I used to be a lunatic

Maren Kames holt in ihrem neuen Buch zur ganz großen Geste aus: Luna Luna führt mitten hinein in die Mondlandschaften der Liebe – und des Krieges.

Weiß auf schwarz, umgeben von einem pinken Vorsatzpapier, präsentiert sich hier ein Text, der Monolog, Klagerede und Sprachperformance miteinander verbindet. Es geht um Trauer, Wut, gleichzeitig ist der Redefluss hoch reflektiert und findet immer wieder zu einer ironischen Distanz. Das zeigt sich in den Brechungen, in denen sich die Sprecherin selbst aufs Korn nimmt („warum bin ich so zerzaust? warum rauch ich so oft?“); das zeigt sich aber auch in der so heterogenen Textgestalt, in der Maren Kames ein ganzes Repertoire an Songreferenzen untergebacht hat und so auch einen Teil ihrer Poetik offenlegt: Wortwörtliche Übersetzungen, frei Assoziiertes und miteinander Montiertes lassen Luna Luna zu einem komplexen Gewebe werden, das mit einem großen musikalischen Gespür zusammengesetzt ist. Der Wahrhaftigkeit tut das alles keinen Abbruch: Auch in den ironischen Momenten, und gerade in der unbekümmerten Art, wie dieser Text bereit ist, seine Gemachtheit auszustellen, liegt eine schonungslose Ehrlichkeit, die die große Qualität von Maren Kames’ Schreiben ausmacht.

Es beginnt, drastisch, „scheiße und eiskaltz“, mit einer Trauer- oder auch Wutrede über einen schmerzlichen Verlust („ich bin circa in der mitte entzwei gebrochen/und nicht wieder heilgeworden“), und der Anrufung der Mutter, die ihr „mödchen“ (sic!) vermisst; um die Ecke lugt ein Sheitan. Dann folgt der Mittelteil „krieg“, eine Art Totentanz, oder zumindest nahe dran, in dem Körperlichkeit, Wahnsinn und Gewalt sich ihre Bahn brechen. Körper werden „zu Gold gedrillt“, ein Tyrann verschanzt sich mit Basecap im Schützengraben und verliebt sich in einen Soldaten, mit dem er zusammen kitschige Liebeslieder zum Besten gibt. Eine unwirkliche Szenerie entfaltet sich hier, in der weniger der Krieg selbst als die fatalen Auswirkungen auf die mentalen Zustände der in ihm verstrickten Akteure Thema sind. Wieder zurück vom Schlachtfeld, im dritten Teil, stößt, in einer freien Variation auf den Songtext von Lapsleys „Station“, neues Personal dazu: Eine Geisha und der Sheitan vom Anfang, der sich als „eine art dämon“, als böser Gegenspieler, das negative Prinzip an sich entpuppt:

die
gähnend klaffende,
von oben herab lachende
ableitung aus allem vermeintlich zu ende gedachten, ein zwang, die angst, die leiter abwärts, ein spross von moder, und gleitend, hinterrücks: ein laut posaunender gauner, aus dem aus klau entstandener bummer, perfide perücke, filzig, verflixt, zugleich der kamm gegen den strich, das aber! aus allen verteufelten ecken und die steigerung von ewig.
wenn’s die gäbe.
eine schimäre.

Es ist ein kurzes Innehalten, ein Moment des Zögerns zwischen sich Ergeben, Zurückziehen und Weitermachen, der den dritten Teil ausmacht, bevor Luna Luna in einer zauberhaften Wendung – „hokus pokus“ – zum großen Finale ansetzt: „In meinen gloriöseren Tagen bin ich ziemlich lunar gewesen“ hieß es am Anfang – jetzt fällt der Mond in einer fantastischen Wendung des Geschehens selbst vom Himmel, die Geisha fährt auf einem Boot davon, zusammen mit Annie Lennox, die eine Schliere von pinkfarbenem Make-up hinter sich herzieht. Schöner, tröstlicher und hoffnungsvoller könnte man sich ein Ende nicht ausmalen in einem Buch, das sich weit in die Extreme menschlicher Zustände vorwagt.

Anhören kann man sich diesen vielstimmigen Text übrigens auch als Hörspiel, das zeitgleich mit dem Erscheinen des Buches im Deutschlandfunk gesendet wurde und hier nachgehört werden kann. Und auf keinen Fall zu verpassen ist die Buchpremiere am 7. Oktober im Silent Green Kulturquartier in Berlin-Wedding.

Maren Kames: Luna Luna, Secession Verlag, 160 Seiten, 35 €

Hörspiel zum Buch beim Deutschlandfunk (Regie: Leopold von Verschuer, mit Marina Frenk, Jens Harzer, Jürgen Holtz u.a.)

Buchpremiere am 7. Oktober um 20 Uhr, Silent Green Kulturquartier, Gerichtstr. 35, 13347 Berlin

Hunde, die bellen, beißen nicht

Ihre EP Mechanical Bull setzte mit sparsamer Instrumentierung und genauem Blick einen Akzent zum Höhepunkt der #MeToo-Bewegung. Mit Beware Of The Dogs zeigt sich Stella Donnelly nun musikalisch vielseitiger.

Sorglos beschwingt sind die retro-poppig angehauchten Stücke auf Stella Donnellys erstem Album aber nur scheinbar: Was musikalisch harmlos erscheinen mag, macht sie auf der Textebene wieder wett:

I’ll tell your wife and your kids about that time
’Cause this is not ’93
You lost your spot on the team, you’re out of line

So heißt es gleich im ersten Song, der im schönen Refrain „you grabbed me with an open hand/the world is grabbin‘ back at you“ noch gleich eine kleine Breitseite gegen Donald Trump liefert. Auch der Titel „Old Man“ ist wohl nicht zufällig gewählt, er erinnert natürlich sofort an Neil Youngs großen Klassiker, den Stella Donnelly hier in einer schönen Ermächtigungsgeste einfach für sich neu definiert. Sie erzählt die andere Seite der Geschichte, wie Männer sich bei Frauen bedienen („He wants to take baby out, ‚Give us a smile'“) – der ganze Mechanismus toxischer Männlichkeit eben wird hier und in zwölf weiteren Songs ausführlich durchdekliniert: In der Familie, in Alltagssituationen („Lunch“, „Bistro“) oder der trügerischen Kleinstadtidylle im überzeugenden Titelstück „Beware Of The Dogs“.

Die australische Singer-Songwriterin, die 2018 vom Indie-Label Secretly Canadian entdeckt wurde, das flugs ihre EP re-releaste, hat ihre Musik konsequent weiterentwickelt: Vom sparsam instrumentierten Vorgänger ist nur das in ihrem typischen, durchdringenden Vibrato gesungene, zynische „Boys will be boys“ übrig. Aber es muss nicht eben die anklagende Ballade sein, Stella Donnelly versetzt der von ihr besungenen männlichen Überlegenheitsmaschinerie lieber einen beschwingten Tritt in den Allerwertesten und setzt zur lustvollen Gegenerzählung an. Beware Of The Dogs steht damit gut da in einer Reihe von Titeln junger Künstlerinnen, die ganz selbstverständlich ein modernes feministisches Selbstbewusstsein in ihren Pop-Entwurf integriert haben.

Stella Donnelly: Beware Of The Dogs, Secretly Canadian, 43 Min., ca. 12 €

Have you forgotten how to say please?

Gerade einmal fünf Songs hat die EP Thrush Metal von Stella Donnelly, aber das reicht ihr schon, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Von der Wut auf aufdringliche Männer („Mechanical Bull“), der Verdrehung von Täter- und Opferrolle bei sexueller Gewalt („Boys Will Be Boys“) und toxischen Beziehungsmechanismen („Mean To Me“) singt Stella Donnelly, begleitet nur von einer E-Gitarre – ihr bestes Instrument ist aber ihre Stimme, mit der sie laut und deutlich Stellung bezieht. Musikvideos gibt es bereits zu „Mechanical Bull“ und „Mean To Me“. Soeben ist die zuerst bei einem kleinen australischen Label auf Kassette erschienene EP bei Secretly Canadian mit einem Bonustrack auf Vinyl neu veröffentlicht worden – definitiver Musiktipp für alle Mansplainer und toxischen Maskulinisten!

Stella Donnelly: Thrush Metal. Secretly Canadian, ca. 21 Minuten, ca. 12,99 €

Ich habe den Krieg mitgebracht

Warsan Shire (via Instagram)

Die Neue Rundschau lädt in ihrer neuesten Ausgabe zur Entdeckung der somalisch-britischen Lyrikern Warsan Shire auf Deutsch ein.

Bekannt wurde Warsan Shire durch ihre Mitwirkung bei Beyoncés Multimedia-Album Lemonade im Jahr 2016: Sämtliche Exemplare ihres ersten Chapbook-Gedichtbands Teaching My Mother How To Give Birth waren wenige Stunden nach der Veröffentlichung restlos ausverkauft: Der zu Lemonade produzierte Film enthielt zahlreiche Zitate daraus. Der nächste Band Extreme Girlhood ist gerade in Vorbereitung. Warsan Shire veröffentlicht auch über Bandcamp: Das Audiobook Warsan Shire Versus Melancholy (The Seven Stages Of Being Lonely) kann man sich für 6 £ herunterladen.

Ihre Texte beschäftigen sich mit den Themen Gewalt, Migration und Weiblichkeit und entwickeln eine große Wucht, sind melancholisch und voller Grausamkeit und bringen die Absurdität von Krieg und Flucht auf den Punkt. In den von Hans-Jürgen Balmes für die Neue Rundschau ausgewählten und übersetzten Texten klingt das so, und das ist ein kleines Ereignis: „Ich glaube, ich habe den Krieg mitgebracht/auf meiner Haut, ein Schleier/um meinen Schädel, Zeug unter meinen Nägeln.“ Oder so:

Ja, ich glaube, Zuhause hat mich ausgespuckt, Stromausfall und Ausgangssperre wie eine Zunge gegen lockere Zähne. Gott weiß, wie schwer es ist, über den Tag zu sprechen, an dem dich deine eigene Stadt am Haar zerrt und zieht, vorbei am alten Gefängnis, am Schultor, vorbei an den brennenden Rümpfen, auf Pfählen gehisst wie Fahnen. Wenn ich andere wie mich treffe, erkenne ich deren Sehnsucht ihr Vermissen die Erinnerung von Asche auf ihren Gesichtern. Erst wenn es ein Haifischmaul ist, verlässt man sein Zuhause. Ich trage die alte Hymne schon so lange im Mund, es ist kein Platz mehr für ein anderes Lied eine andere Zunge eine andere Sprache. Ich kenne eine Scham, die einen verhüllt und vollständig verschlingt, Allah Ceebta, ich brach zusammen und verschlang im Airport-Hotel meinen Pass. Ich bin völlig angeschwollen von einer Sprache, die zu vergessen ich mir nicht leisten kann.

Außerdem in der Auswahl enthalten: Die Texte „Der erste Kuss deiner Mutter“ („Your Mother’s First Kiss“), „Das Haus“ („The House“) und „In der Liebe wie im Krieg“ („In Love And War“). Die beiden letztgenannten sind mit einer Einführung von Sharon Dodua Otoo auch auf hundertvierzehn.de zu lesen.

Einige Originaltexte, darunter „Souvenir“ und „Gespräche über Zuhause (aus dem Abschiebe-Zentrum)“, aus denen hier zitiert wurde, kann man bei Lyrikline nachlesen und von Warsan Shire selbst eingesprochen hören. Die Neue Rundschau 3/2017 ist im Fischer Verlag erschienen, hat 272 Seiten und kostet 15 €.

Parlando forte, bitte punktgenau

Wenn Fitzcarraldo am Amazonas auf die Kautschuk-Visionen von Henry Ford trifft, wenn die Bühne von einer spiegelnden Oberfläche aus flüssigem Altöl überzogen wird, wenn ein Zug erst ungebremst durch eine Eislandschaft und dann in ein Hotel rast, dann ist man mittendrin in der Welt von Thomas Köcks Klimatrilogie.

Die Stücke, die sie umfasst, sind in den letzten drei Jahren entstanden, das wohl bekannteste, paradies fluten, hatte Aufführungen bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, in Mainz, München, Stuttgart und Berlin, das neueste, paradies spielen, wird im Dezember im Nationaltheater Mannheim zum ersten Mal zu sehen sein.

Jetzt ist die Klimatrilogie auch als Buch in der spectaculum-Reihe des Suhrkamp Verlags erschienen – ein kleiner Ritterschlag für den Autor, aber auch eine gute Nachricht für Leserinne und Leser: Denn so sehr Stücke wie paradies fluten, jüngst als Gastspiel bei Autorentheatertagen im Deutschen Theater Berlin zu sehen, durch bildgewaltige Inszenierungen beeindrucken, ist Thomas Köck auch ein Autor, bei dem sich der genaue Blick auf den Text lohnt.

Wie die Tochter in paradies fluten mit den Eltern abrechnet, wie Ben und Maggie in paradies hungern per Telefon aneinander vorbei und sich dabei in Rage reden, wie die Passagiere im „ewigen ice der spätmoderne“ sich erst Worte und dann Gepäckstücke an den Kopf werfen: All das formuliert Köck mit einem Gefühl für Rhythmik, Timing und Humor, das auch beim Lesen großen Spaß macht.

Auch die tieferen Schichten der Texte lassen sich durch das Nachlesen noch besser ausloten: Gesellschaftliche Theorie, Analyse der Globalisierung und Beobachtungen aus dem Zentrum des Spätkapitalismus laufen in den Stücken der Klimatrilogie immer mit – unterschwellig oder ganz konkret, wie in paradies spielen, das eine Brandkatastrophe unter chinesischen Billig-Textilarbeitskräften im italienischen Prato im Jahr 2013 verarbeitet.

Natürlich sollte man sich Thomas Köcks Stücke auch weiterhin im Theater ansehen – hier eine Auswahl der nächsten Termine: Seit dem 23. Juni ist paradies fluten in einer neuen Inszenierung im Münchner Volkstheater zu sehen, am 9. September folgt eine weitere Inszenierung im Akademietheater Wien. Die Uraufführung von paradies spielen findet im Dezember im Nationaltheater Mannheim statt.

Ein Telefoninterview mit Thomas Köck anlässlich der Autorentheatertage 2017 kann man sich auf der Webseite des Deutschen Theaters anhören.

Thomas Köck: Klimatrilogie. paradies fluten/paradies hungern/paradies spielen. Suhrkamp Verlag, 314 Seiten, 18 €

Erkundungen im ewigen Weiß

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Eines der ungewöhnlicheren Bücher in diesem Herbst kommt von Maren Kames: Ihr Debüt Halb Taube Halb Pfau mischt Prosa, Drama und Lyrik und ist Studie über die Überwindung der Einsamkeit.

Halb Taube Halb Pfau lässt sich auf viele Arten lesen: Gleich zu Beginn wird das Ich auf eine Art Expedition geschickt, in eine arktische Landschaft, die aber eher in der Vorstellung als der Realität verortet scheint. Es handelt sich um ein ewiges Weiß, in dem die Orientierung verlorengeht, das aber dennoch kartografiert und ausgekundschaftet werden muss: Mit Expeditionshut (beige) und Stirnlampe machen sich Erzähler und Leser an der Landschaft zu schaffen.

Hier geht es um eine Suche nach Nähe, Austausch, Überwindung einer grundlegenden Einsamkeit. Das quasi-wissenschaftliche Vokabular, mit dem Maren Kames operiert, erfüllt dabei zwei Funktionen: Es setzt einerseits die rationale Auseinandersetzung dem Gefühlsüberschwang als ein Gleichgewicht gegenüber; gleichzeitig entlarvt es sich aber auch selbst, indem es die eigene Unzulänglichkeit zur Schau stellt. Der weißen Eiswüste ist eben nicht so einfach beizukommen mit Tropenhelm oder Stirnlampe.

Mittels Rückblenden in Familien- und Kindheitsszenen fügt Kames zeitliche Ebenen hinzu, wobei sie mit den Gattungen frei hantiert: mal dialogisch, mal lose rhythmisch geordnet, teils in Kaskaden, teils Zeile pro Zeile, Seite für Seite, mit viel Raum dazwischen, wird das Material arrangiert.

Man kann mit diesem Buch auf eine sinnliche Reise gehen. Dazu tragen auch in den Text eingestreute Kurz-Hörstücke bei, die das Geschriebene mündlich aufgreifen, variieren und musikalisch untermalen. Ein im Wortsinne Grenzen überschreitendes Buch, das vom Verlag übrigens ein Sonderformat und einen prächtig schillernden Leineneinband spendiert bekommen hat – und ein bemerkenswertes Debüt!

Maren Kames: Halb Taube Halb Pfau. Secession Verlag für Literatur, 150 Seiten, 35 €

Dieser Artikel erscheint zur Frankfurter Buchmesse 2016. Maren Kames stellt Halb Taube Halb Pfau an folgenden Terminen vor:

Mittwoch, 19. Oktober, 20 Uhr, Hessisches Literaturforum im Mousonturm: Debütantenball Deluxe mit Maren Kames, Stephan Reich, Philipp Winkler, Julia Wolf

Freitag, 21. Oktober, 17 Uhr, Open Books im Frankfurter Kunstverein: Junges Doppel II mit Bastian Asdonk und Maren Kames

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Under A Rock

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Drei Alben des Frühjahrs, auf die man sich freuen kann, und eins, das schon da ist.

Leise und zaghaft hat es sich angekündigt, dann aber zuverlässig den Weg in die Gehörgänge aller Redaktionen von Stereogum bis ZEIT ONLINE gefunden: Carrie & Lowell, das neue, sehr autobiographische Album von Sufjan Stevens, der sich im Unterschied zu groß produzierten Vorgängern wie The Age of Adz hier fast ausschließlich auf sanfte Gitarren und seine unverkennbare Singstimme verlässt, die zerbrechlich klingt wie nie. Anspieltipp: Der Titeltrack „Carrie & Lowell“.

 

Mit Pomp und Überproduktion dagegen kennen sich Best Coast aus – da war der Wechsel zum Majorlabel keine Überraschung. Für Mai ist California Nights angekündigt, der Titeltrack legt noch einmal eine Schicht Gitarrenwände über den Sound des Vorgängers The Only Place. Phil Spector lässt grüßen; freilich hörenswert macht auch das neue Material die dieser Band so eigene Mischung aus Inhaltsleere und hochhausgroßem Pathos.

https://vimeo.com/120504672

 

Über den Sound definieren sich natürlich auch Thee Oh Sees sehr stark als Tüftler in den Sixties-Psych-Rock-Laboren und paranoid-schizophrenem Textgut. Mutilator Defended At Least ist da schon ein vielversprechender Albumtitel (ET ebenfalls Mai), das Artwork (siehe oben) lässt Bedrohliches erahnen. Als Vorbote wurde „Web“ ins (pun intended) Web versandt; zufriedenstellend schon einmal der wieder etwas rauere Sound, nachdem beim letzten Album Drop fast schon so etwas wie eine Produktion zu erahnen war.

 

Die Mischung macht’s: Garage/Indiewurzeln und das richtige Händchen fürs Hymnische findet man bei Katie Crutchfields alias Waxahatchee in trefflichster Kombination. Ihr kommendes Album Ivy Tripp ist, wenn man den bereits geleakten Stücken folgen darf, ein konsequenter Schritt in Richtung Weiterentwicklung und Perfektionierung eines unwiderstehlichen Musikkonzepts – nur zu schade, dass wieder einmal Plattenlabel/Rechtverwerter deutschen Hörern einen Strich durch die Rechnung machen, was den Vorabstream angeht: Der ist (via NPR/NME) in ganz Nordamerika und Europa hörbar – nur wieder einmal in this region nicht.

Look at the fire and think of me

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Mit großer Geste zurück auf der Bildfläche: Purity Ring, die Erfinder des Begriffs lullabies for the club, sind wieder da – und lauter als je zuvor.

Nach zahllosen Remixes und dem dazwischengeschobenen Soulja-Boy-Cover „Grammy“ greifen Megan James und Corin Roddick in der neuen Auskopplung „Begin Again“ kräftig in die Synthesizer. Nach dem rhythmisch eher vertrackten „Push Pull“, dem ersten Vorboten des neuen Albums Another Eternity, das kommende Woche bei 4AD erscheint, geht hier die Kombination von esoterisch-versponnenen Texten und höhenbetonter, dichter Produktion genau auf. Gar nicht mehr so verschlummert – und auch das Artwork, das wieder Illustratorin Tallulah Fontaine übernommen hat, die auch schon den Vorgänger Shrines gestaltete, sieht gar nicht mehr so nach Mitternacht aus, sondern eher nach rosig-frühem Frühlingsmorgen. Time to wake up!

We are sufficiently impressed

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Wie Arcade Fire auf Opium: Viet Cong zerlegen das noch junge Jahr mit nur sieben Tracks fein säuberlich in seine Einzelteile.

Brutalistischer Höhepunkt des selbstbetitelten Debütalbums der Band aus Calgary, Alberta, die sich aus den Trümmern der aufgelösten Women zusammengefunden haben, ist das ungefähr ab Minute 6:40 einsetzende, in Dauerschleife hämmernde Schlagzeugdonnern im Schlusstrack „Death“, der das Album in einem atonalen Gewitter zu beschließen scheint, bevor nach zwei Minuten Dauerbeschallung noch einmal der treibende Rhythmus und abgehackte Gesang vom Anfang einsetzt.

Dieses Vorgehen beschreibt schon ziemlich gut den dramaturgischen Aufbau dieses sehr klug komponierten Albums, das zwar durchweg harte Töne anschlägt, aber immer wieder durch spontane Wechsel zwischen purem Geräusch und gefühlvoller Melodie, exorzistischem Austoben und stupendem Innehalten, lustvoller Irritation und anbiedernder Gefälligkeit überrascht. So im in der Mitte des Albums positionierten „March of Progress“, der mit einem fast White-Noise-artigen Intro loslegt, dann in einen kinderliedhaften Gesang, unterlegt von einer übersteuerten Harfe, übergeht und schließlich in einen mitreißenden Sturzbach von Synthesizern mündet, bei dem tatsächlich nicht viel zur Arcade-Fire-Theatralik fehlt. Als weitere Referenzen, vor allem aus dem Post-Punk-Bereich, wurden bereits Bauhaus, Joy Division und Interpol benannt – nur dass hier von allem noch ein bisschen mehr noch ein bisschen dicker aufgetragen wird. Man sollte dieses Album laut hören und unbedingt verfolgen, wie es mit dieser Band weitergeht. Die ersten Deutschlandkonzerte sind bereits ausverkauft.

 

Viet Cong: Viet Cong, Jagjaguwar, 2015, 36:04 Min., ca. 10 €

Der Film des Jahres: Metalhead

metalhead

Den schwergewichtigen Titel der englischsprachigen Fassung dieses isländischen Films entkräftet schon das Poster, das eben nicht den typischen Heavy-Metal-Hünen zeigt, sondern ein junges Mädchen im Black-Metal-Look.

Überhaupt stellt Ragnar Bragason hier einige Klischees auf den Kopf und schafft es, dem scheinbar auserzählten Thema „harte Musik als Identifikationsmerkmal für Außenseiter“ eine neue Seite abzugewinnen. Wunderbar wird das Touristenidyll Island als die öde Provinz gezeigt, die es für Nicht-Touristen eben auch ist; berührend die Geschichte der Hauptfigur Hera erzählt, die nach dem Tod ihres Bruders dessen Heavy-Metal-Traum weiterlebt, auch wenn sie nur gerade so die E-Gitarre halten kann; urkomisch die Konfrontation der christlichen Gemeinde mit den neuen Klängen, als Hera ihre Band auf ein Kirchenfest mitnimmt. Metalhead schlägt als Island-, Musik- und Coming-of-age-Film drei Fliegen mit einer Klappe – unbedingt sehenswert!

 

Metalhead (OT: Málmhaus), Mystery Island 2014. Regie: Ragnar Bragason, Darsteller: Þorbjörg Helga Dýrfjörð, Ingvar E. Sigurðsson, Halldóra Geirharðsdóttir. Länge: 97 Min.