Von Nähmaschinen und Wachspüppchen

Es gibt vergessene Autorinnen und Autoren, und es gibt solche, die gerade erst entdeckt werden. Camilla Grudova gehört zu den letzteren. Ihre Entdeckung steht dem deutschsprachigen Buchmarkt noch bevor.

Nach der Veröffentlichung von zwei Kurzgeschichten in den Magazinen Granta und The White Review brachte der britische Independent-Verlag Fitzcarraldo Editions, der mit englischen Übersetzungen von Matthias Enard, Olga Tokarczuk und, ja, auch Rainald Goetz‘ Irre ein gut sortiertes internationales Programm pflegt, 2017 den Debütband The Doll’s Alphabet der in Toronto lebenden Autorin heraus, über die nicht viel mehr bekannt ist, als dass sie einen Abschluss in Kunstgeschichte und Germanistik hat.

Irgendwo zwischen düsteren Märchen und surrealer Dystopie mit einem Schuss feinem Humor liegen die dreizehn sehr unterschiedlich langen Erzählungen in diesem Buch: Ob es die Erlebnisse einer Frau sind, die beschließt, sich die Haut abzustreifen und auf einmal eine neue Freiheit fernab der Zwänge des äußeren Erscheinungsbilds genießt („Unstitching“) oder die Geschichte einer Welt, in der eine „Gothic Society“ Streetart in Form von Styropor-Wasserspeiern und Bleiglas-Verzierungen produziert – Camilla Grudova bedient sich stets des klassischen Effekts der fantastischen Literatur, genau ein Detail der Wirklichkeit zu verändern und diese Veränderung dann konsequent zu Ende zu denken. Die Besonderheit ist die dezidiert – und vielleicht entfernt vergleichbar mit Margaret Atwood – weibliche Perspektive, die sie dabei einnimmt. Am besten zeigt sich das in der längsten Geschichte des Bandes, „Waxy“, die ein düsteres Szenario schildert, in der Frauen hart in Nähmaschinen-Fabriken arbeiten, um ihre unselbstständigen Männer zu versorgen, die in regelmäßigen Abständen rätselhafte „Prüfungen“ absolvieren müssen. Das gesamte Zusammenleben von Mann und Frau ist auf Funktionalität ausgerichtet und von Gewalt geprängt, Lebensmittel sind rationiert, Gefühle haben keinen Platz.

Camilla Grudova © United Agents

„Waxy“ ist auf Deutsch, übersetzt von Rebecca DeWald, unter dem Titel „Wachspüppchen“ in der aktuellen Ausgabe der Edit erschienen. Die Geschichte „Unstitching“ kann man im Original bei Lemonhound nachlesen. Eine deutsche Übersetzung von The Doll’s Alphabet ist bislang noch nicht angekündigt. Vielleicht wird ja der eine oder andere Verlag im Rahmen des Kanada-Schwerpunkts der Frankfurter Buchmesse im nächsten Jahr hellhörig?

Camilla Grudova: The Doll’s Alphabet. Fitzcarraldo Editions, 192 Seiten, ca. 12 €

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