Über Nacht haben sie den Wald mit Wald ersetzt

Levin Westermanns dritter Gedichtband bezüglich der schatten feiert das Langgedicht und überrascht mit formalen Experimenten.

Das nach 3511 Zwetajewa zweite Buch Westermanns bei Matthes & Seitz Berlin beginnt zunächst mit Fremdtext: Dem Inhalt vorangestellt ist das kurze Gedicht „Door in the Mountain“ der 1934 in Chicago geborenen Jean Valentine, das die wilde Natur als Zufluchtsort vor der als feindlich wahrgenommenen Zivilisation beschreibt (eine Lesung kann man sich hier anhören). Es setzt den Akzent für den ersten Abschnitt des vorliegenden Bands, der mit düstern Bildern eine Reise durch eine nach einem nicht näher definierten „Störfall“ zerstörte Welt beschreibt: „Man gewöhnt sich/an alles. Es stimmt./Donnergrollen, Wolken,/Wind. Körper schaukeln sacht/an einem Baum.“ Die – wie sich andeutungsweise herausstellt – weibliche Erzählerin dieses in kurzen, ungereimten Versen sich abspulenden Langgedichts begegnet blauäugigen Engeln, mehreren Tieren, darunter vor allem einem Fuchs, der sie über längere Zeit begleitet, und – als einzigem Menschen – dem wortkargen Wladislaw, der sich als kundiger Weggefährte erweist. Die Reise wird zunehmend eine fantastische, die Tiere beginnen zu sprechen; am Ende steht eine Arche und der klassische Meeresgott Triton wird angerufen, er möge mit einem Stoß in sein Horn das Meer aufwühlen.

Auf dieses, das gesamte erste Kapitel umfassende Mini-Epos folgen in einem zweiten Kapitel drei kleinere Texte: Zuerst „scapula“, ein aus sechzehn nurmehr zweistrophigen Gedichten bestehender Zyklus, der von einer YouTube-Video über die britische Bergsteigerin Hazel Findlay, die bei einer Besteigung des Dyers‘ Lookout in Devon als erste Frau den extremen Schwierigkeitsgrad E9 absolviert hat. Der unmenschlichen Anstrengung des Kletterns auf einer fast ebenen Bergwand stehen bei Levin Westermann leichte, fast schwerelose Texte gegenüber, die das Besiegen der Schwerkraft feiern und gleichzeitig den Blick auf das Überzeitliche weiten:

und ferne. sehnsucht in den augen. sieben
zentimeter von der stirn bis an den fels. fugenlos.
glattgeschliffen durch wetter und wind. durch wasser.

gletscher. zeit. ein kontinent – begraben. unter eis.
endlose flächen aus ewigem weiß. zehntausend jahre lang:
stille. und schlaf –

Darauf folgt ein Exkurs ins Dramatische: In „(WEIBLICH)KIND(stumm)“ werden eine trauernde Tochter und ein Chor den Stimmen von Roland Barthes und Ann Carson gegenübergestellt, die aus Originalzitaten aus deren Werken Tagebuch der Trauer und Men in the Off Hours montiert wurden. Hier wird auch wieder die große Bedeutung der antiken Klassiker für Westermann deutlich, der sich in Form und Inhalt von Euripides‘ Alkestis inspirieren ließ.

Sarkophag. Vater, ein Sarkophag! Ist das nicht lustig?
Du wolltest ewig leben und nun begraben sie einfach
das Haus – das ganze, gottverdammte Haus. Ist das
nicht lustig? Vater? Vater, ich spreche mit dir. Sieh
mich an, wenn ich mit die spreche. IST DAS
NICHT LUSTIG?!

Am Ende steht wieder ein Langgedicht in der Art des ersten Teils; ganz anders als zuvor ist in „zerrüttung“ aber der Fokus ganz verengt auf den Tagesablauf einer einzigen Person, durchgängig in der Du-Form angeredet, die, alleine auf sich gestellt, mit einer hypersensiblen Wahrnehmung einen Zustand von fast feierlicher, transzendenter Einsamkeit beschreibt. Ein passender Schlusspunkt – doch halt, kurz vor dem Fadeout taucht noch einmal ein alter Bekannter auf: „du siehst einen fuchs,/hörst einen hund./atmest beständig,/leere/und licht.“

Levin Westermann: bezüglich der schatten. Matthes & Seitz Berlin, 160 Seiten, 20 €

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