegen die Schläfe erhält. Leonids Erzählstrang bewegt sich nun zielstrebig auf das Jahr 1985 zu: Wir treffen 1981 am Grab seiner Eltern wieder, er ist schon Trainer der russischen Programmiererauswahl und soll für Erfolge bei der ersten Spartakiade sorgen. Doch wie geht es eigentlich mit der abenteuerlichen Mission von Mireya Fuentes weiter? Nachdem sie sich (unter Drogeneinfluss?) auf der Party in der kubanischen Botschaft in ein Vogelwesen (!) verwandelt und einen Rundflug über Moskau unternommen hat, ist sie in das Badezimmer der Botschaft zurückgekehrt, wo sie in der Badewanne zwar wieder in ihre menschliche Form zurückfindet, gleich aber die nächste fantastische Reise antritt, die sie diesmal in die Kanalisation führt. In einer Säulenhalle trifft sie auf ein Kind und einen liebestollen Zwerg, wird dekontaminiert und angewiesen, Schutzkleidung anzulegen – Schnitt! Die Programmierer-Spartakiade dauert an, das sowjetische Team muss herbe Verluste einstecken, der Ausgang des Trainerwettkampfs ist wegen Mireyas Abwesenheit offen. Mehrere kurze Kapitel aus auf wildeste zusammengewürfelten Zeiten (1989, 1996, 2019-2021) greifen nun noch einmal die wichtigsten Motive des Romans auf und variieren diese in bester Zufallsgeneratoren-Manier, bevor es zum großen Finale kommt: In einer Art Graphic Novel ohne Bilder, also mit leeren grauen Rechtecken, wird Mireyas Geschichte ausschließlich über Fußnoten zu Ende erzählt. Sie befindet sich nach ihrer Dekontamination in einem weiß gekachelten Laborraum, wo ihr eine Apparatur mittels Linsen und Spiegeln wundersame Bilder zeigt. Der Schluss: Ein Zoom auf ihre geweitete Pupille, in der sich der Himmel spiegelt.
Im letzten Viertel will, so scheint es, Dunkle Zahlen noch einmal alles an Einfallsreichtum und fantastischen Ideen aufbieten, auch in formaler Hinsicht: Zwischen die Kapitel gestreut ist ein Programmcode und ein Kreuzworträtsel, auch das Schlusskapitel, das quasi nur aus Fußnoten besteht, ist eine gelungene Irritation der Lesegewohnheiten. Viele Fragen bleiben aber doch offen, auch scheint sich der Strom der verschiedenen Handlungsstränge doch etwas zu verheddern und um eine Auflösung verlegen. Wer eine linear erzählte Mystery-Story erwartet hat, wird diesen Roman ohnehin schnell beiseite gelegt haben, das ist klar. Doch auch dem von komplex und ambitioniert angelegten Romanen begeisterten Leser wird es zeitweise etwas zu haarsträubend und verschachtelt. Hier liegen die Stärken vor allem in der ersten Hälfte des Romans, die durch liebevolle Figurenzeichnung und die originelle Setzung des gesamten Themas überzeugt. Gesamtfazit also: Ein abenteuerliches Leseerlebnis, das am Ende ein wenig zu viel Geduld verlangt!
Matthias Senkel: Dunkle Zahlen, Matthes & Seitz Berlin, 488 Seiten, 24 €