Weihnachten mit Wurzelspitzenresektion

Was passiert hier? Eine Familie feiert Weihnachten, aber alle tragen Handschellen. Ein Erzähler namens Maruan führt ein Gespräch mit seinem Therapeuten, Herrn Doktor Gänsehaupt, und kündigt an, einen Mord gestehen zu wollen.

Maruan Paschens zweiter Roman ist ein großes Verwirrspiel. Äußerlich hat er alle Anlagen zu einem klassischen Familienroman: Die Familie trifft sich an Weihnachten, man erinnert sich gemeinsam an vergangene Zeiten. Tatsächlich unterläuft er aber diese Absicht, so gut er nur kann. Zumindest in der Art, wie er erzählt: Denn um Familiengeschichten geht es durchaus. Nur wird hier so haarsträubend irrwitzig, abschweifend und dann wieder manisch detailliert mit- und durcheinandergesprochen, dass man am Ende gar nicht mehr weiß, wem man was glauben soll.

Zwischenzeitlich wird auch das Mittel der Skizze zur Hilfe genommen, etwa zur Beschreibung einer Wurzelspitzenresektion. Dann erinnert sich der Erzähler zurück an Episoden aus seiner Kindheit und Jugend und eine Liebesbeziehung, die nur einen Kaufhausbesuch lang hielt. Diese zählt zu den komischsten Episoden von Weihnachten. Die vielleicht traurigste ist die Geschichte, wie der Erzähler-Maruan einem Kind im Flugzeug aufgrund eines Missverständnisses das Leben rettet – und dieses aber nach der Notlandung doch im Krankenwagen stirbt.

maruan-paschen

Foto: Julia von Vietinghoff

Maruan Paschen ist, das war schon in seinem ersten Roman Kai so, eigentlich eher am Erzählvorgang als solchem als am geraden Herauserzählen einer Geschichte interessiert. Mit welchen Worten wird was beschrieben? Traue ich mir selbst beim Erzählen über den Weg? Kann man überhaupt die Wahrheit erzählen? „Familie ist wie eine Mauer“, heißt es an einer Stelle, „Familie ist wie ein Pflaster“ an einer anderen. Diese Familiengeschichte, in ihrer ganzen Zersplittertheit und ihren verwirrenden Konstellationen, ist vielleicht die ehrlichste, die seit langem geschrieben wurde.

Maruan Paschen: Weihnachten. Matthes & Seitz Berlin, 196 Seiten, 20 €

konkret erweitert

Es ist wohl die meistdiskutierte Hauswand der jüngeren Literaturgeschichte: Mittlerweile prangt an der Alice-Salomon-Hochschule Barbara Köhlers Gedicht „Sie bewundern“ und hat die vielgescholtenen „Avenidas“ von Eugen Gomringers ersetzt.

Mit ungleich weniger Lärm hat sich der Reclam Verlag nun zusammen mit Eugen Gomringer an eine Neuauflage der selbst schon Klassiker gewordenen Anthologie konkrete poesie gemacht, die erstmals 1972 erschienen ist. Und das ist ganz erfreulich: Die ursprünglich ausgewählten siebzehn Autoren von Friedrich Achleitner bis Wolf Wezel wurden nicht angetastet, was auch wirklich schade z.B. um die wunderschönen Textgebilde von Claus Bremer wäre, hinzu kommt aber ein ganzer Schwung neuer Gesichter: Michael Lentz und Cia Rinne dürften dabei für Lyrik-Leser die bekanntesten sein, Ute Bernhard, Friedrich W. Block, Ferdinand Kriwet und Axel Rohlfs hatten bisher eher Berührungspunkte im Kunstbetrieb oder der visuellen Kommunikation, Ingrid Isermannn und Volker Roman Seitz dürften am ehesten zu den dark horses zählen.

Auszug aus Hannes Bajohrs „Erotica“

Besonders aber die Aufnahme des für seine konzeptuelle, dem Digitalen verpflichtete Lyrik Hannes Bajohrs ist erfreulich: Hier zeigt sich ein Anknüpfungspunkt für die Konsequenz und Zukunftsfähigkeit der Form, Unkenrufen wie etwa dem von Michael Braun zum Trotz.

Eugen Gomringer (Hrsg.): konkrete poesie. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Reclam Verlag 2018, 271 Seiten, 8,80 €

Körper, Stimme, Raum

Mit oder ohne Requisiten, in unterschiedlichsten Räumen, akustisch oder mit Technik: An drei Abenden loteten Autorinnen und Autoren beim Festival KOOK.MONO die Grenzen der Sprachperformance aus.

Michael Fehr braucht gar keine Hilfsmittel. Nur geleitet von einem Spot durchmisst er mit großen Schritten den Tanzboden des Dock 11 und versetzt nur durch das Erzählen mit heiserer Stimme die Zuhörerinnen und Zuhörer in eine dunkle Waldszene. Rike Scheffler hat ein ganzes Set mit Loopstation, Mischpult und zwei Mikrofonen aufgebaut und baut im ausland live eine Audiocollage zusammen, die auf den Klängen eines Wasserglases basiert.

Die Soundanlage von Rike Scheffler

Wie sich Geschriebenes zu Gesprochenem verhält, und was Stimme überhaupt ist, darum kreisen im Anschluss an jedem Abend ausführliche Nachgespräche. Festzuhalten ist: Jede der in der Lettréteage, im Dock11 oder im ausland zur Aufführung kommenden Performances hat ihre eigene, intensive Atmosphäre. Ob hypnotisch, wie in Enis Macis Essay über die Geschichten ihres Großvaters, oder exotisch-botanisch wie bei Sonja vom Brocke, die während ihrer Lesung Pflanzennamen aneinanderreiht und auf anregend-erregende Weise den biologischen Prozess der Photosynthese beschreibt. Von einer abgespaceten Lecture-Performance im Samenspeicher bei Daniel Falb auf Spitzbergen bis zum Sprechtext über Teufel im Leipziger Pflegeheim bei Martina Hefter: Die Bandbreite war groß, die Themen höchst unterschiedlich. Gemeinsamkeiten gab es aber auch: Die Nähe von Vortrag und Gesang rückten Enis Maci, Senthuran Varatharajah und Rike Scheffler gleichermaßen in den Vordergrund, bei Max Wallenhorst auch in der Form von Verzerrung und als bisweilen komischen Verfremdungseffekt. Christiane Heidrich war ausschließlich aus den Bluetooth-Boxen zu hören, die sie mit robotergleichen Bewegungen durch den Raum trug. Das vorab aufgenommene Gedichtmaterial war von einem mechanisch-montonen Tonfall, die Szenerien kühl und futuristisch. Die Abwesenheit des Sprechers und Loslösung der Stimme vom Körper wiederum demonstrierte der Vortrag von Senthuran Varatharajah und Trang Tran Thu, der zeitweise im komplett abgedunkelten Raum nur über Lautsprecher zu hören war.

Requisiten (Teufel) von Martina Hefter

Als vertrackt erwies sich der Beitrag von Mara Genschel: Mit einem eigens produziertem „Hilfsbuch“ legten sie dem Publikum den Text ihrer Performance vorab vor. Der Vortrag selbst wiederum war eine Reflexion über das öffentliche Sprechen, das Memorieren von Text, und das Misslingen des Ganzen. Dementsprechend vorgeführt wurde das Ganze dann unter Mithilfe des Publikums, das Stichworte in den Raum rief, wenn die Autorin im Text nicht weiterwusste.

Die Elemente Körper, Stimme und Raum wurden bei KOOK.MONO immer wieder neu verhandelt, miteinander verknüpft oder auseinanderdividiert. Das Festival erwies sich dabei als Labor für die Erprobung neuer Performance-Formate, die unter allen Beteiligten eine große Dynamik freisetzten.

Fixpoetry hat zum Nachlesen Textauszüge der Beteiligten online gestellt: Sonja vom Brocke, Daniel Falb, Michael Fehr, Mara Genschel, Martina Hefter, Christiane Heidrich, Tabea Xenia Magyar, Rike Scheffler, Anja Utler, Senthuran Varatharajah und Max Wallenhorst. Beim Merkur gibt es außerdem drei empfehlenswerte Essays von Veranstalterin Josepha Conrad sowie Martina Hefter und Senthuran Varatharajah. In Berichten und Interviews begleitet hat das Festival Sirka Elspaß im Veranstaltungsblog auf kookverein.de.

Literatur als Herausforderung

David Foster Wallace Reader, erschienen bei Little, Brown & Co.

Ein Beispiel für Literaturkritik, auf die ich persönlich verzichten kann: Christiane Frohmanns Generalabrechnung mit David Foster Wallace anlässlich seines zehnten Todestages gestern.

Ein Gastbeitrag von Paul Brodowsky

Die Idee, dass im Namen und unter Hochhalten von „DFW“ eine Menge von jungshaftem Literaturdistinktionsquatsch betrieben wird, hat mich schon vor eineinhalb Jahren über amerikanische feministische Bloggerinnen erreicht – das konnte ich damals nachvollziehen und kann ich auch heute noch. Ähnlich wie beispielsweise Deirdre Coyle macht sich Frohmann für einen anderen Kanon, für Bücher von diversifizierteren, weiblicheren Schreibenden stark. Etwas daran ist tatsächlich überfällig, und Kritik an Lit-Bros würde ich immer teilen (z.B. auch in der Spielart von „Dirk“ in einem Text von Maren Kames).

Aber anders als bei Coyle, die sich mit Wallace differenziert auseinandersetzt und deren Einschätzungen ich nachvollziehen kann (wenngleich ich sie nicht alle unterschreiben würde), gibt es bei Frohmann eigentlich keine Argumente gegen die Texte von Wallace außer dem einen, den Autor von dem Rezeptions- und Distinktionsverhalten seiner dümmsten Leser her zu bewerten. (In dem Sinne will ich sogar Murakami vor Frohmanns Lesart schützen, der so viel mehr kann, als nur schöne, einfache Sätze fürs „Team Muramaki“ schreiben.)

Das anderthalbte, mit dem ersten verwandte Argument, Wallaces Sätze seien zu kompliziert, weil sie Leser und Leserinnen außen vor halten, finde ich eigentlich noch ärgerlicher: Aufgabe von Literatur (oder Kunst) ist meiner Meinung nach nicht, zugänglich zu sein. (Eine Autorin/ein Autor kann sich selbstredend für Zugänglichkeit entscheiden, das Gegenteil muss aber auch immer möglich sein, zumindest dann, wenn die komplexe Form den Gegenstand adäquat abbildet, was ich bei David Foster Wallace durchgängig so beschreiben würde.) Ich glaube an Literatur als Herausforderung, nicht an Texte, die uns seicht beschallen.

David Foster Wallace hat zu kurz gedacht, er hat nicht bedacht, dass man primär nicht denken, sondern umsehen lernen muss. Nicht nur sich vorstellen lernen, dass etwas auch anders sein könnte, sondern dass man sich manches gar nicht vorstellen kann, weil man nicht gelernt hat, es wahrzunehmen.

Wallace vorzuhalten, er habe zu viel gedacht, streift für meine Begriffe schon das unfreiwillig Komische. Und der Vorwurf des unsensiblen, selbstbezogenen Autors führt bei David Foster Wallace fundamental am Gegenstand vorbei: Ich kenne wenige Schreibende der letzten hundert Jahre, die über mehr Empathie verfügen, (und zudem selbst-reflexiver und -kritischer vorgegangen sind). Freilich wird diese Empathie (gepaart mit einer modernen Oberflächenkälte) in jede Richtung funktionabel gemacht, auch für die auftretenden Sexisten, rassistischen Arschlöcher, idiotischen Präsidenten etc. Aus dieser entlarvenden und immer auch dekonstruierten Rollenprosa in oberflächlicher Lesart dem Autor einen Strick drehen zu wollen finde ich mindestens unterkomplex. Empathie ist nicht nur der Glutkern von David Foster Wallaces Prosa, sondern auch sein erklärtes Programm (etwa in „This Is Water“).

Vor allem aber tappt Frohmann selbst in die Lit-Bro-Falle: Literaturkritik als Distinktion, in dem Fall unter Hochhalten von ein paar Ikonen feministischer Literatur. Don’t get me wrong: Ich finde auch, man sollte bei jeder Gelegenheit auf gute Autorinnen aufmerksam machen, sie werden leider immer noch viel zu wenig rezipiert. Klar kann man sich zehn Jahre nach dem Tod des Autors hinstellen und sagen: Von heute aus gesehen fehlen mir da ein paar eindeutig feministische Markierungen in dem Werk von David Foster Wallace. Aber drive-by-Kritik nach Oberflächenmarkern und wechselseitiges Sich-Abklatschen unter diskursiv Einverstandenen anstelle von Auseinandersetzung finde ich wenig hilfreich.

Paul Brodowsky wurde 1980 in Kiel geboren. Sein Erzählband Die blinde Fotografin erschien 2007 im Suhrkamp Verlag. Neben Prosa schreibt er auch Theaterstücke, zuletzt waren Regen in Neukölln an der Berliner Schaubühne und Intensivtäter am Theater Freiburg zu sehen.

Marx, aber als Zombie gedacht

In den USA hat die Zeitschrift Jacobin dem guten alten Klassenkampf ein modernes Image verliehen. Jetzt kann man ausgewählte Texte auch auf Deutsch lesen – in einer Anthologie und einem neuen Online-Magazin.

Jacobin war im Gründungsjahr 2010, wie Loren Balhorn, einer der aktuellen Redakteure, es beschreibt, „ein zu jener Zeit bescheidener Versuch, sozialistische politische Vorhaben so darzustellen, dass sie für Millionen Amerikaner, die unter wirtschaftlicher Stagnation, einer erdrückenden Schuldenlast und einem allgemeinen Gefühl des politischen Unbehagens litten, verständlich und relevant sein würden.“ Damit war die Zeitschrift zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Gerade formierte sich die Occupy-Bewegung, eine von Barack Obamas Sozialpolitik enttäuschte Linke spürte neuen Auftrieb.

Eine erste Bilanz von fast zehn Jahren Jacobin zieht die nun erschienene, gleichnamige Anthologie, die als schöner Sonderdruck in der edition suhrkamp vorliegt. Sie lädt zum Vertiefen ein in Themen wie Identitätspolitik, Marx, aber als Zombie gedacht, Donald Trumps Weg zur Macht und Bernie Sanders‘ Sicht auf den demokratischen Sozialismus.

Im selben Atemzug gibt es nun aber auch die Möglichkeit, aktuelle Beiträge aus Jacobin im neu gegründeten, deutschsprachigen Online-Magazin Ada zu verfolgen, das die mitunter sehr auf die USA fokussierten Inhalte wiederum um Originalbeiträge erweitert, die auch für einen deutschsprachigen Leserkreis interessant sind – eine Kooperation, die für spannenden Einblicke sorgen könnte.

Loren Balhorn, Bhaskar Sunkara (Hrsg.): Jacobin. Die Anthologie. Edition Suhrkamp Sonderdruck, 311 Seiten, 18 €

Das Ada Magazin, herausgegeben von Antje Dieterich & Ole Rauch, ist online zu finden unter www.adamag.de

Berlin-Tipp: Die Release-Veranstaltung zur Jacobin-Anthologie findet am Freitag, den 14. September um 20 Uhr im aquarium am Südblock in der Skalitzer Straße 6 statt.

Da kiekste, Spirou!

Wer Fan der Spirou & Fantasio-Alben von André Franquin ist, wird sich über die Wiederbelebung eines der großen frankobelgischen Comic-Klassiker freuen. Mit Spirou in Berlin gibt es nun das neueste Beispiel dafür.

Nachdem es Ende der neunziger Jahre etwas still um die Abenteuer des immerhin schon 80 Jahre alten Hotelpagen und seiner Freunde Fantasio, dem Eichhörnchen Pip und den Grafen von Rummelsdorf geworden war, hat die Serie mit dem neuen Autorenteam Yoann und Vehlmann wieder neuen Schwung bekommen – seit 2006 gibt es nun außerdem die neue Reihe der „One-Shots“, in der wechselnde Autorenteams eigenständige, vom Serienverlauf losgelöste Abenteuer erzählen dürfen. Auf Deutsch im Carlsen Verlag in der Reihe „Spirou & Fantasio Spezial“ erschienen, kann man sich so beispielsweise ins von den Nazis besetzte Belgien versetzen lassen, in der Oliver Schwartz und Yann anspielungsreich ungleich realistischere Geschichten zu erzählen haben, die auf die realen Begleitumstände der Entstehung des ursprünglichen Comics und Zeitgenossen wie etwa Hergé verweisen.

Jetzt hat sich in einer schon etwas außergewöhnlichen Kooperation der Spirou-Verlag Dupuis mit dem deutschen Carlsen Verlag zusammengetan und zum ersten Mal die Möglichkeit für ein Spirou-Abenteuer geschaffen, das nicht nur in Berlin spielt, sondern von Carlsen-Autor Flix geschrieben und gezeichnet wurde.

Während das von Yoann und Vehlmann kreierte Weltkriegs-Szenario deutlich härter und düsterer, wenn auch nach wie vor mit der typischen Spirou & Fantasio-Komik ausgestattet ist, nähert sich Flix einer anderen geschichtlichen Epoche mit deutlich mehr Leichtigkeit an: Im Jahr 1989 geht der Graf von Rummelsdorf in Ost-Berlin auf einem angeblichen Mykologie-Kongress verloren. Natürlich steckt hinter der nebulösen Einladung, der er gefolgt ist, etwas anderes. Niemand geringerer als Fantasios böser Cousin Zantafio hat seine Finger im Spiel, sein Plan: Das Währungsproblem der maroden DDR mit einer so einfachen wie genialen Erfindung lösen. Über abenteuerliche Wege werden Spirou & Fantasio getrennt, trainierte Affen kommen zur Hilfe, ebenso wie eine Widerstandsgruppe, die den Berliner Untergrund kontrolliert.

Flix hat seine Helden mit sehr viel Liebe fürs Detail in die Spätphase der DDR versetzt, lässt sie legendäre Orte wie das Palasthotel und den Fernsehturm erkunden, setzt den Ostalgie-Faktor dabei aber nur sparsam ein, was ein angenehmes Gefühl der Vertrautheit bei der Lektüre garantiert. Die etwas pausbäckige Gestalt seiner Figuren, die etwas kindlich anmutet, setzt einen klaren Akzent auf den komischen Charakter der Geschichte.

Insgesamt kann das Projekt Spirou goes Berlin überzeugen: Die Handlung ist rasant und voller irrer Wendungen, Einfälle wie eine Belüftungsföhre, die quer die Panels durchkreuzt, machen auf auch der gestalerischen Ebene Spaß. Einziger Wermutstropfen: Eine französische Übersetzung ist laut Verlagsangaben noch nicht in Planung. Die Reaktionen der Spirou-Leser in Belgien und Frankreich werden also wohl noch etwas auf sich warten lassen müssen.

Flix: Spirou in Berlin. Carlsen Verlag, 64 Seiten, 16 €

Anpfiff für die Hotlist 2018

Pünktlich zum Finale der diesjährigen Fußball-WM hat sich auch das Kuratorium der Hotlist zusammengesetzt, um die besten Bücher aus Independent-Verlagen des Jahres 2018 zu ermitteln.

Das Schöne bei der Hotlist, einem Preis, der gleich den ganzen Verlag mitauszeichnet: Hier haben eigentlich schon alle gewonnen. So ist die Top 30 mit guten Bekannten und spannenden Newcomern gleichzeitig ein Reiseführer und Lesekompass durch den Neuerscheinungs-Dschungel. Auf die zehn daraus destillierten Kandidaten, die alle am 12. Oktober im Rahmen der Hotlist-Party im Literaturhaus Frankfurt vorgestellt werden, wird dann ein regelrechter Preisregen niedergehen: Der Preis der Hotlist (dotiert mit 5000 Euro), der Melusine-Huss-Preis (Qualitätsdrucken bei Theiss im Wert von 4000 Euro), neu der Dörlemann ZuSatz (Satzarbeiten im Wert von 1500 Euro bei Dörlemann) und eine Einladung zur BuchLust Hannover. Nicht nehmen lässt sich die Presseerklärung die forsche Ankündigung: „Weitere Preise sind in Vorbereitung“.

Mitvoten für die Zehner-Liste kann ab sofort auch jede*r online, aus den Publikumsstimmen werden dann drei Hotlist-Plätze fix vergeben.

Einen genaueren Blick wert sind in jedem Fall diese drei Titel: Martina Hefter mit Es könnte auch schön werden (Kookbooks), in dem der Blick in ein Altersheim als ein Sprech-Lehrstück verarbeitet wird, das vor bizarrer Schönheit glänzt; Francis Nenik mit Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert (Voland & Quist), wo Geschichte erzählt wird, wie man es wohl noch nie erlebt hat, rasant, subjektiv und witzig; Bettina Wilpert mit Nichts, was uns passiert (Verbrecher Verlag) über die Geschichte eines Verdachts, der eine ganze Uni-Clique spaltet.

Zum 10. Mal: Die Wahl zur Hotlist 2018. Preisverleihung am 12. Oktober im Literaturhaus Frankfurt. Online-Voting bis zum 20. August.

Have you forgotten how to say please?

Gerade einmal fünf Songs hat die EP Thrush Metal von Stella Donnelly, aber das reicht ihr schon, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Von der Wut auf aufdringliche Männer („Mechanical Bull“), der Verdrehung von Täter- und Opferrolle bei sexueller Gewalt („Boys Will Be Boys“) und toxischen Beziehungsmechanismen („Mean To Me“) singt Stella Donnelly, begleitet nur von einer E-Gitarre – ihr bestes Instrument ist aber ihre Stimme, mit der sie laut und deutlich Stellung bezieht. Musikvideos gibt es bereits zu „Mechanical Bull“ und „Mean To Me“. Soeben ist die zuerst bei einem kleinen australischen Label auf Kassette erschienene EP bei Secretly Canadian mit einem Bonustrack auf Vinyl neu veröffentlicht worden – definitiver Musiktipp für alle Mansplainer und toxischen Maskulinisten!

Stella Donnelly: Thrush Metal. Secretly Canadian, ca. 21 Minuten, ca. 12,99 €

Ich schnallte in Grimme meinen Tornister

Vom 8. bis zum 11. Mai 2017 hielt Ann Cotten drei Vorlesungen im Rahmen der Stefan-Zweig-Poetik-Dozentur der Stadt Salzburg. Gesammelt herausgegeben unter dem Titel „Was geht“ hat sie nun der Wiener Sonderzahl Verlag.

So kommt zu dem hübsch verteilten Oeuvre Ann Cottens, das neben Suhrkamp nun inzwischen u.a. bei Peter Engstler, Broken Dimanche Press und Starfruit Publications vorliegt, ganz nebenher ein weiterer Verlag hinzu; viel spannender aber ist das Thema, das sie gewählt hat: Dieses folgt nämlich wortwörtlich dem Titel, es geht ums Spazierengehen, genauer: „Um die Tücken des Spazierengehens, um die Tücken des ‚Anderen‘ und um die Probleme des langen Wegs“.

Ann Cotten (Foto: Suhrkamp Verlag)

Es ist faszinierend, beim Lesen diesem eigentümlichen Zustand zwischen Tun und Nichtstun nachzuspüren, einer Bewegung des bewussten Sich-Entfernens im gleichzeitigen Bewusstsein über die Nutzlosigkeit dieser Bewegung. Ausführlich zu Wort in langen Zitaten kommen Fernando Pessoa, Rainer Maria Rilke, Robert Walser, der Taugenichts von Joseph von Eichendorff, später natürlich Peter Handke, Thomas Bernhard und aus dem englischen Sprachraum Bruce Chatwin, D.H. Lawrence und Malcolm Lowry. Ein kleiner Exkurs beschäftigt sich mit den Vorzügen des Reimens und die Kunst der Mnemotechnik, als deren Meister Bert Papenfuß mit einem langen Gedicht ins Spiel gefeiert wird. Am Ende steht das Problem des „langen Wegs“: Gibt es Auswege aus dem Neoliberalismus? Welche Abkürzung führt zum Ziel? Gibt es immer nur zwei Möglichkeiten, oder auch einen dritten Weg („beim Schachspielen das Brett einfach umwerfen“)? Die sprunghaften Gedanken und Assoziationen Ann Cottens federt das ausführlich zitierte Textmaterial immer wieder gut ab, so auch gegen Ende ein großer Spaziergänger der Weltliteratur, Johann Gottfried Seume aus dem Spaziergang nach Syrakus im Jahr 1802:

Ich schnallte in Grimme meinen Tornister, und wir gingen. Eine Karawane guter gemütlicher Leutchen gab uns das Geleite bis über die Berge des Muldentals, und Freund Großmann sprach mit Freund Schnorr sehr viel aus dem Heiligtume ihrer Göttin, wovon ich Profaner sehr wenig verstand. Unbemerkt suchte ich einige Minuten für mich, setzte mich oben Sankt Georgens großem Lindwurm gegenüber und betete mein Reisegebet, daß der Himmel mir geben möchte billige, freundliche Wirte und höfliche Torschreiber von Leipzig bis nach Syrakus, und zurück auf dem andern Wege wieder in mein Land; daß er mich behüten möchte vor den Händen der monarchischen und demagogischen Völkerbeglücker, die mit gleicher Despotie uns schlichten Menschen ihr System in die Nase heften, wie der Samojete seinen Tieren den Ring.

Ann Cotten: Was geht. Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesung. Sonderzahl Verlag, 180 Seiten, 18 €

Poesie gegen rechts oder was?


Jörg Albrecht, Gerhild Steinbuch, Thomas Arzt, Sandra Gugić (Foto: Sabrina Richmann)

Vom 14. bis zum 17. Juni verwandelt sich das Ballhaus Ost in Berlin Prenzlauer Berg in einen gigantischen Think Tank: Unter dem Motto „Ängst is now a Weltanschauung“ hat das Künstler*innenkollektiv Nazis & Goldmund über 40 Autor*innen, Publizist*innen, Blogger*innen und Künstler*innen aus anderen Bereichen zum Diskurs geladen.

Drei Gesprächs- und Arbeitsgruppen werden die Konferenz grob strukturieren, Input liefern ihnen Keynote Lectures von Olga Flor, Kübra Gümüşay und Reinhard Olschanski. Für weitere Inspiration sorgen Keynote Lectures, etwa von Kathrin Röggla und Fiston Mwanza Mujila. Ansonsten soll über die drei Tage hinweg aber frei und dezentral zusammengekommen und nachgedacht werden: Morgens beim Yoga in der „Ängst-Detox-Session“, abends beim DJ-Set mit Thomas Meinecke oder dazwischen bei Livestream Lectures per Skype und Diskussionen zum Umgang mit den Identitären.

Programmheft zur Konferenz (Foto: Sabrina Richmann)

Teilnehmer Fiston Mwanza Mujila (Foto: Sabrina Richmann)

„Im Zentrum steht die Sprache“, so die Konferenzmacher*innen Jörg Albrecht, Thomas Arzt, Sandra Gugić, Thomas Köck und Gerhild Steinbuch. „Wie können sich Kunst und Literatur angesichts des Vormarschs der Neuen Alten Rechten und ihrer Vereinnahmung von Sprache verhalten? Die Konferenz ruft zur Auseinandersetzung mit diesem Übergriff auf, sucht nach Möglichkeiten einer gemeinsamen Sprache und bietet Raum, um aus dem künstlerischen Einzelkämpfer*innendasein herauszutreten und kollektive Prozesse in Gang zu setzen.“

Ängst is now a Weltanschauung. Eine Literaturkonferenz zur Erosion des Demokratischen. 14. bis 17. Juni 2018, Ballhaus Ost, Pappelalle 15, 10437 Berlin. Eintritt 10 € für alle Konferenztage.

Klarstellung: Der Autor ist als Social Media Koordinator in die Konferenz eingebunden.