Einmal werde ich nicht mehr sein, und keiner wird die Wiese mähen, das Unterholz wird in sie einwachsen, und später wird der Wald bis zur Wand vordringen und sich das Land zurückerobern, das ihm der Mensch geraubt hat. Manchmal verwirren sich meine Gedanken, und es ist, als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken. Und der Wald will nicht, daß die Menschen zurückkommen.
Mich fasziniert die dystopische Vorstellung, dass die Natur sich irgendwann alles zurückholt. In Marlen Haushofers Roman „Die Wand“, der erstmalig bereits 1963 veröffentlicht wurde, geht es aber um noch viel mehr als diese Naturmacht, zu überleben, egal, was der Mensch mit dem Planet Erde anstellt.
Inhaltlich
Die namenlose Protagonistin sieht sich eines Morgens im Gebirge einer durchsichtigen, undurchdringlichen Wand gegenüber. Bei ihr ist kein Mensch mehr, ihre Bekannten sind nicht vom Ausflug ins Dorf zurückgekehrt. Durch die seltsame Wand vom Dorf abgeschnitten bleibt die Frau nur mit dem Hund Luchs in einer Jagdhütte zurück. Hinter der Wand, die wie aus dem Nichts über Nacht auftauchte, sind alle Menschen und Tiere zu Tode versteinert. Man weiß nicht, was passiert ist.
Der Roman besteht aus dem Bericht dieser Frau, den sie schreibt, um nicht den Verstand zu verlieren und um ihre Angst zu besiegen. Zu ihr und dem Hund Luchs gesellen sich mit der Zeit eine Katze, die mehrfach Junge bekommt, die Kuh Bella und deren Nachwuchs „Stier“. Das Leben geht weiter auf ihrer Seite der Wand. Sie stellt sich den Herausforderungen des nackten Überlebens mit schwindenden Ressourcen, hackt Holz, baut Erdäpfel an, versorgt die Tiere, die zu ihren Freunden werden. Und immer wieder tauchen die Fragen in ihr auf, die sie sich stellen muss, auch wenn sie versucht, ihnen durch Arbeit aus dem Weg zu gehen. Dadurch entstehen, neben den langen Beschreibungen des einsamen Überlebens auf dem Land, aus denen der Roman überwiegend besteht, philosophische Gedanken:
Die Zeit ist groß, und immer noch gibt es Raum in ihr für neue Kokons. Ein graues unerbittliches Netz, in dem jede Sekunde meines Lebens festgehalten liegt. Vielleicht erscheint sie mir deshalb so schrecklich, weil sie alles aufbewahrt und nichts wirklich enden läßt.
Wenn die Zeit aber nur in meinem Kopf existiert und ich der letzte Mensch bin, wird sie mit meinem Tod enden. Der Gedanke stimmt mich heiter. Ich habe es vielleicht in der Hand, die Zeit zu ermorden. (…) Im Grunde sind diese Gedanken ganz ohne Bedeutung. Die Dinge geschehen eben, und ich suche, wie Millionen Menschen vor mir, in ihnen einen Sinn, weil meine Eitelkeit nicht gestatten will, zuzugeben, daß der ganze Sinn eines Geschehnisses in ihm selbst liegt.
Haushofer schafft es in diesem Roman, keine Langeweile aufkommen zu lassen. Trotz des drögen Alltags der Protagonistin, der vermeintlich reizlosen Umgebung (aus Sicht eines Städters des 21. Jhds.) gelingt es der Autorin eindringlich eine Atmosphäre zu erzeugen, in der es um viel mehr geht: Es geht ums Überleben, um Natur, ums Alleinsein, ums Frausein, ums Menschsein. Um ein Was-wäre-wenn. Um den Tod, um Liebe und das, was das Leben ausmacht.
Deutlich! Undeutbar?
Da gibt es zwischendurch Sätze, die einen stutzig machen, ob es nicht doch auch eine selbstreflektive, psychologische Deutungsmöglichkeit der Wand gäbe: „Vielleicht war die Wand auch nur der letzte verzweifelte Versuch eines gequälten Menschen, der ausbrechen mußte, ausbrechen oder wahnsinnig werden.“ (S.101) Gerade dieses Offenlassen verschiedenster Auslegungsmuster gefällt mir gut. Selten hat mich ein Roman in dieser Hinsicht so nachdenklich gemacht. Durch die inneren Monologe der Protagonistin reflektiert der Roman heimlich über sich selbst. Zweifellos ist es ein Buch, dass man abendelang diskutieren könnte (Literaturkreis, Seminar, Schulunterricht…).
Der Roman „Die Wand“ ist ein hervorragendes Buch: Es hebt sich durch die Eindringlichkeit seiner Schilderung einer äußerst beklemmenden Situation hervor, es beinhaltet vielseitige Deutungsansätze (psychologisch, soziologisch, dystopisch, gesellschaftskritisch, feministisch, ökologisch, philosophisch) und es zeichnet sich durch eine einfache, aber ausgesprochen mitreißende Struktur aus. Was den Roman besonders macht, ist seine Intensität, die Eindringlichkeit, die erzeugte Atmosphäre und nicht zuletzt die unzähligen Fragen, die er im Leser aufzuwerfen vermag.
Lesen! Lesen?
Man könnte meinen, das in den 1960ern erschienene Buch könne veraltet daherkommen bspw. im Bezug auf gesellschaftliche Fragen. Es handelt sich aber tatsächlich um eine in sich geschlossene Geschichte von nach wie vor hoher Brisanz und Aktualität. Vielleicht ist es dennoch ratsam, sich nur dann auf das Buch einzulassen, wenn man ein ohnehin nachdenklicher Mensch ist. In der (mal etwas anderen) Besprechung hier heißt es: „Wir empfehlen dieses Buch ausschließlich Menschen mit Tiefgang, mit Zweifeln an „Werten“ der konsumgläubigen Gesellschaft und Menschen mit der brennenden Frage nach dem Sinn des Lebens.“
Übrigens:
Die Schriftstellerin Marlen Haushofer starb bereits 1970 im Alter von fünfzig Jahren an Krebs. Sie war eine interessante Persönlichkeit, die sich ganz der Literatur verschrieb; mit dem Leben zuweilen haderte und deshalb schrieb. Eine ausführliche Besprechung, die auch die biografischen Hintergründe der Autorin mit Bezug auf Daniela Strigls Biografie berücksichtigt, findet ihr bei Atalante.
„Die Wand“ wurde letztes Jahr von Julian Pölsler filmisch umgesetzt. Einen ansprechenden Vergleich und eine Reflektion zum Film hat Kef in ihrer Rubrik Kopf trifft Kino geleistet.
Marlen Haushofer: Die Wand, Roman, erstmalig erschienen 1963 bei dtv.
Was für ein Zufall, denn gerade gestern habe ich die Verfilmung des Romans gesehen. Und da muss ich Kef zustimmen, dass Martina Gedeck diese Figur der einsamen Frau ganz toll spielt. Der Film arbeitet sich an den Tagebucheinträgen entlang und so bleibt auch viel des Originaltextes erhalten. Und da wird deutlich, welch literarische Sprache Marlen Haushofer hier zum Erzählen der Geschichte genutzt hat. Das hat mir unheimlich gut gefallen, kein bisschen verstaubt, wie Du es ja auch geschrieben hast. Ich denke, hier lohnt es sich wirklich, einen Roman noch einmal zu lesen. Obwohl – die Atmosphäre des Filmes ist schon sehr, sehr bedrückend gewesen – und dabei habe ich noch gar nicht bis zum Ende geschaut.
Viele Grüße, Claudia
Den Film will ich mir auf jeden Fall auch noch ansehen. Andersherum finde ich es oft schwieriger, wenn man den Film und damit die Geschichte schon kennt, dann noch das Buch zu lesen. Umso schöner, wenn du das noch machst, es lohnt sich bestimmt. Meistens finde ich auch das Buch besser, weil es einfach mehr beinhaltet, wie zB beim „Wolkenatlas“.
Das Buch ist auch bedrückend, aber es hat mich nicht runtergezogen. Dieser Eindruck ist in Filmen vielleicht noch intensiver, weil da mehr Stimmung durch Musik etc und nicht nur durch Sprache und mentale Bilder vermittelt wird… LG Laura
Ein Buch, das ich unbedingt bald mal lesen möchte und mir hiermit bei dir reservieren würde 😉
Besonders die existentialistischen Ansätze interessieren mich hier sehr. Ich finde die Frage nach der Bedeutung der Wand hochspannend und diesen Konflikt Mensch-Natur. Oder ist dies gar kein Konflikt oder Gegensatz? Es klingt, so wie du es beschreibst, als würde die Autorin mit dieser Dialektik spielen, diese in den Mittelpunkt rücken. Als ginge es auch um Ent-fremdung und auch Rückkehr zur Natur … Sehr spannend. Spiegelt sich denn die Eindringlichkeit der Stimmung auch in der Sprachlichkeit wieder? Welche Worte findet Marlen Haushofer für diese bedrückende Atmosphäre? Wie empfandest du diese? … So viele Fragen … Wie immer 😉
Ich verrate mal nicht zuviel wenn du es noch lesen willst 😉 Du kannst es dir dann bei Gelegenheit gern leihen!
Aber zumindest kurz: Die Dialektik zwischen Mensch/Zivilisation und Natur wird schon thematisiert. Die Protagonistin ist in der Stadt, nicht auf dem Land groß geworden und muss erstmal lernen, wie man in der „wilden“ Natur überlebt, jagt, von welchen Pflanzen man sich ernähren kann, wie man vom Wetter abhängig ist usw. Sie lebt dort sehr intensiv mit der Natur, weil sie auch sonst nichts mehr hat. Es ist sehr interessant, wie sie sich dann mit der Zeit auch für „weltliche“ Dinge nicht mehr interessiert, wie Romane oder Zeitschriften sie langweilen und wie belanglos ihr das vorkommt. Es ist also schon ein (gezwungenes) Zurück-zur-Natur, was da stattfindet, aber nicht auf verkitscht-esoterische Weise, sondern ganz bodenständig und real. Das hat mich beeindruckt, auch wie es beschrieben ist, was da in ihr vorgeht in diesem Prozess.
Die Sprache habe ich nicht im Detail analysiert, aber der Autorin gelingt es auf jeden Fall, eine bedrückende Atmosphäre zu erzeugen. Es ist aber nicht so bedrückend, dass man denkt; warum gibt sie nicht einfach auf? Man ist sehr nah mit der Protagonistin, ist in ihren Gedanken eingeschlossen wie hinter einer Wand und erst, wenn man das Buch beiseite legt, stürmen eigene Gedanken auf einen ein. Daher kämpft man auch mit ihr ums Überleben und lässt sich nicht runterziehen. Zumindest ging es mir so.
Die Wortwahl ist eher schlicht als blumig, es gibt Beschreibungen der Umgebung, sodass man sich das Geschehen ziemlich präzise vorstellen kann. Dabei läuft die Sprache aber nicht Gefahr, zu trocken oder rein deskriptiv zu werden. Dadurch dass es immer auch um die Gefühle in der Frau geht, um ihre Gedanken, wird eine sehr eindringliche Nähe erzeugt. Die Worte haben eine Sog-Wirkung.