Jahr: 2013

Advent

Advent

Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenherde wie ein Hirt,
Und manche Tanne ahnt, wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird,
Und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
Streckt sie die Zweige hin – bereit,
Und wehrt dem Wind und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

 

Ich habe das Bedürfnis nach Freunden

stefan_zweig____ich_habe_das_beduerfnis_nach_freunden_-9783222133725_xxlMeine große Liebe zu und tiefe Verehrung für Stefan Zweig dürfte dem regelmäßigen Leser bereits bekannt sein. Der empfindsame, einfühlsame, scheue Österreicher feiert heute Geburtstag und gehört sicher zu den Intellektuellen des vergangenen Jahrhunderts. Seine Novellen, nicht nur die vielgelesene Schachnovelle, seine historischen Biographien und, für mich, allem voran seine Autobiographie Die Welt von Gestern bilden Glanzpunkte der deutschsprachigen Literatur.

Mit dem 70. Jahrestag seines Todes letztes Jahr lief auch der Urheberschutzes seines Werkes aus und daher dürften in naher Zeit einige Stefan Zweig Neuveröffentlichungen und -zusammenstellungen erscheinen. Einen maßstabsetzenden Anfang machte nun der österreichische styria Verlag mit der Sammlung “Ich habe das Befürfnis nach Freunden”.

Neben den unbedingt zu lesenden Erzählungen Angst, Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau , Verwirrung der Gefühle und natürlich der Schachnovelle, versammelt dieser von Klemens Renoldner herausgegebene Band u.a. auch bisher unveröffentlichte Aufsätze, Essays und Porträts Zweigs: Erinnerungen an Theodor Herzl, unter dem Zweig als junger Mann arbeitete, an Arthur Schnitzler und Hermann Bahr, Essays über Lou Andreas-Salomé und sein ergreifender Abschied von Joseph Roth, ebenso wie die Worte am Sarge Sigmund Freuds. Wird im ersten Teil des Buches klar warum Zweig einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit war, bildet der zweite sein Schaffen als Chronist seiner Zeit ab. Stellenweise lesen sich die Texte im hinteren Teil, wie die Quellen zu Die Welt von Gestern.

Niemand ist fort, den man liebt. Liebe ist ewige Gegenwart.

Das kluge Nachwort des Herausgebers, immerhin als Direktor des Stefan Zweig Centre in Salzburg eine Kapazität, beschließt eine lohnenswerte Neuerscheinung, die nicht als einfaches Potpourri oder Best of daher kommt, sondern gerade durch die geschickte Kombination der Novellen mit den Essays auch für Kenner Neues und eben bisher Unveröffentlichtes bereithält. Für den Zweig Novizen dagegen stellt sie einen Kanon zusammen, der für hoffentlich viele zur (Neu-)Entdeckung dieses großen Europäers führen mag.

Bis(s) ins Innere des Protons

Im Allgemeinen bin ich bemüht aus mir einen möglichst allgemeingebildeten Menschen zu machen. Daher rudere ich jeden Tag dagegen an ein Fachidiot auf einem meiner beiden Hauptbetätigungsfeldern, der Juristerei und der Literatur, zu werden. Auf der einen Seite aber ist der Erwerb des von mir erstrebten Doktortitels die Anerkennung von ganz besonderer Fachidiotie, auf der anderen könnte man meinen das Anlesen gegen Bildungslücken würde mein Projekt im Bereich der Literatur konterkarieren. Es ist wie verhext, da ich aber auf dem Gebiet der Naturwissenschaften ein staatlich geprüfter und bescheinigter (siehe Abiturzeugnis) Nichtskönner bin, will etwas dagegen unternehmen.

Ich habe mich bereits an den populärwissenschaftlichen Büchern von David Bodanis versucht (Bis Einstein kam: Die abenteuerliche Suche nach dem Geheimnis der Welt, Das Universum des Lichts. Von Edisons Traum bis zur Quantenstrahlung, E=mc²) habe Fermats letzter Satz von Simon Singh gelesen, ebenso Eine kurze Geschichte von fast allem von Bill Bryson und Heureka! von Michael Macrone. Alles halbwegs verarbeitet und wieder vergessen oder gar nicht erst verstanden.

onsboris lemmer biss ins innere des protiNun ist aber einer ausgezogen mir das beizubringen, was weder Lehrer noch Wissenschaftler bisher vermochten. Boris Lemmer soll mir erklären was die Welt, im Innersten zusammenhält, mit ihm reise ich Bis(s) ins Innere des Protons. Den jungen Mann qualifiziert hierzu nicht nur sein Physikstudium, die bald beendete Promotion und seine Forschung am CERN, sondern, für mich entscheidend, seine Vermittlungskompetenz erlernt bei Science Slams. Referenz: deutscher Meister.
(Science Slams beruhen auf dem Prinzip der inzwischen sehr beliebten Poetry Slams. In begrenzter Zeit muss der Vortragende möglichst verständich ein wissenschaftliches Thema dem Publikum erörtern.)

Mit anschaulichen Beispielen nähert sich Boris den Problemen höherer Physik: Ü-Eier, Bierbäuche und vergrößerte, schematisierte Versuchsaufbauten machen das sichtbar und verständlich, was sich in seiner Winzigkeit unserer Wahrnehmung und meiner Vorstellung entziehen. Geschickt hält er die Waage zwischen Vereinfachung und Unterforderung, hält für Fortgeschrittene in “Schlauboxen” weiterführende Informationen bereit. Niemand soll sich langweilen, aber dennoch sollen alle auf den folgenden Seiten mitgenommen werden. Besonderes hoch anzurechnen ist, dass er nie in allzu flappsigen, anbiedernden Ton verfällt, wenn auch der gesamte Duktus, eben im Stile eines Science Slams, betont lässig gehalten ist. Gekonnt geglückt auch der Spagat zwischen Augenzwinkern und Wissensvermittlung. Wer die benötigten Grundlagen der Schulphysik und -chemie schon mitbringt, darf sich auf den ersten Seiten an Boris’ Humor erfreuen, wem sie fehlen, der darf sich an Boris’ Humor erfreuen und von ihm lernen. Auf den hinteren Seiten dürfte für jeden nicht-Physiker Neues zu erfahren sein. Gerade die “Schlauboxen” hieven das Buch vom Erklärbär-Tand zum ernstzunehmenden Lehrbuch. Boris zeigt, dass ein solches unterhaltsam sein kann.

Ebenso wie live, kann nicht jeder Gag zünden, aber ebenso wie live, zählt die Meinung des Publikums am Ende. Ich habe während der Lektüre viel gelernt und bin sicher, dass sie mir während der Schulzeit einiges erleichert hätte. Obendrauf gibt es immer wieder Interna aus dem Forscheralltag, Schrullen vom CERN und Hinweise, die mittels QR-Codes zu Videos und weiteren Informationen führen. Einziger Wermutstropfen ist die Papierqualität, die mir in ihrer quietschigen Beschichtung das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Ob Bis(s) ins Innere des Protons in eurer Physik-Promotion zitierfähig ist, wage ich zu bezweifeln, dass es eurer Allgemeinbildung gut tut, dessen bin ich mir sicher.

Abschied

Abschied

Geh’ ich einsam durch die schwarzen Gassen,
Schweigt die Stadt, als wär’ sie unbewohnt,
Aus der Ferne rauschen nur die Wasser,
Und am Himmel zieht der bleiche Mond.

Bleib’ ich lang vor jenem Hause stehen,
Drin das liebe, liebe Liebchen wohnt,
Weiß nicht, daß sein Treuer ferne ziehet,
Stumm und harmvoll, wie der bleiche Mond.

Breit’ ich lange sehnend meine Arme
Nach dem lieben, lieben Liebchen aus,
Und nun sprech’ ich: »Lebet wohl, ihr Gassen!
Lebe wohl, du stilles, stilles Haus!

Und du Kämmerlein im Haus dort oben,
Nach dem oft das warme Herze schwoll,
Und du Fensterlein, draus Liebchen schaute,
Und du Türe, draus sie ging, leb’ wohl!«

Geh’ ich bang nun nach den alten Mauern,
Schauend rückwärts oft mit nassem Blick,
Schließt der Wächter hinter mir die Tore,
Weiß nicht, daß mein Herze noch zurück.

Justinus Kerner (1786-1862)

#LawAndLit

Von Haus aus bin ich, bekannter- oder unbekanntermaßen, Jurist und erfreue mich daher an einer Strömung, die sich, vor allem in den USA, zunehmender Beliebtheit erfreut: Law and Literature. Da Tobi von TexteUndBilder und ich sowieso in letzter Zeit überlegt haben, die bloggenden Juristen zu einer gemeinsamen Aktion aufzurufen, nun also alle auf zu #LawAndLit!

Mehr zur Idee und den Teilnahmebedingungen zu dieser außergewöhnlichen Blogparade gibt es unter: http://www.buchguerilla.de/lawandlit/

Und Achtung! Man muss nicht bloggender Jurist sein, weder Jurist mit Blog, noch Blogger mit juritischem Hintergrund sein, sondern nur interessierter Leser mit Spaß am Thema.

Für Leute, die zu faul sind auf den obigen Link zu klicken, hier nochmal die Liste mit den vorgeschlagenen Werken:

1. William Shakespeare – Der Kaufmann von Venedig – Recht als Rache?
2. Gottholt Ephraim Lessing – Emilia Galotti – Resignation des Rechts vor der Macht?
3. Heinrich von Kleist – Michael Kohlhaas – Rebellion des Rechts gegen die Macht?
4. Georg Büchner – Dantons Tod – Recht durch Gewalt?
5. Conrad Ferdinand Meyer – Die Richterin – Recht sprechen ohne Recht zu tun?
6. Herman Melville – Billy Budd. Sailor – Rechtsgehorsam oder Rechtsmanipulation?
7. Franz Kafka – Der Prozeß/Vor dem Gesetz – Recht als Illusion
8. Susan Glaspell – A Jury of Her Peers – Wer soll des anderen Richter sein?
9. Katherine Anne Porter – Noon Wine – Öffentliche oder private Gerichtigkeit?
10. Albert Camus – Der Fremde – Entfremdetes Leben, entfremdetes Recht?
11. Berthold Brecht – Der kaukasische Kreidekreis – Wer findet wie die Gerechtigkeit?
12. Friedrich Dürrenmatt – Die Panne – Recht als Farce?
13. Friedrich Dürrenmatt – Der Besuch der alten Dame – Käuflichkeit des Rechts
14. Albert Camus – Die Gerechten – Recht durch Revolution
15. Friedrich Schiller – Die Räuber – Das Verhältnis von Freiheit und Gesetz
16. Heinrich Böll – Die verlorene Ehre der Katharina Blum – Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann
17. Gottfried Keller – Die drei gerechten Kammmacher – Recht und Rivalität
18. Jeremias Gotthelf – Die schwarze Spinne – Recht im Ausnahmezustand
19. Fjodor Dostojewski – Verbrechen und Strafe – Eigenes und fremdes Recht
20. Bernhard Schlink – Der Vorleser – Die Verarbeitung von Unrecht

Die Strudlhofstiege von Heimito von Doderer – Buch für die einsame Insel?!

1. Gebot juristischer Klausuren: Du sollst keine Besinnungsaufsätze schreiben!

So wurde es mir vor dem Examen eingetrichtert. Wer im Examen über Dinge schreibt, die nichts mit dem eigentlich zu lösenden Fall zu tun haben, läuft Gefahr bzw. ist auf dem besten Weg durchzufallen. Die einzige Gefahr, die mir beim Schreiben eines Besinnungsaufsatzes innerhalb einer Literaturkritik droht, ist der abgesprungene Leser. Hier also der Besinnungaufsatz über ein Mammutwerk, das ich zum Zeitpunkt der Rezension nicht mal im Ansatz beendet habe, aber dazu sogleich.

© Peter Lindlein - CC BY 3.0 de
© Peter Lindlein – CC BY 3.0 de

Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre von Heimito von Doderer gehört mit Sicherheit in die Kategorie des modernen Klassikers. In der vorliegenden Ausgabe von C.H.Beck umfasst sie schlanke 950 Seiten und selbst Daniel Kehlmann, einer unserer Vorzeigeintellektuellen gibt im Nachwort zu, dass er, salopp ausgedrückt, viele Dinge in diesem Buch nicht versteht. Sagen wir, etwas ernster, der Zugang ist recht schwierig. Dreimal startete ich die ersten 30 Seiten, dreimal las ich den berühmten ersten Absatz von dem abgefahrenen Bein der Mary K. und über Bulgaren und Rumänen in Wien. Und an diesem wird schon die Schwierigkeit der Lektüre offenkundig: Parenthesen und in diesen noch eine solche, als würde Doderer während er schreibt noch eine dringend zu erzählende Begebenheit einfallen, die nicht auf-, sondern eingeschoben wird. Dazu kommt, dass sich das “epische Gefüge [des Romans] zerlöst […] in das Einzelne, Episodische, in Assoziationen, Reflexionen und Kommentar” (Fritz Martini in: Deutsche Literaturgeschichte). Man weiß nicht mehr was genau zur Handlung gehört und was nicht, die unvermitteleten Zeitsprünge tun für die Verwirrung ihr übriges. Verlässlich eigentlich nur der Ort der Handlung; zumeist die, in Wien realexistierende, Strudlhofstiege, aber Achtung: was für die Handlung in den Jahren 1923 bis 1925 gilt, gilt nicht zwangsläufig für die Rückblenden in die Jahre 1911/12, hier reist der Leser vielmehr durch ganz K.u.K.-Österreich. Adalbert Schmidt fasst es in Literaturgeschichte unserer Zeit so zusammen:

Die keineswegs romanhafte Handlungen des […] Werkes, der seelischen Topographie einer Stadt, werden immer wieder von Abhandlungen und Reflexionen über die verschiedensten Themen (über geschichtliches Denken, lateinische Grammatik, Sprachgeschichte, dicke Damen, Kaffeehausatmosphäre nebst einem in spätmittelhochdeutscher Sprache verfaßten Bericht über einen Hexenprozeß) überwuchert […].

Doderer hat also alles drin: ein Panoptikum Wiens nach der Jahrhundertwende, in der Vor- und Zwischenkriegszeit. Dieses Buch ist derartig verwinkelt, seine einzelnen Geschichten so unabhängig, dass man bei jedem Wiederlesen Neues entdeckt. Die, sagen wir diplomatisch, für 950 Seiten spärliche Handlung um Melzer macht den Einstieg in ein schweres Buches auch nach längeren Lesepausen erstaunlich leicht.

Man interessiert sich gar nicht für all die groß- und kleinbürgerlichen Wiener Schicksale, all die Verwicklungen und Verstrickungen? Dann kann, so Kehlmann, Doderers Beschreibungskunst allein die Lektüre zum reinen Glück machen. Nur langen Atem sollte man haben. Beispiel gefällig? Bereits das dem Roman vorangestellte Gedichte, inzwischen auch in Wien an der Strudlhofstiege angebracht, lässt die Kunst Doderers erkennen.

Wenn die Blätter auf den Stufen liegen
herbstlich atmet aus den alten Stiegen
was vor Zeiten über sie gegangen.
Mond darin sich zweie dicht umfangen
hielten, leichte Schuh und schwere Tritte,
die bemooste Vase in der Mitte
überdauert Jahre zwischen Kriegen.

Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.

doderer strudelhofstiegeWarum also dieses Buch lesen? Weil sich in einem solchen Werk ein ganzer Kosmos öffnet, weil durch seine Komplexität immer wieder neue Interpretationsmöglichkeiten entstehen. Die Komplexität führt natürlich zu einer schwereren Lesbarkeit, aber wer es einfach mag, greift zwischendrin wieder zur Unterhaltungslektüre – die Strudlhofstiege läuft nicht weg. Aber und das soll bitte das Ergebnis des Besinnungsaufsatzes sein, sie vermag auch soviel mehr zu geben als nur eine Geschichte, aber auch mehr als nur Sprachkunst – die Strudlhofstiege ist ein potenzielles Buch für die einsame Insel. Das Schicksal ist ein mieser Verräter hat man irgendwann zum 100. Mal gelesen und kann in der Geschichte und den Charakteren nichts neues mehr entdecken (ich möchte auch stark bezweifeln, ob hierfür eine 100-malige Lektüre notwendig ist); Doderer wird mit immer neuen, bisher unentdeckten Facetten aufwarten (allerdings wage ich auch nicht den Effekt von 100 Mal Strudlhofstiege abzusehen).

Wenn man sich ein solches Mammutwerk vornimmt, dann bitte auch in der entsprechenden Ausstattung. Der C.H.Beck Verlag macht in seiner Jubiläumsausgabe alles richtig und zeigt wie Büchermachen geht: in bedrucktes blaues Leinen gebunden,  gestaltetes Vorsatzblatt, topographischer Anhang mit den Schauplätzen des Romans in Wien und das Nachwort von Daniel Kehlmann, der sowieso besserer Kritiker als Schriftsteller ist – nimm das eBook!

Tödlicher Hass und tiefer Ekel

söderberg doktor glasMit 15 Jahren Abitur und mit 23 Doktor der Medizin, doch dann ist Schluss mit Ehrgeiz. Doktor Glas entscheidet sich gegen die Karriere, aber auch gegen Familie und lässt sich in Stockholm nieder. Das Leid der Menschen, umstritten ob gut oder schlecht für einen Arzt, lässt er nicht an sich heran. Die Liste von ihm verweigerter Abtreibungen ist lang; nicht aber aus moralischen oder menschlichen Gründen sperrt er sich, nein, ihn halten mögliche Scherereien mit der Justiz davon ab. Kein geselliger, kein durchweg sympathischer Zeitgenosse, der hier für uns sein Tagebuch schreibt.

Den Trott des Doktors durchbricht die junge, schöne Helga, Frau des degoutanten Pfarrers Gregorius. Sie bittet Glas den Pfaffen aus fingierten gesundheitlichen Gründen zum Wohle seiner Frau vom Vollzug der Ehe abzuhalten. Aus Sympathie, und weil die Ausführung dieser Bitte für ihn ohne Gefahr möglich ist, versucht Glas Helga zu schützen und nimmt sich ihrer Probleme an. Trotz ihrer Beziehung zu einem anderen, also ein Geliebter neben dem Geistlichen, verliebt sich Glas in Helga. Seine neuentdeckte, selbstlose Liebe lässt ihn nun sogar einen Mord an Gregorius erwägen, nur um die Angebetete von diesem zu befreien. Es entwickelt sich ein Psychothriller, in den man mittels der Tagebucheinträge Glas’ hineingezogen wird: seine Reflexionen, seine Zweifel, aber auch seine aufwallende Wut und Liebe,

“Ist er denn ein Heuchler?”, fragte ich.
“Ich weiß nicht. Nein, das glaube ich nicht. Aber er hat sich daran gewöhnt, Gott für alles Mögliche zu benutzen, wie es ihm gerade passt. Das machen sie immer so, ich kenne ja so viele Pastoren.”

Der Pfarrer Gregorius ist dabei wirklich eine unsägliche Figur. Ein feist, tumb, bigotter Lustmensch, der unter abstrusesten Gründen seine zarte Frau zum Sex nötigt, letztendlich schlicht vergewaltig. Zwischendrin schüttelt es den Leser vor Ekel, nicht nur vor den Äußerlichkeiten des garstigen Geistlichen, sondern der Doppelmoral, mit der er jegliches Handeln rechtfertigt. Seine aus der Hörigkeit erwachende Frau dagegen besitzt nicht genug Kraft und Mut für eine Emanzipation, Rettung ist allein nur die aufkeimende Liebe eines vormaligen Menschenfeindes möglich, der versucht ist alle seine Prinzipien zu opfern. Die Figur des Doktors gewinnt mit Fortschreiten des Romans immer mehr, seine Figur wird in ihrem zähen Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, aber auch in ihren Zweifeln zum moralischen Helden.

Söderberg schildert in frappierender Klarheit all die Eigenschaften der Kirche, die uns heute um Skandale wie die von Tebartz van Elst oder Missbräuche auf- und abstoßen. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert zeichnet dieser bösartige, nie überziehende, sondern authentische Schwede die Doppelmoral der Kirche nach.

Im Übrigen erinnere ich mich nicht, dass bei der Einsetzung des heiligen Abendmahls irgendwo das Wort Silber erwähnt wäre […]

Zum gefrierenden Lachen beispielsweise die Darstellung einer Szene, in der der Pastor Gregorius die Problematik schildert, man habe für eine hygienische Ausführung des Abendmahls nicht genügend Silberbecher. Entwaffnend modern die hellsichtigen Ausführungen Doktor Glas’ zur Sterbehilfe.

Der Tag wird und muss kommen, an dem das Recht zu sterben als ein Menschenrecht anerkannt wird, das weitaus wichtiger und unveräußerlicher ist als das Recht, einen Stimmzettel in die Wahlurne zu werfen. Wenn die Zeit erst reif ist, wird jeder unheilbar Kranke – und auch jeder “Verbrecher” – ein Anrecht auf die Beihilfe des Arztes haben, wenn er die Erlösung wünscht.

Dies soll nicht der Ort für die Diskussion der Sterbehilfe-Problematik oder ausufernde Kirchenkritik sein, aber dass es dieses Recht bis heute, zumindest in Deutschland, nicht gibt, liegt vor allem auch an kirchlichen Interventionen. Neben diesen aufklärerisch-liberalen Ideen gibt es aber auch eine unschöne Szene in Bezug auf ein behindert geborenes Kind, dem er das Leben rettet und dabei feststellen muss, dass seine Eltern es eigentlich lieber “losgeworden” wären. Erneut lässt Söderberg seinen Doktor die Doppelmoral der Gesellschaft sezieren; Gleiches beim Thema Abtreibungen.

Dieser Roman liest sich unglaublich locker und erst beim Innehalten wird man all der immer noch aktuellen Probleme der Ethik und Moral gewahr. Ein durch und durch moderner Roman, der dank Manesse in einer neuen Übersetzung, mit klugem Nachwort von Antje Rávic Strubel und gewohnt piekfeiner Aufmachung glänzt.

Parallelen der Figur Glas’ zu Raskolnikow aus Verbrechen und Strafe bzw. Schuld und Sühne von Fjodor Dostojewski und Thérèse Raquins aus dem gleichnamigen Romans Émile Zolas stellt dieser selbst am Ende des Romans fest, das Nachwort stellt diesen Bezug, zu Recht, auch literarisch her.

Erleuchtung durch Pop

Es gibt Bücher, die ich eigentlich doof finden will – Kassette auf dem Cover, Nilz Bokelberg (Ex-VIVA-Mann, Blogger, Moderator), das sieht nach einem Zeigefingerbuch aus: hört mal Kinder, was ihr alles für schlechte Musik hört, das muss aufhören. (So bin ich ja eigentlich auch, sowohl mit Büchern als auch Musik.) Ich will mir nicht sagen lassen was gute Musik ist, weiß ich doch. Und jetzt würde ich gerne sagen, der will nur belehren, der hat keine Ahnung. Aber nein, der will begeistern, der weiß Bescheid. (Hoffentlich bin ich so auch.)

nilz bokelberg endlich gute musikÜber lose zusammenhängende Episoden nähert sich Bokelberg der Geschichte seiner musikalischen Sozialisation, der Entwicklung seines Geschmacks. Pantera und die Smashing Pumpkins neben Italopop, NDW und The Housemartins und N.W.A. Bokelberg ist kein Rocker, kein Metaller, kein Hip Hopper – er ist bekennender “Popper” in dem Sinne, dass er all das hört, was ihm gefällt. Also kann er in dem einen Kapitel über Techno Tracks schreiben und im nächsten zugeben, dass er Halt mich von Grönemeyer großartig findet (so do I). Und so langsam zieht er mich in seinen Bann, trotz manchmal etwas holpriger Prosa und allzu häufigem Gebrauch des Worts cheesy, denn solche Schwächen werden durch Bokelbergs Leidenschaft ausgeglichen.

Diese Leidenschaft ist deswegen so ansteckend, weil nicht nur für jeden etwas dabei ist, was zwangsläufig bei einer solchen Bandbreite der Fall wäre, sondern, weil er Lust auf jedes der besprochenen Genres macht. Man fühlt mit dem jungen Nils/z als Kurt Cobain stirbt, man kennt das Problem des pubertierenden Nilz, der verzweifelt versucht seine neue Freundin von seiner Lieblingsmusik zu überzeugen und enttäuscht feststellen muss, dass man leider nicht passt. Bokelberg schafft es diese “Kenn-ich-doch-Geschichten” nicht nur so zu erzählen, dass sie Spaß machen, sondern dass sie berühren, dass man sich wieder erinnert was einem selbst Musik damals bedeutet hat und heute noch bedeutet.

Klar Saxophonsoli in Popmusik sind immer kitschig, warum also nicht eine Liste mit den 5 besten Saxophonsoli aufstellen? Die Liste ist in diesem Buch sowieso ein probates Mittel zur Vermittlung von Inhalten. Die besten Balladen, die besten Technotracks (obwohl er [und ich] eigentlich kein Techno hören), die besten Ärzte-Songs; im Kopf erstelle ich während der Lektüre bereits eigene Listen. Die Liebe zum Stöbern, das Bedürfnis einen Song unbedingt besitzen zu müssen, das Hören von Bootlegs in erbärmlicher Tonqualität, das Suchen nach der 10x Coverversion des Lieblingssongs – das alles könnte meine Geschichte sein. Spätestens bei seiner Predigt über die Größe von Weezer bin ich völlig überzeugt, ich will mit Bokelberg Bier trinken gehen und mit ihm über Musik reden, vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen und entlegene Perlen finden und natürlich am Rivers Cuomo Alter niederknien. Solange ich nicht in Berlin und nicht eingeladen bin, reicht mir erstmal sein Buch.

Zu jedem Kapitel gibt es am Ende eine Liste Weiterführendes auf die Ohren, die ich, war mal so frei, zusammen mit den meisten in den Kapiteln besprochenen Songs auf eine Spotify Playlist gepackt habe, ausgenommen sind, selbstredend, die Künstler, die es nicht bei Spotify gibt (z.B. Beatles, Ärzte):

Und weil man sich für keinen Song, den man liebt, wirklich schämen muss, egal wer ihn singt – soviel auch zum Thema Cover (danke für den Hinweis @BigTicket):

Ich ziehe mich jetzt zurück, vervollständige meine eigenen Listen und schreibe ein Buch über Musik, im Vorwort werde ich Nilz Bokelberg danken.

Last but not least: wer das Buch von Bokelberg schon gelesen hat und ähnliches sucht, dem sei Komm wir werfen ein Schlafgzeug in den Schnee: Die Poptagebücher von Eric Pfeil ans Herz gelegt.

P.S.: Alter! Miley Cyrus covert Jeff Buckley und zwar nicht das ausgenudelte Halleluja. MEGA! Ihr Jolene Cover bei derselben Session ist ein ähnlicher Kracher!

P.S. #2:

Friedhofsspaziergänge in Paris

Paris als eine der Überstätten der Kultur und europäischen Geistesgeschichte, ist vielen seiner Bewohner über deren Tod hinaus auch letzte Ruhestätte geworden. Bei meinen Besuch im Mai und erst kürzlich im November 2013 war es für mich Pflichtprogramm, die Gräber der von mir verehrten zu besuchen. Der Vorteil an dieser morbid-bedrückenden Freizeitbeschäftigung liegt in der besonderen Schönheit jedes der Friedhöfe, die meist, von teilweise auftretenden Touristengruppen abgesehen, einen starken Kontrast zum hektischen Paris außerhalb der Mauern darstellen. Zudem liegen sie nicht am Stadtrand, sondern finden sich inmitten der belebten Viertel Montmartre, Montparnasse, Pére Lachaise mitten in Belleville im Osten und das Panthéon fußläufig von der Sorbonne im 5. Arrondissement.

Bereits im Mai habe ich den Cimetière de Montmartre besucht. Direkt innerhalb des malerischen Künstlerviertels, in dem z.B. auch Die fabelhafte Welt der Amélie gedreht wurde, zu Füßen der Sacré-Cœur Basilika liegt dieser kleine Friedhof, auf dem, neben den untenstehenden, außerdem noch der Maler Edgar Degas, der Schriftsteller Alexandre Dumas der Jüngere (Die Kameliendame; der Ältere liegt im Pantéon, s.u.) die Brüder Goncourt, Stifter des gleichnamigen, wichtigsten Literaturpreis Frankreichs, der Komponist Jacques Offenbach, aber auch die Physiker Jean Bernard Léon Foucault und André-Marie Ampère liegen.
Zu meinem Beitrag zum Grab Heinrich Heines.

In unmittelbarer Nähe zu meiner Bleibe bei meinem Freund Max lag der Cimetière du Père Lachaise, der größte Friedhof Paris’. Dieser riesige Park ist wahrscheinlich einer der berühmtesten Friedhöfe der Welt. Hier brach der Kommune-Aufstand 1871 zwischen den Gräbern zusammen, die letzten 147 überlebenden Auständischen wurden am Rande des Gräberfeldes an der Mur des Fédérés erschossen und gemeinsam bestattet. Heute noch ein Wallfahrtsort für Linke aller Welt.

Ebenso Wallfahrtsort die Gräber von Oscar Wilde und Jim Morrison, inzwischen aufgrund des starken Publikumsandrangs aber mit einer Plexiglasscheibe geschützt bzw. abgesperrt. Hier ruht auch in einem kleinen neugotischen Tabernakel das berühmte Liebespaar Abaelard und Héloise. Wäre dies nicht alles schon genug liegen hier neben den unten abgebildeten u.a. noch Moliére, La Fontaine, Barbusse, Gertrude Stein, Edith Piaf, die Komponisten Bizet und Rossini sowie die Maler Delacroix und Max Ernst.

Als letzter der drei besuchten Friedhöfe, es gibt außerdem noch den Cimetière de Passy, auf diesem liegt aber “nur” Claude Debussy, der mich interessiert hätte, abschließend der Cimetière Montparnasse. Dieser Friedhof wurde 1824 nur für die Bewohner des linken Seineufers eröffnet. Auch hier liegen berühmte Franzosen und Weltbürger, vor allem des 20. Jahrhunderts. Nicht abgebildet weil nicht besucht oder nicht gefunden sind hier Guy de Maupassant, Camille Saint-Saëns, Charles Augustin Sainte-Beuve, Alfred Dreyfus, Joris-Karl Huysmans, Henri Poincaré und Susan Sontag. Seit dem Frühjahr diesen Jahres liegt hier auch Stéphane Hessel begraben.

Das Wort gibt es, zumindest bei den Franzosen, tatsächlich: Panthéonisierung. Es bedeutet, dass einem Verstorbenen die Ehre zuteil wird im Panthéon beigesetzt zu werden. Im Kreis der großen Männer Frankreichs liegt dabei nur eine Frau, obwohl Marie Curie streng gesehen ja eigentlich Polin ist. Erst kürzlich wurde diskutiert, ob Albert Camus panthéonisiert werden solle, was aber weder vor seinem 50. Todes- noch zu seinem 100. Geburtstag gelang und wohl auch nicht seinem Willen entsprechen würde, sprach er doch sogar davon, dass er seine stumpfsinnigen Jahre in Paris bereue, er der Dichter des Südens. So muss das Panthéon also weiterhin ohne Camus auskommen, hat doch aber trotzdem die Gräber großer Franzosen zu bieten, anders als auf den Friedhöfen ist man (als Franzose) hier wirklich unter sich, also die Toten, nicht die Touristen. Eine Gruft teilen sich Victor Hugo, Émile Zola und Alexandre Dumas (diesmal der Ältere), die großen Philosophen Voltaire und Jean-Jacques Rousseau liegen bereits am Eingang der Krypta. Im illustren Kreis ebenso Louis Braille, der Erfinder der Blindenschrift, nicht nur Marie, sondern auch Pierre Curie, der Widerstandskämpfer Jean Moulin und René Cassin, der für das Verfassen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1968 den Friedensnobelpreis erhielt. Ähnlich wie Camus wird wohl auch Charles de Gaulle nie in das Panthéon einziehen, verbat sich dieser sogar im Testament den Pomp eines großen Grabes und gar einer großen Beerdigung, auf seinen Wunsch wurde er in Colombey, einem winzigen Ort in der Champagne, beerdigt.

[Nachtrag] Durch den Beitrag von Birgit bin ich auf den virtuellen Rundgang über den Pére Lachaise aufmerksam geworden, hier kann man alle besuchen, die ich vergessen oder nicht gefunden habe.

Christopher Clark: The Sleepwalkers/Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog

Ich habe immer unglaublich fähige Leute in der Hinterhand, die ich mal für einen Gastbeitrag anhaue und habe endlich meinen alten Schulfreund Christoph dazu gebracht für 54books Die Schlafwandler bzw. The Sleepwalkers von Christopher Clark zu rezensieren:

Nach seiner hervorragenden Preußen-Chronik hat der australische Historiker Christopher Clark ein weiteres, viel beachtetes Werk vorgelegt. In “The Sleepwalkers” (deutsch: “Die Schlafwandler”) widmet sich Clark einem Ereignis, das uns im Zuge des bevorstehenden Super-Gedenkjahres in den kommenden Monaten noch ausführlich beschäftigen wird. Es geht um den ersten Weltkrieg, der viel zitierten ‘Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’.

christopher clark sleepwalkers coverGenauer gesagt beschäftigt sich der Autor mit der Genese dieses infernalischen Massenschlachtens und den europäischen Staaten, die als Schlafwandler zwar wach, aber zugleich auch blind für den von ihnen zu verantwortenden Horror auf den Schlachtfeldern Europas waren. Clarks umfassende Erzählung (knapp 900 Seiten in der deutschen Übersetzung) hört genau dort auf, wo der Schlachtendonner beginnt. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – dürfte es schwer werden, in der nächsten Zeit eine spannendere Neupublikation zum Themenkomplex 1. Weltkrieg zu finden. Denn die Kriegsvorgeschichte ist ein faszinierender Stoff!

Das Buch bietet ein Panorama der europäischen (Staaten-)Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei richtet sich der Blick vor allem auf die “Big Five” (England, Frankreich, Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn) und deren diplomatische Beziehungen im Vorfeld des Krieges. Hierbei wird deutlich, wie undurchsichtig das Machtgefüge dieser Zeit war. Jeder Staat war – trotz seiner Bündnisverpflichtungen – ein autonomer Akteur, der seine Mitspieler mit großem Misstrauen beäugte. Hinzu kamen sich stets wandelnde innenpolitische Machtkonstellationen, enormer Einfluss einzelner Personen und verschiedene Machtzentren in den jeweiligen Staaten (daher auch die Kapitel “Wer regiert in St. Petersburg/Berlin/Paris?”).

Aufgrund dieser verworrenen Konstellation hält Clark das Vorspiel zum 1. Weltkrieg für das komplexeste Ereignis der modernen Geschichte. Sicher eine steile These, die aber zweifellos von der Erzählung untermauert wird. Fehleinschätzungen der Positionen der Anderen waren jedenfalls vorprogrammiert – und letztlich ein wichtiger Auslöser der Katastrophe, wie Clark vor allem im Falle Deutschlands zeigt. Clark gelingt es auch, scheinbar periphere Ereignisse der Vorkriegszeit zu beleuchten. Denn wer hat schon wirklich einmal vom Königsmord von Belgrad, dem italienischen Angriff auf zwei osmanische Provinzen oder den beiden Balkankriegen von 1912/13 gehört? Obwohl auf den ersten Blick nebensächlich sind diese Kapitel ein wichtiger Teil des Buches, da sie zum Gesamtbild der Epoche beitragen (auch wenn, zugegeben, die Feinheiten der serbischen Innenpolitik zu Beginn des Buches doch ein paar Längen haben).

Clark AutogrammClark beweist, dass er nicht nur ein hervorragender Historiker ist, der sich durch abertausende Quellen wühlen kann und dabei trotzdem die Materie im Blick behält, sondern auch über erzählerische Qualitäten verfügt. Dies zeigt sich in den vielen kleinen Porträts, die er von den zentralen Figuren der Zeit entwirft. Besonders gelungen, weil komisch und erschreckend zugleich, sind die Ausführungen über Conrad von Hötzendorf, dem Generalstabschef Österreich-Ungarns, der ein episodenreiches Liebesleben hatte und auf neue internationale Situationen stets gleich mit dem Ausruf “Krieg!!!” reagierte.

Besonders gut hat mir die Beschreibung der Julikrise nach dem Attentat auf Franz Ferdinand und Sophie Chotek gefallen, die sich wie ein historischer Krimi liest, der immer wieder zwischen den Handlungen der verschiedenen Staaten und Akteure hin und her springt. Clarks große Leistung ist, die komplizierten Verflechtungen der europäischen Diplomatie aufzudröseln und zu einer spannenden Erzählung zusammenzufügen. Interessant sind am Ende die Ausführungen zur Kriegsschuldfrage. Clark entzieht sich hier einem klaren Urteil. Zum einen daher, weil dieses Buch diese Frage gar nicht beantworten möchte (das “Wie konnte es passieren?” steht im Vordergrund). Zum anderen, da aufgrund der so wahnsinnig komplizierten Sachlage diese Frage nur schwer zu beantworten ist. Besonders schön fand ich zu diesem Punkt folgende zwei Sätze, die ich im Original zitieren möchte:

“The outbreak of war in 1914 is not an Agatha Christie drama at the end of which we will discover the culprit standing over a corpse in the conservatory with a smoking pistol. There is no smoking gun in this story; or, rather, there is one in the hands of every major character.”

In diesen Worten zeigt sich die Tragik der Ereignisse unmittelbar vor Kriegsausbruch. Statt auf eine Verhinderung des Krieges hinzuwirken, waren die beteiligten Staaten eher bestrebt, Gründe für die eigene Bedrängung durch andere zu finden. Unschuldig, das wird nach der Lektüre des Buches deutlich, ist in dieser Geschichte niemand. Die Einschätzung, wie sich die Schuld auf die einzelnen Akteure verteilt, überlässt Clark dem Leser selbst.

Christoph May hat Publizistik, Amerikanistik und Politik in Mainz und Iowa studiert und war Sportler der Woche der Hersfelder Zeitung. Er absolviert gerade sein Volontariat bei einer Kommunikationsagentur.