Mit dem Kleiderbügel im Abfluss der Welt

Ann Cotten hat mal wieder das Fach gewechselt: Mit Lyophilia erscheint im Suhrkamp Verlag der zweite Band mit Erzählungen der anarchischsten der deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen.

Damit nicht genug, verzweigt sich das ohnehin schon auf eine beachtliche Größe angewachsene Werk Ann Cottens nun auch noch ein weiteres Mal. Im Wiener Sonderzahl Verlag sind zuletzt unter dem Titel Was geht? ihre Salzburger Poetikvorlesungen erschienen (The Daily Frown berichtete); davor das japanische Reisebuch Jikiketsugaki Tsurezuregusa bei Peter Engstler und Fast Dumm, amerikanische Reflexionen bei Starfruit Publications, englischsprachige Gedichte in der Broken Dimanche Press – Lather in Heaven – und natürlich das irre Versepos Verbannt!, das zuletzt im Hausverlag Suhrkamp verlegt wurde.

In Lyophilia nun geht es in das weitläufige Gebiet der Science-Fiction. Und herausgekommen ist dabei eine knallbunte Wundertüte: Von japanisch inspirierter Kürzestprosa bis zur hundertseitigen Novelle ist alles dabei. Es geht um außerirdische Sprachen, die buchstäblichen Untiefen von Wikileaks („Mit dem Kleiderbügel im Abfluss der Welt“), vermeintliche und wirkliche Geistererscheinungen am Kahlenberg in Wien („Nepomuk“), prekäre Arbeitswelten der Zukunft („Putztruppenweiseheiten“) und eine entlang des klassischen H.G.-Wells-Romans erzählte psychedelische Zeitreise im Prenzlauer Berg. Die Kernstücke bilden zwei jeweils weit über hundert Seiten lange Erzählungen, deren kleinster gemeinsamer Nenner möglicherweise die Liebe ist: „Proteus oder Die Häuser denen, die drin wohnen“ über eine Affäre, die sich über mehrere Paralleluniversen erstreckt und „Anekdoten vom Planeten Amore (Kafun)“, in der auch die titelgebende Lyophilisation zur Sprache kommt:

Wir patentierten einen Lyophilisator des Geistes, ein Konkurrenzprodukt zum Coder Kant der Uni Osaka, das unter dem Namen Hegelator zugleich als Treiber hinter einem der beliebtesten Rides im Philosophenpark wertvolle Konversationserfahrungen machte, Industriespionage nicht ausgeschlossen. Die Künstlichen fanden an den Denkweisen ihrer Menschen nostalgischen Geschmack, auch wenn sie es lästig und auch eklig fanden, dieses Denken andauernd in Feuchtform um sich zu haben. Vieles, was Psychologie, Philosophie und Literatur formuliert hatten, stellte sich auch nach der Erforschung der Muster als verblüffend treffend heraus, wie ja auch die Entdeckung des Periodensystems der Elemente das Kochen und sein Vokabular nicht wesentlich veränderte.

Alles klar? Was sich schon im schaudernden Fächer zeigte, wird hier bestätigt: Ann Cotten ist auch als Erzählerin nicht zu stoppen. Grandios verplaudert, mitunter auch nervtötend in ihrer Ausführlichkeit, sprudeln ihre Geschichten munter über die 463 Seiten, die Lyophilia umfasst. Dabei ist es nicht einmal klar, ob Lyophilia wirklich als Science-Fiction-Band verstanden werden kann: Wirken Erzählungen wie „Nepomuk“ und das kurze Dialekt-Stück „Tullner Creeks“, die durchaus Tagebuch-Charakter haben, nicht nah an der Realität? Nicht immer jedenfalls ist die Grenze zum Spekulativen klar zu ziehen.

Vielleicht hat sich die durchaus dem Blödeln nicht abgeneigte Autorin hier aufs Neue selbst übertroffen. Festgehalten werden kann zumindest das: Langweilig wird es uns mit Ann Cotten noch lange nicht werden.

Ann Cotten: Lyophilia. Erzählungen, Suhrkamp Verlag, 463 Seiten, 24 €