Der Weg ist mit Sternen übersät

Die Lebensgeschichte von Ivan Blatný, wie sie in Francis Neniks Band Doppelte Biografieführung wiedergegeben ist, liest sich wie ausgedacht: Diese Dichterfigur könnte ohne weiteres auch dem Universum von Thomas Pynchon oder Roberto Bolaño entsprungen sein.

Aber Ivan Blatný gab es wirklich, und seine Lebensgeschichte ist tatsächlich so irrwitzig, wie Nenik sie beschreibt: Als bereits gefeierter junger Schriftsteller in der Tschechoslowakei setzt er sich in den späten vierziger Jahren, nach der Machtübernahme der Kommunisten, nach London ab und flüchtet sich aus wohl teils realer, teils eingebildeter Angst vor der Verfolgung durch den Geheimdienst in die Psychiatrie, wo er, im geschützten Raum des Exils, aber auch isoliert in einem fremden Land, bis zu seinem Tod weiterschreibt. Eine Krankenschwester rettet einige Texte, die regelmäßig im Müll landen, vor der Vernichtung, der kanadische Exilverlag Sixty-Eight Publishers veröffentlicht sie Ende der siebziger Jahre. In der Edition Korrespondenzen ist mit Hilfsschule Bixley nun auch der zweite Band auf Deutsch erschienen, übertragen von Jan Faktor und Annette Simon, die behutsam die Mehrsprachigkeit der Originale erhalten haben:

Der Weg ist mit Sternen übersät

La route est semée d’étoiles
und eine Symbolgestalt geht durch dunkle Haine

Wer hätte gedacht dass eine Hummel stechen könnte
die kleine Filzkugel

Die Hummel ist ein Hochzeitssymbol im Gedicht in der fremden Wohnung
oberhalb der Stadt hummelt ein Flugzeug

The guest star is Bing Crosby
the guest star is Bob Hope

The bumble-bee may be also called humble-bee
they humbly suck the nectar
without being able to build a hive.

Wobei es mit dem Übertragen so eine Sache ist: So berichtet Marie Luise Knott eingehend auf Tagtigall über die Collagenhaftigkeit und die Besonderheiten der Übersetzung von Ivan Blatnýs Texten, die frei zwischen dem Tschechischen, Englischen, Deutschen und Französischen changieren.

Ivan Blatný, der 1990 in England gestorben ist, hat seine Heimat Tschechien nicht mehr wiedergesehen, auch wenn er die „Samtene Revolution“ noch miterleben durfte. Auf der Leipziger Buchmesse, die dieses Jahr Tschechien als Gastland begrüßt, wird sein Werk zweimal vorgestellt: Die Übersetzer präsentieren zusammen mit Verleger Reto Ziegler am Messesamstag Hilfsschule Bixley als zentrales Werk der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts (13 Uhr, Forum DIE UNABHÄNGIGEN, Halle 5 Stand H309); am selben Tag spricht Jan Faktor mit Erika Preisel von literadio noch einmal über die Übersetzung (16.30 Uhr, IG Autorinnen Autoren, Halle 4, E209).

Ivan Blatný: Hilfsschule Bixley, Edition Korrespondenzen, 240 Seiten, 22 €

Welcome to Miami

Nach Lärm und Wälder legt Juan S. Guse seinen zweiten Roman vor – in Neonfarben leuchtend und dick wie ein Ziegelstein kommt Miami Punk daher.

Wie in der von Paranoia geprägten Prepper-Welt des Vorgängers macht sich Guse auch hier daran, eine ganze Welt zu erfinden, die der unseren auf eine unheimliche Art ähnlich sieht. Zugrunde liegt ein entscheidendes Gedankenspiel: Was würde passieren, wenn sich der Atlantik vom einen Tag auf den anderen von der Ostküste der Vereinigten Staaten zurückzieht?

In Miami, einer Stadt, die mit ihrem berühmten Sandstrand wie keine andere das Freizeit-Paradies im Hochglanzformat verkörpert, passiert genau das. Erzählerisch wird dieses Phänomen nun über mehrere Stränge erforscht: Über eine junge Programmiererin, die an ihrem opus magnum, einem Rollenspiel, das sich selbst fortschreibt, arbeitet; über Teilnehmer eines geheimnisvollen Kongresses, der dauerhaft in einer futuristischen Hochhaussiedlung tagt; über die Arbeit der „Behörde 55“, die von der Stadt beauftragt wurde, die gesellschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen des Meeresschwunds zu erforschen (und nebenbei dem misstrauisch beäugten Kongress auf den Zahn zu fühlen); und schließlich über eine Gruppe von Counter-Strike-Spielern, die zum letzten Turnier der legendären Version 1.6 des First-Person-Shooters nach Miami reist. Mit der Zeit kommen sich die einzelnen Handlungsträger näher, und eine dunkle, bedrohliche Atmosphäre legt sich über das Geschehehn; dazwischen darf man sich auf die Bekanntschaft mit Ringer-Verbänden, Todesschwadronen, Verschwörungstheoretikern aller Art und Pilgern, die das Meer suchen, freuen; es gibt einen Katalog herabfallender Dinge, die aus dem Hochhauskomplex geworfen werden, Planspiele ganzer Wirtschaftssektoren, die ihre Arbeit verloren haben, aber trotzdem ihren Tagesablauf aufrechterhalten, und die Lebensgeschichten ehemaliger professioneller Dauerwerbesendungs-Schauspieler nachzulesen.

Juan S. Guse erweist Science-Fiction-Klassikern wie J.G. Ballard oder Stanislaw Lem ebenso die Referenz wie professionellen Spieleentwicklern und der kulturellen Bedeutung, die Computerspiele bereits heute haben. Trotz des hohen erzählerischen Anspruchs lässt sich das mit 634 Seiten keineswegs leichtgewichtige Buch erstaunlich zügig lesen: Durch einen geschickten Umgang mit der Informationsvergabe wird erzählerisch in jedem Kapitel gerade immer genug offen gelassen, dass man man mit Spannung darauf, was als nächstes passiert, sofort weiterliest. Für Nerds gibt es außerdem noch jede Menge Anspielungen auf Vorbilder von David Foster Wallace über Kathy Acker bis hin zu Claude Lévi-Strauss zu entschlüsseln; ein geheimes Bonuslevel, das sich über im Text verstreute Internet-Adresse und erwähnte WLAN-Zugänge freischalten lässt, existiert natürlich ebenfalls. Stefan Härtel von Bookster HRO prognostiziert bereits „Kultstatus“; Marten Hahn meint auf Deutschlandradio Kultur: „Es dauert lange, bis man weiß, ob Miami Punk großer Mist oder großes Kino ist“, schließt dann aber mit dem Fazit: „Ein Werk mit magischer Qualität.“ Zauberhaft ist tatsächlich auch die Titelillustration der Cyberpunk-Künstlerin Alice Conisbee, die an dieser Stelle, wie auch die herstellerische Gesamtverarbeitung, noch einmal eine besondere Erwähnung verdient – und Miami Punk zu einem gelungenen Gesamtkunstwerk macht.

Juan S. Guse: Miami Punk, S. Fischer, 640 Seiten, 26 €

Buchpremiere am 7. März 2019 um 19:30 Uhr im Berliner Ringtheater