Der Schein trügt: In ihrem Debütroman Milchzähne erzählt Helene Bukowski vom Umschlagen einer Idylle in ihr brutales Gegenteil.
Nur wenige sind übrig geblieben, sie leben am Rand des „toten Gebiets“, ein reißender Fluss auf der anderen Seite begrenzt die Gegend, in der sie sich sicher fühlen. Die Brücke auf die andere Seite haben sie abgerissen.
So richtig klar wird nie, was der Auslöser für den Ausnahmeszustand war, in den die kleine Dorfgemeinschaft geraten ist, von der Helene Bukowski in ihrem ersten Roman erzählt. Fest steht: Die Ressourcen sind knapp geworden, man hat Vorräte angelegt und unterstützt sich gegenseitig durch Tauschgeschäfte.
Aus den Fugen gerät dieser Selbstversorger-Mikrokosmos durch ein Kind, das – „rote Haare, wie angezündet“ – vom einen auf den anderen Tag zu der Gemeinschaft stößt. Und mit einem Mal blitzt die Brüchigkeit des solidarischen Lebensmodells auf: Fremde sind nicht erwünscht, denn sie bringen alles durcheinander, so die Formel, so die Prämisse, um die dieser Roman kreist, während die Atmosphäre langsam bedrohlicher wird.
Denn bald stellt sich heraus, dass auch Skalde, die Erzählerin, die sich auf kleinen Notizzetteln ihre eigenen Gedanken zum Geschehen macht, und auch ihre Mutter Edith eigentlich Außenstehende, von außen Gekommene sind, die mit der Zeit zwar toleriert wurden, aber trotz allem doch nicht so richtig dazugehören. Die Grenzen der Toleranz sind erreicht, als erst Skalde, und dann auch Edith sich für den Verbleib des Kindes Meisis im Dorf einsetzen. Und als die zwei Töchter eines Dorfbewohners verschwinden, schlägt das Misstrauen in offene Feindseligkeit um.
Foto: Rabea Edel
Mit wenigen Strichen skizziert Helene Bukowski den Mikrokosmos einer Gesellschaft, die sich völlig von der Außenwelt abgekapselt hat und sich von allem, was von außen kommt, bedroht fühlt. Das „Zurück zur Natur“ wird zur faden Illusion, denn es geht einher mit Engstirnigkeit und Fremdenhass. Eine klassische Geschichte wird hier noch einmal ganz neu erzählt, sprachlich von einer nahezu biblischen Urwüchsigkeit. Die oft nur ganz kurzen Kapitel folgen dabei sich langsam zuziehenden Schlinge um Skalde, Meisis und Edith; gleichzeitig wird durch die „Notizzettel“ noch ein Text im Text mitgeliefert, in dem Skalde zaghaft Worte für die sie umgebende Welt zu finden versucht.
Vieles bleibt schließlich offen: So wie der Auslöser für den Ausnahmezustand der Dorfbewohner, bleiben auch die Chancen auf eine Flucht über das Meer, wie sie im Prolog beschrieben wird, unbestimmt. Wie Traum in Albtraum, Idylle in Bedrohung und Solidarität in Terror umschlagen können, führt dieser Roman hingegen beispielhaft vor.
Helene Bukowski: Milchzähne, Blumenbar Verlag, 256 Seiten, 20 €