Ich schnallte in Grimme meinen Tornister

Vom 8. bis zum 11. Mai 2017 hielt Ann Cotten drei Vorlesungen im Rahmen der Stefan-Zweig-Poetik-Dozentur der Stadt Salzburg. Gesammelt herausgegeben unter dem Titel „Was geht“ hat sie nun der Wiener Sonderzahl Verlag.

So kommt zu dem hübsch verteilten Oeuvre Ann Cottens, das neben Suhrkamp nun inzwischen u.a. bei Peter Engstler, Broken Dimanche Press und Starfruit Publications vorliegt, ganz nebenher ein weiterer Verlag hinzu; viel spannender aber ist das Thema, das sie gewählt hat: Dieses folgt nämlich wortwörtlich dem Titel, es geht ums Spazierengehen, genauer: „Um die Tücken des Spazierengehens, um die Tücken des ‚Anderen‘ und um die Probleme des langen Wegs“.

Ann Cotten (Foto: Suhrkamp Verlag)

Es ist faszinierend, beim Lesen diesem eigentümlichen Zustand zwischen Tun und Nichtstun nachzuspüren, einer Bewegung des bewussten Sich-Entfernens im gleichzeitigen Bewusstsein über die Nutzlosigkeit dieser Bewegung. Ausführlich zu Wort in langen Zitaten kommen Fernando Pessoa, Rainer Maria Rilke, Robert Walser, der Taugenichts von Joseph von Eichendorff, später natürlich Peter Handke, Thomas Bernhard und aus dem englischen Sprachraum Bruce Chatwin, D.H. Lawrence und Malcolm Lowry. Ein kleiner Exkurs beschäftigt sich mit den Vorzügen des Reimens und die Kunst der Mnemotechnik, als deren Meister Bert Papenfuß mit einem langen Gedicht ins Spiel gefeiert wird. Am Ende steht das Problem des „langen Wegs“: Gibt es Auswege aus dem Neoliberalismus? Welche Abkürzung führt zum Ziel? Gibt es immer nur zwei Möglichkeiten, oder auch einen dritten Weg („beim Schachspielen das Brett einfach umwerfen“)? Die sprunghaften Gedanken und Assoziationen Ann Cottens federt das ausführlich zitierte Textmaterial immer wieder gut ab, so auch gegen Ende ein großer Spaziergänger der Weltliteratur, Johann Gottfried Seume aus dem Spaziergang nach Syrakus im Jahr 1802:

Ich schnallte in Grimme meinen Tornister, und wir gingen. Eine Karawane guter gemütlicher Leutchen gab uns das Geleite bis über die Berge des Muldentals, und Freund Großmann sprach mit Freund Schnorr sehr viel aus dem Heiligtume ihrer Göttin, wovon ich Profaner sehr wenig verstand. Unbemerkt suchte ich einige Minuten für mich, setzte mich oben Sankt Georgens großem Lindwurm gegenüber und betete mein Reisegebet, daß der Himmel mir geben möchte billige, freundliche Wirte und höfliche Torschreiber von Leipzig bis nach Syrakus, und zurück auf dem andern Wege wieder in mein Land; daß er mich behüten möchte vor den Händen der monarchischen und demagogischen Völkerbeglücker, die mit gleicher Despotie uns schlichten Menschen ihr System in die Nase heften, wie der Samojete seinen Tieren den Ring.

Ann Cotten: Was geht. Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesung. Sonderzahl Verlag, 180 Seiten, 18 €

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