Jahr: 2013

Mitte des Winters

Mitte des Winters

Das Jahr geht zornig aus. Und kleine Tage
Sind viel verstreut wie Hütten in den Winter.
Und Nächte ohne Leuchten, ohne Stunden,
Und grauer Morgen ungewisser Bilder.

Sommerzeit, Herbstzeit, alles geht vorüber,
Und brauner Tod hat jede Frucht ergriffen.
Und andre kalte Sterne sind im Dunkel,
Die wir zuvor nicht sahn vom Dach der Schiffe.

Weglos ist jedes Leben. Und verworren
Ein jeder Pfad. Und keiner weiß das Ende,
Und wer da suchet, daß er Einen fände,
Der sieht ihn stumm und schüttelnd leere Hände.

Georg Heym

Friedrich Nietzsche: Die Krähen schrei’n

Die Krähen schrei’n

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt – entflohn?
Die Welt – ein Thor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg’, Vogel, schnarr’
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck’, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n,
Weh dem, der keine Heimat hat!

Friedrich Nietzsche

Wozu zahlen?

Ausganglage. Erst habe ich noch den Luxus der eReader Version der ZEIT gelobt, heute muss ich mich beschweren. Es geht dabei um ein Problem, das scheinbar jede große Tages-/Wochenzeitung hat: das Onlinestellen ihrer Printartikel.

Die FAZ, die SZ und die ZEIT hatten mich bereits als Abonnenten ihres Blattes und zwar in physischer Form (Abonnent und Blatt). Die SZ kostet (außerhalb Bayerns) 51,90 €, die FAZ (außerhalb Rödelheims) 49,90 € mit FAS 56,90 €, die ZEIT gibt es für umgerechnet 17,30 € (alles Monatspreise). Mein Vorteil liegt auf der Hand: ich bekomme das jeweilige Produkt,  meist bevor ich aufstehe, meist vergünstigt zu mir nach Hause geliefert. Wetter, (meine) Krankheiten und Befindlichkeiten stellen sich nicht zwischen mich und meine morgenliche Lektüre, solange ich es nur zum Briefkasten schaffe.

In meiner romantischen Vorstellung sitze ich also mit meiner Frau am Frühstückstisch, sie reicht mir den Politikteil, ich ihr im Gegenzug das Feuilleton. Entspannt und beglückt wohl informiert kann ich also mein Tagwerk beginnen, beim Starten meines Browers lachen mich auf meiner Startseite FAZ/SZ/ZEIT aber genau die Artikel an, die ich gerade las. Klar auf einem Bildschirm (finde ich nicht so cool), aber gratis (finde ich cool).

Dieses Problem taucht in zwei verschiedenen Ausprägungen auf.

Variante 1: Schon vor dem Wandel aufgrund der Dynamik des Internets, auch wenn dieser seit Jahren als der ständig beschworene Tod des Prints ausgemacht wird, waren die News der Tagespresse bereits während des Druckvorgangs veraltet. Bei vielen Nachrichten interessiert den Tageszeitungsleser aber nicht jedes Detail. Natürlich will er richtig und möglichst umfassend informiert werden. Viele Meldungen bleiben, entgegen dem beharrlich betonten Wandel, aber in ihrem Inhalt weitgehend statisch. Einzelheiten mögen sich ändern, der Kern der Nachricht bleibt. Für Hintergründe und Analysen ist meist sowieso längerer Vorlauf nötig um fundiert darüber berichten zu können. Diese werden in Kommentaren, Leitartikeln oder ähnlichem in den nächsten Tagen aufgearbeitet, quasi nachgereicht, falls überhaupt noch jemand Interesse zeigt, hier ist die Dynamik (der Zeit, nicht des Internets) wirklich der Tod (allerdings nur der Nachricht). Für rasche Veränderungen, Katastrophen- und Wasserstandsmeldungen war früher schon das Radio zuständig. Die Tagespresse wird also nicht dadurch obsolet, dass die Welt sich weiterdreht, denn eine Meldung veraltet nicht zwangsläufig innerhalb von 24 Stunden. Der Kauf der Zeitung nur ist überflüssig, wenn ich die Artikel 1:1 auch online abrufen kann.

Variante 2: Was macht die Artikel der Wochenzeitung aus? Hintergründe, Analysen, lange Reportagen, Besprechungen und Empfehlungen, nichts ist zwingend tagesaktuell. Meist wird, je nach Zeitung und politischer Großwetterlage, wird das Titelthema entsprechend angepasst. In Wahlkampfzeiten sind es aber nicht die Schilderung des Currywurstverzehrs von Grün- und Gartenbauminister X in Y, der morgen schon wieder in Z weilt um dort Weißwurst zu speisen (Sachen für die Tagespresse von Y und Z), sondern seine undurchsichtigen Geschäfte mit der Waffenlobby, die den Griff zur Wochenzeitung o.ä. Format lohnen lassen. Ob ich den Artikel zwei, drei Tage liegen lasse, lässt diesen nicht weniger aktuell werden, weil dessen Aktualität eine ganz andere Halbwertzeit als die der Tagespressennachricht hat.

Problem: Die Breaking News beziehe ich aus dem Netz, bezeichnenderweise meist vom selben Anbieter wie meine Printausgabe, bezeichnenderweise meist den gleichen Artikel wie dort, nur aktueller. Abgesehen von der Frühstücksromantik brauche ich also diesen Teil der Zeitung nicht (mehr). Die Hintergründe aber, die mir meine Wochenzeitung liefern soll, bekomme ich von dieser, gegen Geld, schließlich bin ich bereit für guten Journalismus zu zahlen. Dann finde ich aber am Montag also nur ein Wochenende vom Erscheinen der donnerstäglichen ZEIT 51/2013 entfernt z.B. die 99 Fragen an Frau Schöneberger aus dem Magazin, das Interview mit Christoph Waltz, den Artikel über den geplanten Rufmord Willy Brandts, aber auch die Titelstory von voriger Woche, ebenso der Beitrag über Palliativmedizin. Brauche ich das brühwarm, sofern man diesen Zeitpunkt hier überhaupt bestimmen kann, auf dem Tisch? Nein! Muss ich dafür Geld bezahlen? Anscheinend auch nicht, gibts ja alles online, nur halt etwas später. Die Verzögerung ist bei solchen Themen wirklich zu verschmerzen, wenn nicht gar irrelevant.

Henne oder Ei? Nun mag jemand einwenden, dass nicht die ganze Ausgabe online gestellt wird, kleine Fitzelchen bleiben der Printausgabe vorbehalten, wenn aber gerade die herausragenden Stück später gratis verteilt werden, sehe ich keinen Grund mehr die Printausgabe zu kaufen. Jaja, das sind aber außerdem Artikel einer Ausgabe, die bereits wieder vom Markt ist, diese Resteverwertung ist bei teurem Journalismus also nur legitim! Diese funktioniert allerdings auch nur solange bis keiner mehr die Printausgabe kauft und die Reste- so zur Erstverwertung werden muss. Übrigens war die Zeitung selbst früher die Paywall: wer sie kauft bekommt deren Inhalt, wer nicht nicht.

Vielleicht. Es mag so sein, dass es an der Gratismentalität des Internets liegt, aber vielleicht lassen sich solche Probleme nur durch kostenpflichtige Premiumportale auffangen, vielleicht nur durch eine klare Trennung Print/Online. Die BILD ist hier Vorreiter, trotz nicht ernstzunehmender Inhalte, Anlaufschwierigkeiten und Kritik. Warum nicht eine gemeinsame Online-Plattform eines Qualitätszusammenschlusses der großen Zeitungen unabhängig von deren Printangebot. Möglicherweise sind es irgendwann auch nur noch einzelne Journalisten/Blogger, die für einzelne Beiträge direkt von ihren Lesern entlohnt werden. (Ähnlich hat es Harald Martenstein in unserem Gespräch angesprochen.)

Fazit. Das Problem ist nicht, dass der Qualitätsjournalismus ausstirbt, sondern dass er sich lachend ins selbstgeschaufelte Grab stürzt. Zahle ich erhalte die gleich Qualität, wie in der gratis Version, wozu also zahlen?

Lied des Harfners

Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh ich ans Firmament
Nach jeder Seite.
Ach! der mich liebt und kennt
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß was ich leide!

Lied des Harfners aus Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre

Krachkultur

“[…] wie kommt es denn, dass immer mehr Menschen psychologische Beratung brauchen, obwohl sie tagein, tagaus Ratgeber lesen, die ihnen das schöne Leben beibringen sollen?” Die Antwort hat der schlaksige Mann mit den dünnen Haaren und dem norddeutsch trommelnden Zungenschlag parat: Weil die Menschen abgespeist werden mit Künstlichkeit. Weil ihnen der “Kontakt mit der Weltliteratur” fehlt. Weil die Bücher, die sie lesen “nicht wehtun, keine Erkenntnisse eintreiben, sondern nur den Kopf streicheln und die Sinne ablenken.”

Aus: Lizenz zum Wehtun von Alexander Kissler in Cicero Juli/13 über Martin Brinkmann und die von ihm verlegte Zeitschrift “Krachkultur”

Fünf Fragen

Zum Jahresende häufen sich die Rückblicke, die Blogger überschwemmen das Netz mit ihren (Lese-)Statistiken und da ich schon zum Geburtstag mit Zahlen geprahlt habe, beschränke ich mich auf die fünf Fragen, die Norman von den Notizheften ins Rund geworfen hat.

1. Welches war das Buch des Jahres (erschienen 2013)?

A. Roman
Hier muss ich bereits das erste Mal wirklich grübeln. So richtig Aktuelles lese ich selten, überzeugt haben mich aber die Debüts von Jonas Lüscher mit Frühling der Barbaren und kürzlich erst Martin Simons mit Die Freiheit am Morgen.

B. Sachbuch
Eines der meistbesprochenen Sachbücher des Jahres ist sicher The Sleepwalkers von Christopher Clark. Gerade vor dem nahenden Jahrestag des ersten Weltkrieges wird dies sicher nicht die letzte Be-/Verarbeitung gewesen sein. Zumindest viel beachtet, aber natürlich mit ganz anderem Anspruch 1913 von Florian Illies.

C. Kinderbuch
Bei Kinderbuchneuerscheinungen bin ich beim besten Willen überfragt.

2. Welches Buch habe ich wiedergelesen?
Sogar gleich zweimal (einmal komplett, einmal in Auszügen) wiedergelesen habe ich Kästners Fabian/Der Gang vor die Hunde, eines meiner Alltime-Lieblingsbücher. Erstaunlich immer wieder wie sich der Blick auf ein Buch verändert, Erinnerungen sich als falsch herausstellen und einen angestrichene Stellen erneut erfreuen.

3. Welches Buch lese ich als nächstes?
Immer noch lese ich nebenher Don Quichote von der Mancha in der (recht) neuen Ausgabe von Hanser und diese Lektüre wird sich aufgrund des Umfangs von zwei Bänden auch noch etwas hinziehen. Außerdem auf dem Nachtisch Tod im Paradies – Die Tragödie des Stefan Zweig von Alberto Dines und Das Zeitalter der Erkenntnis von Eric Kandel.

4. Welches Buch verschenke ich zu Weihnachten?

Herr Winterling sen. hat sich die angesprochenen Schlafwandler gewünscht und soll sie wohl auch bekommen, ansonsten schenke ich aufgrund konkreter Wünsche der meisten fast nur non-books. Habe aber für alle meine Juristenfreunde, aber schon eine Kiste Die Freiheit am Morgen bestellt.

5. Über welches Buch würde ich mich als Geschenk freuen?
Lieber Weihnachtsmann, falls Du das liest: Modernist Cuisine at Home, ist die “abgespeckte” Version des 5-bändigen Über-Kochbuchs Modernist Cuisine, das eine Revolution auf dem Kochbuchmarkt ausgelöst hat. Vom (ultrareichen) Liebhaber für (reiche) Liebhaber wurde dieses 400 € teure Schlachtschiff erschaffen: in Fotographie und Rezepten ist ein solches Buch noch nicht dagewesen. Nur, aber nur deswegen, weil ich keinen Platz für das 5-bändige Flaggschiff habe, reicht mir für die Studentenküche auch das Kleine.

Ich gehe davon aus, dass es in Normans Sinne ist die obige Liste an alle interessierten weiterzugeben, wer also noch schnell die Bilanz des Bücherjahres 2013 ziehen möchte, tue dies und gebe uns Bescheid.

Knecht Ruprecht

Knecht Ruprecht

Von drauß’ vom Walde komm ich her;
Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!

Allüberall auf den Tannenspitzen
Sah ich goldene Lichtlein sitzen;
Und droben aus dem Himmelstor
Sah mit großen Augen das Christkind hervor,
Und wie ich so strolcht durch den finstern Tann,
Da rief’s mich mit heller Stimme an.

»Knecht Ruprecht«, rief es, »alter Gesell,
Hebe die Beine und spute dich schnell!

Die Kerzen fangen zu brennen an,
Das Himmelstor ist aufgetan,
Alt’ und Junge sollen nun
Von der Jagd des Lebens einmal ruhn;
Und morgen flieg ich hinab zur Erden,
Denn es soll wieder Weihnachten werden!«

Ich sprach: »O lieber Herre Christ,
Meine Reise fast zu Ende ist;
Ich soll nur noch in diese Stadt,
Wo’s eitel gute Kinder hat.«

– »Hast denn das Säcklein auch bei dir?«
Ich sprach: »Das Säcklein, das ist hier;
Denn Äpfel, Nuß und Mandelkern
Fressen fromme Kinder gern.«

– »Hast denn die Rute auch bei dir?«
Ich sprach: »Die Rute, die ist hier;
Doch für die Kinder nur, die schlechten,
Die trifft sie auf den Teil, den rechten.«

Christkindlein sprach: »So ist es recht;
So geh mit Gott, mein treuer Knecht!«
Von drauß’ vom Walde komm ich her;
Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!

Nun sprecht, wie ich’s hierinnen find!
Sind’s gute Kind, sind’s böse Kind?

Theodor Storm

Generation-Warum

Woche für Woche ist er sechzig und mehr Stunden unter Leuten, für die er wenig übrighat, die ihn allein dadruch anstrengen, dass er ihre Existenz zur Kenntnis nehmen muss.

Der Anwalt Paul Stern arbeitet in einer Großkanzlei in Berlin. Er hat eine lange Ausbildung und viel Arbeit hinter sich um dorthin zu kommen, nur die Guten, wenn nicht gar die Besten arbeiten bei Tennenbaum & Koch, dem fiktiven Pendant zu den Großkanzleien, die mir sofort eine Abmahnung bei Ziehung der Parallele schicken würden. Paul arbeitet sehr viel, denn er will irgendwann Partner werden, um dann genug Geld zu verdienen bzw. verdient zu haben, einen luxeriösen Lebenswandel mit viel Freizeit führen zu können. Als er aber mal wieder für ein Mandat ein Wochenende durcharbeiten muss und sich in der Dosis der aufputschenden Substanzen, Koffein spielt hier nur eine untergeordnete Rolle, verschätzt, bricht er zusammen und schmeißt die Brocken hin.

die freiheit am morgen martin simons coverDie Freiheit am Morgen (danach) eröffnet Paul unendlich viele Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und doch streift er zunächst ziellos durch Berlin und trinkt übermäßig, bis er Mara kennenlernt. Auf einer Party trifft er außerdem den Medienmogul Tasso Vonderweide, dem Pauls Ausstieg und Leidenschaft imponieren und den er daher für ein neues Magazin gewinnen will. Paul schreibt und plant, doch kommt das von Tasso geplante Über-Printprodukt MoMa nicht aus den Startlöchern. Während Paul (noch) gut von seinem Ersparten leben kann, zieht Mara bei ihm ein. Doch um Mara machen unschöne Gerüchte in seinem Freundeskreis die Runde, die durch ihre Verschlossenheit und ihr ständiges plötzliches Verschwinden Zweifel in Paul wecken: Escort-Service, Drogen und/oder ein eifersüchtiger, weiterhin geliebter Freund aus der Vergangenheit. Der vorher so erfolgreiche Anwalt mit dem Traum nach künstlerischer und persönlicher Erfüllung muss sich in seinem neuen Leben und dessen Möglichkeiten erstmal zurecht finden.

Martin Simons schreibt in seinem ersten Roman unaufgesetzt und klar. Er schafft es die Kultur- und Partyszene Berlins ohne überzogene Klischees darzustellen und trotzdem deren Absurdität einzufangen. Dazu zeichnet er mit Paul einen Charakter, der in seiner sinnsuchenden Zerrissenheit sympathisch bleibt ohne aufgesetzt zu wirken.

Während der Lektüre habe ich mich mehrfach gefragt, ob nur ich diesen Sog spüre, fühle ich mich als Jurist auf Sinnsuche direkt angesprochen. Inzwischen glaube ich aber, dass dieses Buch Stoff für die meisten Leser bereit hält. Die Frage, ob man wirklich weiter der aktuellen Beschäftigung nachgehen oder doch nach einem Ideal der eigenen Jugend streben soll, dürfte sich jeder bisweilen stellen, das ist kein Juristenproblem, sondern inzwischen das einer ganzen Generation.

Man müsste sein Leben ändern, gänzlich ändern, zu etwas Weit- und Tiefgreifendem machen, abenteuerlich lebendig, nur wie?

Die Generation Y, wie man die Nachfolger der Babyboomer, Generation Golf und X nennt, also junge, gutausgebildete Menschen Jahrgang um die ’85, strebt nicht so sehr nach Geld und Status, sondern legt vielmehr Wert auf Realisierung ihrer Träume, ihr persönliches Wohlbefinden und nachhaltige Zufriedenheit. Das Y steht dabei auch für why, das Hinterfragen der aktuellen persönlichen und gesellschaftlichen Situation. In diese Generation Y passt Paul vom Alter her eigentlich nicht mehr und doch sind seine Gedanken und Probleme sehr ähnlich. Denn bereits auf den ersten Seiten steht bei ihm das “Warum und wofür mache ich das hier eigentlich?”. Und trotzdem, und das ist Simons hoch anzurechnen, gleitet das Buch nie in Lebensweisheiten und Weinerlichkeit ab. Auch wird nicht kopflos der Selbstfindungstrip propagiert, sondern Paul erlebt die Schattenseiten, wenn er sich in der Antriebslosigkeit des unstrukturierten Tages verliert oder an den eigenen Ansprüchen scheitert oder feststellen muss, dass Leidenschaft manchmal allein nicht ausreicht.

Liebe Juristen, liebe BWLer, liebe Generation X und Y, liebe Aus- und Einsteiger bitte lesen Sie dieses Buch!

Kuriosum am Rande: In den von Tasso für sein Magazin angeheuerten Nikolaus Berg ist eindeutig der, von mir hochgeschätzte, Benjamin von Stuckrad-Barre zu entdecken. Ebenso angeheuert und ebenso eindeutig ist Chip Lambert, nicht nur aufgrund des den Korrekturen entnommen Namens,  Jonathan Franzen. Der Autor möge mich berichtigen, sollte ich falsch liegen.

“Du bist also noch immer in der Kanzlei. Warum?”
“Ich höre auf, sobald ich jemanden finde, der mich fürs Bücherlesen, Weintrinken und Herumstriefen bezahlt.”

The Grandmothers vs. Tage am Strand or Problems of the Australian Upperclass

Nicht mal einen Monat ist der Tod der Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing her, schon schickt mich der Hoffmann und Campe Verlag ins Kino. Statt endlich ihr Goldenes Notizbuch zu lesen, habe ich es nun mit Tage am Strand in bewegten Bildern bzw. der literarischen Vorlage zu tun.

Normalerweise gibt es für mich keinen Grund mir über die Priorität erst Buch – dann Film oder andersherum Gedanken zu machen. Rückblickend habe ich bewusst nur bei Anna Karenina darauf geachtet erst das Buch zu beenden bevor ich ins Kino gehe. Noch nie habe ich mir Das Buch zum Film gekauft, interessante Vorlagen habe ich entweder vorher gelesen oder hielt sie nach dem Film, wenn nicht für verdorben, zumindest für zu vorbelastet.

Nun aber war ich erst im Kino und habe dann die Vorlage gelesen, im Kino an meiner Seite Tobias, der den anderen Weg nahm.

Tage_am_StrandIm australischen Paradies am Meer wohnen Lil und Roz, zwei Frauen, denen es finanziell ganz gut zu gehen scheint, soll man nach der Ausstattung ihrer Häuser urteilen. Seit Schulzeiten sind sie unzertrennlich und nach dem Tod des Manns der einen und dem arbeitsbedingten Wegzug des anderen Mannes wohnen beide mit ihren fast erwachsenen Söhnen zusammen. Während man im Ort bereits von der Homosexualität der beiden Frauen munkelt, fangen beide ein Verhältnis mit dem Sohn der anderen an. Von einem Gerangel der beiden Hähne abgesehen, besteht dieses skurielle Beziehungsgeflecht erstaunlich harmonisch, bis der eine Jüngling nach Sydney geht um dort ein Theaterstück zu inszenieren und mit einer Gleichaltrigen anbandelt.

Beim Anblick der beiden durchtrainierten Abziehbildchen von Söhnen schüttelt es mich das erste Mal. Die Bräsigkeit der australischen Oberschicht, die scheinbar stündlich ein Gläschen Chardonnay schlürft und die aufdringliche Schönheit des Ortes machen mir den Einstieg nicht leicht. Es mag sein, dass es dort einfach so aussieht, aber in der Zusammenstellung erscheint es mir kitschig. Der Steg, auf dem sich erst die jungen Alter Egos der Mütter treffen, dann die heranwachsenden Söhne und am Ende noch einmal alle miteinander, ist mir als offensichtliche Paralellität zu einleuchtend. Aber ich habe verstanden: zwei starke, emanzipierte Frauen, die bessere Freundinnnen nicht seien könnten, die ohne Mann sein können und wollen und im Paradies in sexueller Leidenschaft mit dem jungen Adonis anbandeln. Wahrscheinlich bin ich nur auf die Surferkörper neidisch, aber die beiden Söhne sind mir etwas zu tumb. Dass der Surfertyp auf einmal Theaterstücke inszeniert, kaufe ich ihm nicht ab. Die Konfliktfreiheit der beiden wie Schwestern aufgewachsenen Frauen mit den wie Brüdern aufgewachsenen Söhnen, der lockere Umgang der Söhne mit ihrer Mutter in einer derartigen Situation scheint mir ebenso unglaubwürdig – hier würde ich mir einfach mehr Reibung, mehr Konflikte wünschen.

Und als ich mich bei Tobias über die Unglaubwürdigkeit und die Klebrigkeit des Settings beschwere, packt es mich dann doch noch, denn das Idyll der inzwischen liebenden Großmütter zerbricht, scheinbar war man doch nicht immer so offen. Zwar sind am Ende doch (fast) alle irgendwie glücklich, aber man schwimmt am Ende nicht ganz ohne Schäden im Meer auf dem gemeinsamen Steg.

Kuriosum der Lektüre: Das den Film rettende Ende steht am Anfang und nimmt der Geschichte, trotz (oder wegen) der vorher gesehen Verfilmung etwas den Reiz. Bei Lessing hängen keine Geigen in den Bäumen und es gibt keine Regieanweisung a la “hier Schmalz und Weißwein”. Insgesamt viel bodenständiger, weniger Sex, aber irgendwie auch nicht mehr Konflikte, dabei wäre in der Vorlage so viel Platz für mehr gewesen, Bücher werden selten auf 90 Minuten limitiert. Das an sich spannende psychologische Spiel mit den pseudoinszestuösen Beziehung bleibt aus.

Dass man trotz floskeligem Füllmüll wie “So weit, so gut.” [sic!] einen Nobelpreis für Literatur bekommt, Lessing streckenweise die Geschichte in Dreiwortsätzen mit dann, dannach, dann aneinanderreiht, verwundert mich. “Irgendwas war da … etwas Schlimmes …”-Stilblüten und uninspirierte Dialoge, die sich Hollywood nicht ausgedacht, sondern der Vorlage entnommen hat –  das schmerzt.

Lange Rede, kurzer Sinn (ich bin auf dem Weg zum Nobelpreis durch Einbauen solcher Redewendungen): viel wäre möglich gewesen, wenig wurde daraus gemacht. Den Vorwurf muss man aber scheinbar mehr, Gott habe sie seelig, Doris Lessing als den Filmemachern machen.