Jahr: 2013

Maus von Art Spiegelmann

 

mauart spiegelmann mausMich muss nun wirklich keiner zum Lesen von Literatur über die Zeit des Nationalsozialismus anspornen, dagegen habe ich immer noch Berührungsängste mit Comics, respektive Graphic Novels. Einer der Pioniere, der auch in Deutschland geholfen hat dieses Genre zu etablieren, ist Art Spiegelmann mit seinem Pulitzerpreis gekrönten Comic Maus.

Wladek ist der Vater Arts und hat den Holocaust überlebt. In mehreren Sitzungen erzählt er dem Sohn seine Geschichte und immer wieder scheint im Alltag das Leid dieses Mannes durch, der deutlich gezeichnet ist, von dem was ihm und seiner Familie angetan wurde. Ein Nörgler, ein Geizkragen, der dem Rest der Seinen auf den Wecker geht, in vielen Punkten ein Unbelehrbarer, für den man immer mehr Mitgefühl entwickelt während er seine Geschichte erzählt.

Sein Leben im Ghetto, Verstecken, Arbeitslager und am Ende Auschwitz und wieder Flucht, Verstecken, der Verlust fast der gesamten Familie, auch der Frau, die sich nach dem Krieg das Leben nimmt. Teilweise unglaublich wie Wladek überlebt, doch er ist klug und hat Glück, fast aberwitzig manche Zufälle, doch dies ist eine wahre Geschichte und das verstärkt deren Kraft ungemein.

[…] weil der Mensch sich das Schlimmste immer nur am Einzelschicksal vorstellen kann und weil dieses Schlimme besonders empfunden wird, wenn es ein fröhliches junges Mädchen trifft.
Michael Maar in: Heute bedeckt und kühl

Diese Kraft wird durch einen archaischen graphischen Stil verstärkt. Ganz in Schwarz-Weiß gehalten und teilweise fast roh anmutend zeichnet Spiegelmann was mit Worten so schwer zu beschreiben ist. Die Juden sind bei ihm Mäuse, Polen Schweine, Deutsche und Nazis Katzen. Erst etwas verwirrend, stellt sich dies im Lauf der Lektüre als genialer Schachzug dar. Durch die Entmenschlichung der Figuren scheint Spiegelmann eine Form zu finden sich der eigenen Geschichte zu nähern ohne von der Last der Vergangenheit erschlagen zu werden, handelt es sich doch auch um ein sehr persönliches Buch. Die Geschichte des Vaters wird immer wieder durch den Alltag und den Vorgang des Erzählens der Geschichte unterbrochen, immer wieder wird deutlich, dass Wladek ein gebrochener Mann ist, der nie die an ihm begangenen Verbrechen überwinden wird. Die Persönlichkeit Wladeks hat nicht überlebt, wie sein Sohn feststellen muss. Zwangsläufig überläuft einen Gänsehaut, wenn man die Geschichte der Maus wieder auf den Menschen Wladek überträgt.

IMAG1077Die Tiermetapher bleibt wandelbar und trägt die Geschichte mit. Die jüdische Maus ist Ungeziefer, ihr natürlicher Feind die Katze. Gibt die Figur vor zu einer anderen Tierrasse zu gehören, trägt sie eine Maske derselben, so auch Spiegelmann, wenn er sich selbst als Zeichner darstellt: ein Mensch mit Mäusemaske. Franzosen, die in den USA auch Frogs genannt werden, werden als Frösche dargestellt. Erst nur Mittel zur Distanzierung werden die Tiere zum Vehikel für die ganze Geschichte und geben ihr eine eigene Eindringlichkeit, denn es waren eben nicht die Tiere.

IMAG1076Niemand kann verstehen Auschwitz, gibtWladek zu. Daher ist es umso wichtiger, dass man es immer wieder versucht und dieses Buch ist ein großer Schritt in der Heranführung an dieses Thema, ohne Dinge zu vereinfachen, denn die Tiermetaphern führen nie zu einer Banalisierung. Viele Stellen in diesem Buch haben mich tief berührt und das obige Zitat von Michael Maar bewahrheitet sich wieder einmal, mit einem individuellem Schicksal vor Augen, erleben wir Geschichte und die damit verbundenen Leiden anders – sei es das Schicksal einer Maus, es ist das Schicksal eines mausgewordenen Menschen, einer tiergewordenen Familie.

Dies ist ein wichtiges Buch, hoffentlich ein Buch was tatsächlich (junge) Menschen dazu bringen kann sich mit dem düstersten Kapitel deutscher Geschichte auseinanderzusetzen, Maus hat das Zeug Berührungsängste zu überwinden. Macht es zur Schullektüre!

Alice Munro

“Writing this letter is like putting a note in a bottle – And hoping it will reach Japan”
Alice Munro, To reach Japan

Aus Nobel-gegebenen Anlass ein paar Worte von Saskia zu Alice Munro.

Alice Munro war ein Märchenkind. Die kleine Meerjungfrau von Hans Christian Andersen hatte es der kanadischen Farmerstochter besonders angetan, eine fremde Geschichte voller Sehnsucht und Verlangen. Nur das Ende war ihr ein wenig zu traurig und so schrieb sie kurzerhand ein neues.

Viele Jahrzehnte später ist Alice Munro (82) Literatur-Nobelpreisträgerin und irgendwo in ihren bedächtigen Kurzgeschichten ist sie eine Märchen-Erzählerin geblieben. Nicht im Sinne von abenteuerlichen Feen- und Fabelgeschichten. Ihre weiten kanadischen Landschaften sind eher kühle Einöden als verzauberte Märchenwälder. Prinzessinnen werden nicht von feuerspeienden Drachen bewacht, sondern von strengen Vätern und Kleinstadt-Konventionen. Bei Munro haben die Märchen Grauschleier, niemand will die Welt erobern, weil schon der nächste Schritt mühsam genug ist.

 Trotzdem wohnt allen ihren Geschichten ein unbedingter Wille zur Magie inne. Mikro-Magie vielleicht, die in alltäglichen Momenten und winzigen Dosen wirkt. Immer wieder gibt es Augenblicke, die einen Charakter verändern und ein paar Zentimeter wachsen lassen. Eine Hausfrau arrangiert ein Kammerkonzert im eigenen Wohnzimmer und lehnt sich damit zum ersten Mal gegen den Schraubstockwillen ihres Mannes auf. Eine Party bei einem Kollegen schickt eine Dichterin auf eine lange Zugreise, die sie weg von ihrer vernünftigen Ehe in die Ungewissheit führt. Munros Figuren müssen in den kurzen Geschichten nicht zwingend irgendwo ankommen. Viele Fragen bleiben unbeantwortet, viele Konflikte ungelöst, wichtig ist nur, dass sich jemand auf einen Weg gemacht hat.

Dass die Erzählungen trotzdem so eindrücklich sind, liegt daran, dass Alice Munro ein nachhaltiges Sprachkraftwerk ist. Mit ihrem langsamen Erzählstil nimmt sie die kleinen Schritte ihrer Figuren ernst und verleiht ihnen Kraft, ohne sie durch sprachliches Feuerwerk zu überhöhen.

Die Autorin beherrscht die Kunst, mit wenigen Sätzen die Essenz einer Situation zu beschreiben. So beginnt ihre Erzählung „Haven“ mit einer Bemerkung über die Haarlänge der Dorfjugend. Es waren die Siebziger, die Haare waren länger, aber längst nicht so lang, dass wirklich jemand Anstoß nehmen konnte.  Dieses Detail setzt den Ton für den Rest der Geschichte: es gibt keine Revolution, nicht mal eine offene Konfrontation, sondern höchstens feine Risse in erstarrten Strukturen.

 Mit oder ohne Nobelpreis ist Alice Munro eine lupenreine Literatin, motiviert durch ihre Lust am Erzählen und dem Format der Kurzgeschichte. Ihre Worte erinnern an verblichene Fotografien, die zwar etwas Verlorenes zeigen, auf denen der Zauber des Moments aber noch zu erahnen ist. Vielleicht ist dies ein seltener Fall von perfekter Arbeitsteilung zwischen einer Autorin und ihren Figuren: Viele Protagonisten scheinen kalt und emotional blutarm, doch die Märchenleserin Alice Munro besitzt genug Magie, um voll Wärme von ihnen zu erzählen.

Saskia ist Studentin, freie Journalistin und Kunstvermittlerin in unterschiedlichen Prozentsätzen. Im Bloggen ist sie genauso erfahren wie Alice Munro.

Chanson für eine Frankfurterin

Nächste Woche ist Buchmesse in Frankfurt, der gebürtige Hesse spicht von “de Mess”, der gebürtige Berliner Kurt Tucholsky stimmt euch mit seinem “Chanson für eine Frankfurterin” ein.

Wenn die alte Herrn noch e mal Triebe ansetze –
des find ich goldisch!
Wenn se dann nix wie Dummheite schwätze –
des find ich goldisch!
Des hab ich von meim alte Herrn:
ich hab halt die Alt-Metalle so gern …
Wenn ich en Bub geworde wär, hätt ich auch Metallercher verzollt –
Ja, Jaköbsche …
Rede is Nickel, Schweige is Silber, und du bist mei Gold – !

Wenn se newe mir auf dem Diwan sitze –
des find ich goldisch !
Wenn se sich ganz wie im Ernst erhitze –
des find ich goldisch !
E Angriffssignal is noch kei Siesch –
ich sag bloß: Manöver is doch kein Kriesch !
Wer will, hat schon fuffzig Prozent. No, un wer zweimal gewollt …
En Floh is kei Roß,
un e Baiss is kei Hauss …
und Rede is Nickel, Schweige is Silber, un du bist mei Gold – !

Wenn se sich de Hut schief auf de Seite klemme –
des find ich goldisch !
Wenn se die Ärmcher wie Siescher in die Seite stemme –
des find ich goldisch !
Am liebste nemm ich se dann auf den Schoß.
Aber mer hat sein Stolz. Es is kurios:
sei Mutter is net aus Frankfort. Er aach net. Und da hab ich net gewollt

Jetzt waan net, Klaaner –
Berlin ist Nickel, Wiesbaden ist Silber, awwer Frankfort is Gold – !

Es ist der Alltag, der unser Leben ausmacht!

Die Tagebücher von Samuel Pepys sind vor nicht allzu langer Zeit bei Reclam neueditiert aufgelegt worden, meine Frau Mama erwarb sie, ich schmökerte rein, begann mich aber schnell zu langweilen, kenne den Kerl ja nicht. Über seine Urteile zu Shakespeare Stücken kann ich schmunzeln:

“Ein Sommernachtstraum” […], ein Stück, das ich noch nicht gesehen habe und auch nie wieder sehen werde, denn es ist das geschmackloseste, lächerlichste Zeug, das ich mein Lebtag gesehen habe.

michaelmaarheutebedecktundkuehlWarm geworden bin ich trotzdem mit ihm nicht. Das London des 17. Jahrhunderts ist ein ziemlich schwarzer Fleck in meiner Bildung. Aber jetzt habe ich ein Buch genossen, das mir alle Arbeit abnahm: Heute bedeckt und kühl – Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf von Michael Maar erschienen bei C.H.Beck. In seinem Großessay hat Maar die (subjektiv) wichtigsten und interessantesten Tagebücher großer Literaten ausgewertet. Natürlich sind die bekannten Diaristen (tolles Wort!) Thomas Mann, Ernst Jünger, Franz Kafka, Harry Graf Kessler, sowie besagter Pepys allesamt vertreten, aber auch Menschen, die  und/oder ihr Tagebuchwerk ich nicht kannte: Sylvia Plath, Brigitte Reimann, Julien Green und Henri-Frédéric Amiel.

Aufhänger für die Kapitel sind die Fragen “Warum Tagebuch schreiben” und “Warum die Tagebücher anderer lesen”, aber bereits mit den ersten Zitaten gerät Maar ins Schwärmen, kommt aus dem Zitieren nicht mehr raus, ein riesiger Berg von Fundstellen türmt sich auf, eine kurioser, witziger, nachdenklicher als die andere. Man braucht einen sehr großen Zettel, um die ganzen Werke mitzuschreiben, auf die man beim Lesen Lust bekommt. Ein nicht versiegender Brunnen von Neuentdeckungen: Die Tagebücher von John Cheevers sind so grandios, dass ich unbedingt seine Romane lesen will, Susan Sontag, Walter Kempowski, Harry Grad Kessler, Peter Rühmkorf, Brigitte Reimann jetzt wo ich sie privat kenne, will ich mehr von ihnen lesen und selbst wenn Arno Schmidt als der unsympathischste Griesgram aus seinen Tagebüchern heraustritt, macht die Lektüre derselben Lust auf seine Bücher.

Einziger Wermutstropfen das häufige Versteckspiel am Anfang eines jeden Kapitels, wenn der Urheber der zitierten Tagebücher erst gegen Ende preisgegeben wird, am Anfang noch spannendes Stilmittel, unterliegt es mit fortlaufender Wiederholung zäher Abnutzung.

Dann wieder weiß Maar aber scheinbar so leicht Dinge zu erklären, wenn er bei der Lektüre der Tagebücher Victor Klemperers oder Anne Franks, nebenbei feststellt:

[…] weil der Mensch sich das Schlimmste immer nur am Einzelschicksal vorstellen kann und weil dieses Schlimme besonders empfunden wird, wenn es ein fröhliches junges Mädchen trifft.

Genau so ist es, mehr ist dazu nicht zu sagen!

Aber den Grund für die erhebende, interessante Lektüre von Tagebüchern bringt dann Walter Kempowski in den eigenen Aufzeichnungen auf den Punkt und damit möchte ich schließen.

Weiter in den Tagebüchern von Pepys. Der Vormarsch der Türken in Ungarn, die Pest in London. Ich las die ganze Nacht. Die Alltäglichkeiten sind es, die diese Aufzeichnungen so interessant machen. “Kaufte mir heute eine grüne Brille.” Das ist es. Das macht unser Leben aus.

Inzwischen twittert Samuel Pepys übrigens.

Der Gang vor die Hunde

Fabian trat zum Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Stapeln darauf. Darüber an der Wand, hing eine Stickerei mit der Inschrift: “Nur ein Viertelstündchen.” Er hatte, als er einzog, den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern angebracht.

Spontan fällt mir kein Autor ein, der mich in dieser Form seit meinen frühen Kindertagen bis heute so gleichbleibend begeistert hat und zwei Werke stechen aus seinem Oeuvre, wahrscheinlich nicht nur für mich, besonders heraus: Emil und die Detektive und Fabian. Schon anlässlich meines Dresden Besuchs im Sommer hatte ich Fabian  – Die Geschichte eines Moralisten wiedergelesen und greife nun erneut zu ihm. Der Gang vor die Hunde heißt es in der Neuauflage nun, in der Version, der Urfassung, die Erich Kästner eigentlich veröffentlichen wollte. Ein Buch voller Leben, Sterben, Politik und Sex. Die Neuausgabe liefert die Urfassung “erstmals als durchgehend lesbaren Text, mit allen gestrichenen Passagen und der Rekonstruktion stilistischer Details.” Die Aufzählung und Kommentierung der Änderungen, Umarbeitungen, Streichungen, Neubearbeitungen und Wiederveröffentlichung gestrichener Kapitel ist müßig und nicht meine, sondern die, mit Bravour erledigte, Aufgabe des Nachwortes der neuen Ausgabe. Ich will dagegen lieber die Kraft und Schönheit dieses Werkes preisen.

erichkaestnerdergangvordiehundefabian(Jakob) Fabian ist Germanist im Berlin Anfang der 30er Jahre und rutscht aus einem Job in der Werbung für Rauchwaren in die Arbeitslosigkeit. Er zieht mit seinem Freund (Stephan) Labude durch die Berliner Clubs, Ateliers, trifft Frauen, Arbeitslose, Nazis und Kommunisten; er verliebt sich und wird verletzt. Das trostlose Berlin von damals, das versucht seinen Dreck mit dem Glitzer von Bordellen zu übertünchen, wird von Fabian als (fast) Außenstehendem porträtiert. Menschen, die verzweifelt versuchen Arbeit zu finden, resignieren und wieder Hoffnung schöpfen, solche die sich und ihre Ideale für Karriere und schnelles Geld verkaufen, reiche und geniale Erfinder, die zur Rettung der eigenen Gesinnung lieber zu Bettlern werden und bei Fremden auf dem Sofa schlafen, alle sind sie hier versammelt und durch alle Zeilen starrt den Leser immerzu die Fratze des Verfalls der Weimarer Republik an. Fabian der Moralist wird zum Realisten und gebrochenen Mann. Die Entwicklung zur Tragödie hat mich, nicht nur, beim ersten Lesen, damals aber besonders nachhaltig, tief berührt (und so etwas sage ich doch recht selten?!).

Beim Wiederlesen und Sehen der Verfilmung war ich überrascht wie viel Sex in diesem Buch steckt, aber auch wie viel hellsichtige Weissagung der Zukunft Deutschlands und Europas ohne in den Pessimismus abzugleiten – es bleibt die Geschichte eines Moralisten, während die Welt den Gang vor die Hunde antritt. Kästner war anwesend als die Nazis seinen Fabian in die Flammen warfen, Nazideutschland ist schwer denkbar, wenn Deutschland erkannt hätte, was Kästner schon 1931 wusste.

Diese Neuveröffentlichung ist richtig, sie ist wichtig! Eine neue Kraft schöpft dieses bahnbrechende Werk durch seine (Rück-)Bearbeitung, z.T. ungeschliffene Rohheit vermittelt eine neue, ursprünglichere Authentizität. Nicht missen möchte ich dieses Buch, die Erinnerungen an die erste Lektüre, den flauen Magen am Ende. Ich kann jeden nur ermutigen dieses Buch (wieder) zu lesen, warum nicht die Neuausgabe zum Anlass nehmen; derweil suche ich meine alte Ausgabe von Emil und die Detektive.

Nota bene auf dem Headerfoto von 54books sieht man den Rücken meiner Erstausgabe von Fabian, deren Inhalt mit dem hier besprochenen manchmal wenig gemein hat.

Gespräch mit Oliver Hilmes

Es folgt die Dokumentation des Gesprächs, das ich mit Oliver Hilmes in Hohwacht geführt habe. Da man sich mit interessanten Leuten lange unterhalten kann, gibt es auch viel Text. Aufgeteilt ist das Gespräch in drei Abschnitte: “Die Arbeit als Historiker”, “Die Wahl der Themen” und “Klassiker des Genres”, wer also springen mag, darf das tun, aber – obacht! – die ganze Lektüre lohnt!

Ihre Arbeit als Historiker

54books: Verstehen Sie sich als Historiker oder Populärwissenschaftler?

Dr. Oliver Hilmes: Ich bin Historiker! – weil ich Geschichte studiert habe und das Schreiben meiner Bücher eben auch als historische Arbeit begreife. Der Widerspruch ist nur in Deutschland ein Widerspruch. Im angelsächsischen Bereich gibt es diesen nicht. Christopher Clark, der mit allen akademischen Meriten versehen ist, kann trotzdem Bestsellerautor sein. Aber er ist Biograph: Er hat eine Biographie über Wilhelm II. geschrieben, über das deutsche Kaiserreich, über Preußen – im angelsächsischen Bereich geht das. Nur in Deutschland galt das Schreiben von Biographien jahrzehntelang als unakademisch.

Ein ganz berühmter deutscher Historiker, Hans-Ulrich Wehler, hat Anfang der 70er Jahre ein Buch über das deutsche Kaiserreich geschrieben, weit verbreitet, viel gelesen. In diesem Buch über das deutsche Kaiserreich kommt der Kaiser gar nicht vor. Das heißt, da wird Geschichtswissenschaft als reine Systemkritik und Systemanalyse betrieben, unabhängig von Personen. Das hat sich in den letzten Jahren stark geändert. Es gibt sehr viele Historiker, die mittlerweile auch Biographien schreiben.

Ich sehe mich in der angelsächsischen Tradition und finde eine seriöse, historisch recherchierte, handwerklich sauber gearbeitete Biographie kann – wenn man das kann – hervorragend geschrieben sein. Ich bin Historiker, ich habe zur gleichen Zeit aber auch einen literarischen Anspruch. Ich will natürlich literarisch möglichst gut schreiben.

54books: In Königsalleevon Hans Pleschinski nennt sich Golo Mann, von Pleschinski in den Mund gelegt, einen schriftstellernden Historiker. In solchen Zwitterkategorien müssen Sie also nicht denken, wenn Sie zu Anfang sagen: „Ich bin Historiker!“ Oder ist das alles vielmehr eine Frage der Rezeption?

Dr. Oliver Hilmes: Ich bin Schriftsteller oder Publizist, das kann man nennen wie man will, aber ich schreibe Texte, ich gehe mit Sprache um. Das ist wahrscheinlich ähnlich wie in der Medizin: Sie können Dermatologe oder Arzt für Geschlechtskrankheiten sein, aber Sie haben Medizin studiert. Das eine ist die Ausbildung, das andere ist der Tätigkeitsbereich. Ich habe Geschichte studiert, aber mein Tätigkeitsbereich ist die Schriftstellerei. Populärwissenschaft ist in Deutschland aber auch immer so pejorativ besetzt, das hat immer gleich so ein bisschen was Unseriöses. Aber populär sein, im Sinne von „für die Leser zu schreiben“, das ist ja nichts Schlimmes.

54books: Viele Klassiker werden zu Graphic Novels verarbeitet. Eine der neusten Strömung in diesem Bereich sind Biographien als Graphic Novels: Munch, Kafka, Stefan Zweig. Nehmen Sie solche neuen Strömungen wahr oder ist diese zu populär für Sie?

Dr. Oliver Hilmes: Nicht zu populär! Wenn ich sagen würde: „Das ist mir zu populär“ das würde ja beinhalten, dass ich mich damit auseinandergesetzt habe und es ablehne, aber das ist gar nicht der Fall. Ich weiß gar nicht was eine Graphic Novel ist.

54books: Das ist quasi ein Comic für Erwachsene.

Dr. Oliver Hilmes: Comics haben mich eigentlich nicht interessiert und für Erwachsene auch nicht. Ich kann es nicht ablehnen, ich kenne es gar nicht. Dagegen kann ich Ihnen auch sagen, es kommt für mich nicht in Frage, weil es mich nicht interessiert.

Naja also ich finde es super, dass es solche Dinge gibt, aber man kann sich auch nicht für alles interessieren. Wenn Sie mich jetzt fragen würden: „Haben Sie etwas dagegen, dass Ihre Biographien getanzt oder vertanzt werden?“ Dann habe ich auch nichts dagegen, es interessiert mich aber genauso wenig. Da muss man Mut zur Lücke haben indem man sagt: „Finde ich super, aber interessiert mich nicht.“

54books: Sind Sie der Ansicht, dass man Zeitgeschichte anhand eines Lebens beschreiben kann? Haben Sie beim Schreiben das Gefühl, dass Sie nicht nur das Leben der Person einfangen, sondern die ganze Geschichte dieser Zeit?

Dr. Oliver Hilmes: Natürlich kann man nicht die ganze Geschichte einer Zeit mit Hilfe eines Lebens erzählen. Aber das ist natürlich mein Ansatz: ich erzähle die Geschichte einer Person, sei es Alma, Cosima oder andere, aber gleichzeitig eben auch Geschichten. Wenn ich Details in den Leben schildere, muss ich ja auch wahrnehmen was drum herum in der Welt geschehen ist oder in Wien oder Weimar oder wo immer sie sich eben aufgehalten haben. Das muss man ja wahrnehmen und das hat ja ihr Handeln beeinflusst. Und das ist das Doppel, das ich oft gerne beschreibe: Ich erzähle die Lebensgeschichte, Geschichte und Geschichten.

Es ist ein schönes Kompliment wenn die Leute mir sagen, dass sie durch meine Bücher auch etwas über die Zeit gelernt haben. Unabhängig von der einzelnen Person, z.B. über das fin de siècle in Wien oder in Berlin. Das finde ich schön, denn das ist auch mein Anliegen, dass ich das einfange, dass ich die Figur nicht gelöst von ihrem zeitlichen Kontext betrachte.

54books: Würde sich der Historiker Oliver Hilmes trotzdem auch ein einzelnes Thema, beispielsweise den dreißigjährigen Krieg herausnehmen?

Dr. Oliver Hilmes: Ja könnte passieren, jetzt nicht unbedingt der dreißigjährige Krieg. Aber ich bin nicht mein Leben lang auf Biographien festgelegt – warum nicht mal die Geschichte einer Epoche oder einer Stadt, eines Hotels oder was auch immer?

54books: Würden Sie die Biographie einer Person schreiben, die noch lebt?

Dr. Oliver Hilmes: Wahrscheinlich nicht. Es hinge aber von der Person ab und es wird nur dann Sinn machen, wenn ich von der Person eine carte blanche bekäme, dass diese Person mir in die Hand, besser in Form eines juristischen Schriftstücks, verspricht, dass sie mir da nirgendwo reinredet und ich wirklich alles zu Gesicht bekomme und ich alles verwenden kann. Das ist die Grundbedingung. Eine Gefälligkeitsbiographie, das würde ich nicht machen.

54books: Sowohl bei Ihrer Alma als auch Ihrer Cosima Biographie schildern Sie wie Sie von der ausufernden Quellenlage erschlagen werden. Muss der Historiker der Zukunft bei der Porträtierung einer Person des 21. Jahrhunderts alle Tweets, den E-Mail-Verkehr, die SMS und die Facebook-Einträge dieser auswerten. Wie kann man das kanalisieren, kann man den Anspruch auf Vollständigkeit dann überhaupt aufrechterhalten?

Dr. Oliver Hilmes: Das ist eine sehr gute Frage. Vor allen Dingen eine Frage, deren Beantwortung sehr schwer fällt. Vor allem eine Frage an die Archive. Wie archiviert man das? Wie archiviert man E-Mails? Druckt man die alle aus, archiviert man Festplatten, die sich vielleicht in 50 Jahren alle auflösen, oder in 20 Jahren nicht mehr funktionieren.

Aber auch was vorgestern bei Facebook bei irgendwem stand, ist heute auf Grund der Flut von 10000 neuen Nachrichten gar nicht mehr greifbar. Weiß ich gar nicht wie man damit umgehen soll und vielleicht auch ein weiterer Grund, warum ich mich von Zeitgenossen fernhalte, weil dies wirklich schwer ist.

54books: Ist es für Sie Fluch oder Segen, wenn die Autobiographie von einer Person vorliegt oder nur eine weitere, vielleicht zaghaft anzufassende, Quelle?

Dr. Oliver Hilmes: Das ist eine Quelle von vielen. Aber natürlich eine sehr wichtige, weil es eben das Selbstbild der Person ist, wie sie sich sieht und wie sie gewesen oder annähernd gewesen ist. Sie bietet aber auch einen gewissen Faden zur Orientierung, gibt aber natürlich auch immer wieder wunderbare Möglichkeiten die Person zu hinterfragen, weil die Autobiographie ein Genre ist, in dem viel gelogen wird, das liegt in der Natur der Sache. Gerade aber indem man diese Retuschen auch aufdeckt, indem man nachweist, das hat sie jetzt aber schön getürkt, kann man ganz viele weitere Aufschlüsse über diese Person gewinnen.

54books: Gerade bei Ihrer Alma Biographie greifen Sie als Autor stellenweise ein und Mahnen zur Vorsicht mit den teilweise sehr heftigen Tagebuchaufzeichnungen, nach dem Motto „Lieber Leser, was würden Sie Ihrem Tagebuch anvertrauen?“. Wie sehr wollen Sie selber eingreifen in das Bild, das sich der Leser macht?

Dr. Oliver Hilmes: Also Eingreifen will ich gar nicht. Ich will vor allem nicht lenken im Sinne davon, dass eine bestimmte Position übernommen werden soll, will aber auch die Person nicht verurteilen oder reinwaschen. Ich will die Quellen sprechen lassen, muss diese aber auch in ein Verhältnis zu einander setzen, muss sie interpretieren. Natürlich muss man die Quellen aber auch hinterfragen, ob sie überhaupt zutreffend. Das alles nennt man Quellenkritik. Aber diese erwähnten Zwischenrufe, das mache ich allerdings auch sehr selten, weil es auch ein Stilmittel ist, das sich abnutzt, wo ich in bestimmten Momenten zum Innehalten einlade und sage „Okay das ist ziemlich krass, aber lasst uns mal ehrlich sein, wie würden wir uns in so einer Situation verhalten?“ Das sind aber nur Zwischenrufe, ich will nicht beeinflussen oder lenken, das sind nur Angebote zum Innehalten.

Die Wahl Ihrer Themen

54books: Sowohl Alma, als auch Cosima sind eher die Nebenfiguren großer Männer. Ordnen wir Cosima an das Ende des 19. und Alma an den Anfang des 20. Jahrhunderts ein. Fällt Ihnen spontan im 18. oder im 21. Jahrhundert eine ähnliche Frauenfigur ein?

Dr. Oliver Hilmes: Da muss ich nachdenken. – Mir hat ein politischer Journalist mal gesagt: „Es gibt eine Person, die unbedingt mal porträtiert werden muss: Marianne Strauß, die Ehefrau von Franz Josef Strauß.“ Die muss wohl, wie man so sagt, einen maßgeblichen Einfluss auf ihn und sein politisches Wirken gehabt haben. Das kann ich so nicht beurteilen, aber die fällt mir jetzt spontan ein. Da gibt es vielleicht man ein kleines Bändchen, aber ich weiß nicht ob es eine volle Marianne Strauß Biographie gibt, das ist das eine. Das andere ist, ob so eine Biographie heute überhaupt noch gekauft und rezipiert wird. Franz Joseph Strauß ist schon so lange tot und seine Frau noch ein bisschen länger. Bis auf die mythische Figur Strauß, schwer zu sagen, ob so was heutzutage überhaupt noch trägt.

Das Gleiche, aber das ist natürlich durch, Hannelore Kohl. Sie war eben „die Frau an seiner Seite“, die vielleicht nicht die Karriere gestaltet, aber erst ermöglicht hat.

54books: Liszt – Cosima – Cosimas Kinder und jetzt Ludwig II. von Bayern. Man erkennt in Ihrem Schaffen durchaus eine, nicht nur familiäre, Reihe [Franz Liszt war der Vater von Cosima Liszt-Bülow-Wagner; Cosima, man mag es kaum glauben, die Mutter ihrer Kinder; Ludwig II. war der Mäzen von Richard Wagner]. Wie setzen Sie die Reihe fort oder tanzen Sie aus dieser?

Dr. Oliver Hilmes: Ich weiß es nicht. Aber das hat sich auch so ergeben, das war keine Strategie, sondern man lernt, wenn man sich mit einer Person beschäftigt so viele Personen kennen, die man vorher gar nicht auf dem Schirm hatte. Die Figur von Franz Liszt war mir als Musikliebhaber natürlich vertraut und ich habe seine Musik auch immer sehr gemocht, aber bevor ich begann mich mit Cosima zu beschäftigen, wusste ich über Liszt nicht so arg viel, vor allem nicht ob es gescheite Biographien über ihn gibt. Als ich mich aber mit Cosima beschäftigte, musste ich mich zwangsläufig auch mit ihrem Vater beschäftigten und da merkt man dann: „Aha da gibt es ja gar nichts oder nichts Gescheites oder nichts in deutscher Sprache.“ So kommt man dann von einem zum anderen. Das war aber keine Strategie. Dazu sind die Überschneidungen auch nicht stark genug. Liszt z.B. hat ja nun Jahre fern von seiner Tochter gelebt und bei Ludwig II. spielt natürlich Richard Wagner eine wichtige Rolle, aber nicht die entscheidende. Das sind nur Berührungspunkte. Nur ein Bruchteil meines neuen Buches über Ludwig II. wird sich mit Wagner beschäftigen – er war Politiker, Regierungschef und ich will vor allem auch das Politische in seinem Leben darstellen.

Klassiker des Genres Biographien

54books: Gibt es aus dem Genre Biographien Werke, von denen Sie sagen würden, das sind absolute Klassiker?

Dr. Oliver Hilmes: Brigitte Hamann hat mit ihrer Biographie über Elisabeth von Österreich einen Pflock eingerammt! – ein Buch geschrieben das einfach auch Maßstäbe gesetzt hat, das gezeigt hat, dass man sich einer völlig verkitschten, romantisierten Yellow-Press-Figur, wie eben dieser ominösen Sisi, auch nähern kann, ohne selber in den Kitsch abgleiten zu müssen. Dass man das historisch korrekt, sachlich abgewogen, aber dennoch spannend geschrieben, machen kann. Das ist ein Buch, bei dem ich sagen muss: Da wurde was Großes geleistet.

54books: Gibt es Werke, an denen sich der Autor Oliver Hilmes für sein Schreiben orientiert?

Dr. Oliver Hilmes: Vorbild ist schwer zu sagen. Aber wie z.B. Frau Hamann schreibt, das ist eine Richtung, die auch die meine ist, das finde ich sehr überzeugend. Aber im Grunde muss da jeder Schriftsteller seinen eigenen Weg finden.

Ich weiß, noch bevor ich Alma geschrieben habe, war auf der Spiegel Beststellerliste das Buch „Frau Thomas Mann“ von Inge und Walter Jens. Da habe ich gedacht: „Ich bin jetzt ganz neu in dem Business, mal gucken wie die berühmten Jensens das machen.“

54books: Sie würde ja auch gut zu den zu porträtierenden Frauen neben dem großen Mann passen.

Dr. Oliver Hilmes: Ja zum Beispiel. Genau – Inge Jens ist so ein Beispiel.

54books: Nein, Katia Mann meinte ich.

Dr. Oliver Hilmes: Katia Mann natürlich auch, aber Inge Jens. Das ist ja die Frage, wer der größere Literaturwissenschaftler von beiden war, und das war möglicherweise Inge und nicht Walter Jens. Ich glaube schon, dass Inge Jens eine ganz, ganz kluge, wichtige Frau war, möglicherweise eben auch klüger als ihr Mann war, aber das ist eine andere Frage.

Aber dieses Buch habe ich gelesen, oder besser angelesen, und nach wenigen Seiten gemerkt, das ist überhaupt keine Hilfe, habe es zugeklappt und erst sehr viel später zu Ende gelesen, weil ich gemerkt habe, das bringt mir jetzt nichts, ich muss meinen eigenen Weg finden. Das Buch hat mich aber alles in allem auch nicht überzeugt. Ich lese biographische Werke so nebenbei mal, wenn mich das interessiert, aber Vorbilder oder bestimmte Hilfestellungen kann ich nicht rauslesen.

54books: Abgrenzung nach unten ist ja immer möglich.

Dr. Oliver Hilmes: Bei den allermeisten Biographien denke ich mir erstmal „so nicht“, aber das hat natürlich mit dem Geschmack zu tun.

54books: Herr Dr. Hilmes, ich danke Ihnen sehr für das nette Gespräch.

oliverhilmes
Oliver Hilmes bei der Lesung im Genueser Schiff in Hohwacht

An dieser Stelle endet eigentlich das Interview, aber Herr Hilmes und ich geraten ins Plaudern. Der Weg über die Pyrenäen der Reisegruppe Heinrich, Nelly, Golo Mann mit dem Ehepaar Werfel, Carl Zuckmayer besoffen in der Hundehütte und das Trinken mit Alma, Quellenkritik bei Elias Canetti und Literaturblogs im Internet. Daher darf ich auf den mir von Herrn Hilmes empfohlenen Blog „Herbert Liest“, insbesondere auf die Folge mit der Vorstellung des Bücherregals meines Gesprächspartners, hinweisen.

Gespräche!

Heute abend kommt das erste Interview nach Denis Scheck und ich möchte vorher eine kleine Änderung vornehmen: Die Kategorie wird fortan nicht mehr Interviews, sondern Gespräche heißen. Nicht, weil ich mich zwangsläufig an englischen Wörtern stoße, sondern weil die Interviews Gespräche waren.

Die Unterschiede mögen auf den ersten Blick nicht groß sein, doch habe ich das Gefühl, dass man bei Interviews zuerst an ein Frage-Antwort-Spiel denkt, bei einem Gespräch dagegen treffen sich zwei Menschen auf Augenhöhe und unterhalten sich. Genau so waren, allen meinen Befürchtungen zum Trotz, die beiden kommenden “Interviews”. Sowohl mit Oliver Hilmes, als auch dem noch nicht genannten Gesprächspartner Nummer 2, habe ich jeweils fast eine Stunde zusammengesessen und auch nachdem der offizielle Teil vorbei war, sind wir sitzen geblieben und haben – im klassischen Sinne – geplaudert.

Vor allem da die beiden heute und morgen zu veröffentlichenden Gespräche eine so nette und bereichernde Erfahrung waren, freue ich mich besonders, diese mit euch zu teilen.

Freut euch mit mir heute abend auf das Gespräch mit Oliver Hilmes!

Tag #2 – Klaus-Peter Wolf oder warum ich lieber zu Hause bleibe

Wenn man sich ganz tief bückt, um die letzte Niveauschublade im Krimiregal zu öffnen, fällt einem meist ein Regionalkrimi entgegen.

Krimileser bin ich keiner, klar kommt mal einer dazwischen, meine Schwester und mein Vater dagegen schon. Wenn die Lesung eines Krimiautoren also 15€ kostet, darf ich ruhig zu Hause bleiben, denn ich hab Interviews für die nächsten Tage vorzubereiten. Am nächsten Tag vor seiner Lesung treffe ich Oliver Hilmes, den Autor u.a. der Alma Mahler-Werfel Biographie und ich bin alles aber kein ausgebildeter Journalist. Ich will meinem Gegenüber aber interessante Fragen stellen, bestenfalls sogar mit ihm ins Gespräch kommen. Was also, wenn kein Gespräch zu Stande kommt, ich nur von meinem Zettel ablesen kann? Zu allem Überfluss ist der Kerl auch noch promovierter Historiker, was wenn er Wissenslücken bei mir ausmacht, mich nicht ernst nimmt? Gute Vorbereitung ist also alles!

In der Uni hatte ich mir aus der Publizistenabteilung ein Buch über das Führen von Interviews besorgt, mal gegooglet, fand aber nur eine Auflistung welche Fragetypen es gibt (direkte, indirekte usw.), dass ich freundlich seien soll und mir die Zähne putzen. Diese Hinweise sind entweder selbstverständlich für mich oder altbekannt. Also muss ich mich auf mein Gefühl verlassen und mich anders vorbereiten.

Die Lektüre von Ausschnitten seiner Bücher (Alma, Cosima Wagner, Franz Liszt), insbesondere der Vorwörter, wo der Autor also seine eigenen Einschätzungen und Erfahrungen teilt und alter Interviews sind ein erster Start für mich. Natürlich fallen mir spontan auch Dinge ein, die mich einfach schon während der Lektüre interessiert haben; gut daher, dass ich mit den Büchern arbeite, mir Interessantes anstreiche, ich “meine” Stellen also wiederfinde.

Was will ich überhaupt wissen? Was will vielleicht auch der Leser eines Blogs von einem Historiker wissen? Langsam füllen sich die Notizen, langsam kann ich einzelne Fragen notieren und zu den zu Hause schon erarbeiteten hinzufügen. Ich bilde Überschriften und Kategorien und strukturiere so das Interview. So unsicher, dass ich die Fragen auswendig lerne, bin ich dann aber doch nicht, vertraue doch mehr auf meine persönliche Beredtsamkeit. Vielleicht morgen noch zwei-/dreimal durchlesen.

Währenddessen kehrt der Rest zurück. Mein Vater gibt sich noch bedeckt, kann er doch das von uns Geschenkte nicht unverblümt kritisieren. Marie dagegen ist nicht enttäuscht, sondern erzürnt, spricht von einer Veranstaltung zum Fremdschämen. Das sei keine Lesung gewesen, sondern eine Messe für den Autor und Entertainer Klaus-Peter Wolf, gehalten von sich für sich. Dazu habe seine Frau auch noch auf der Gitarre die Vogelhochzeit intoniert, was dem Ganzen die Ernsthaftigkeit eines Kindergeburtstages gegeben habe. Nicht auszuhalten sei es gewesen! Und was hat der Klaus-Peter nicht alles schon gemacht, völlig begeistert sprach er über seine Bücher, seine Filme, seine CDs, seine Fans, seine Jünger, seine Pilger, vor allem über sich.

 Schnell den obigen Tweet abgesetzt, so schnell die Antwort:

Sofort stimmen Marie und Vater ein, genau so sei es gewesen. Viele seien tatsächlich gegangen, während sich der andere Teil in Scham flüchtete und nur die eigens angereisten Jünger ihrem Krimi-Messias an den Lippen hingen.

“Gut, dass Du nicht dabei warst – für Dich!”, schließt meine Schwester. Ich kann zu der Lesung eigentlich gar nichts sagen, ich bin nur Chronist einer Enttäuschung.

[Auf Wunsch der einen zitierten Dame habe ich die Tweets, die nicht die meinen sind anonymisiert.]

Ein plötzlicher Spannungsbogen

Nächste Rezension von Manu, wie immer von einem englischsprachigen Autor, heute einer Autorin:

Herausgehoben aus dem Hype um die Veröffentlichung, nutzte ich die verhangenen Septembertage und rezensiere Rowlings erstes „Buch für Erwachsene“ – Ein plötzlicher Todesfall.

Wir befinden uns in Pagford, somewhere in the UK. Der plötzliche Tod trifft, schon auf den ersten Seiten, Barry Fairbrother, der vor dem Golfplatz infolge einer Gehirnblutung tödlich niedersinkt, und dessen Tod Reaktorkammer für eine Vielzahl von Point-of-View Storylines im vermeintlichen Kleinstadtidyll bildet. (Ich hatte zunächst den Eindruck, die Welt Rosamunde Pilchers trifft auf die Gemütlichkeit eines Inspektor Barnaby-Krimis.)

Einfaches CMYKNatürlich ist das kleine Pagford nicht die süße Hutzelstadt mit lieben, verschrobenen Einwohnern, wie man es von Postkarten her glauben könnte; vielmehr gleicht die Situation einem latent glimmendem Pulverfass. Stein des Anstoßes ist die Sozialbau-Siedlung the Fields inklusive Entzugsklinik, die manche möglichst bald an die (gehasste) Stadt Yarvil abtreten möchte (etwas komplizierte Besitz- und Zugehörigkeitsverhältnisse) und gegen deren „Abschiebung“ eben jener Fairbrother im Gemeinderat gekämpft hatte. Gerade in Krystal, deren drogensüchtige Mutter sie und ihren kleinen Bruder Robbie vernachlässigt, sah Barry ein Mädchen, dass es schaffen kann, aus dem Elend von Fields heraus; Ihre Geschichte – ein Vehikel seines Anliegens.

Fairbrothers Hauptgegner war the first citizen Howard Mollison, fetter, fieser Feinkosthändler und so etwas wie der selbsterklärte König von Pagford nebst dessen Gattin Shirley (die ich mal als Neo-Umbridge bezeichnen möchte). Kaum ist Barry unter der Erde, beginnt ein Kampf um seinen Posten, in dem sogar ein „Geist“ schmutzig Wäsche wäscht.

Generationenwechsel! Arf und Fats sind sechzehn Jahre alt und unzertrennlich, die besten Freunde. Aus ihrer Sicht durchlebt der Leser die Perspektive der Jugendlichen in Pagford, die sich mit Problemen wie der ersten Liebe, der eigenen „Authentizität“ oder Hass auf die eigenen Vater herumschlagen. Ihre Freundschaft wird vom kompromisslosen Fats stark auf die Probe gestellt, und als dieser eine Affäre mit der Schulschlampe Krystal beginnt, nimmt ein Drama seinen Lauf.

Man hat dem Buch vorgeworfen, langatmig und oft belangslos zu sein, um dann auf den letzten Metern zum Sprint anzusetzen; und auch ich kann mich diesem „Stream of Gemächlichkeit“ nicht ganz entziehen, wenn ich an das Buch denke. Die Spannung wird, sagen wir mal, in einer sehr flachen Kurve erzeugt.

Ich muss auch zugeben, als leidenschaftlicher Leser von gewissen Internatsgeschichten im Zauberermillieu, etwas stirnrunzelnd mit Szenen z.B. im Haus der Weedons umgegangen zu sein, wo Frau Rowling sehr harte, ja, harsche Realitätsmomente eines zerstörten Lebens zeigt, wo statt Weasley-Idylle weedonsche Fäkalsprache intoniert und wo statt Zaubertränke bei Snape Zauberpulver bei Dealer Obbo gebraut wird.

Begeistert haben mich aber Rowlings Figuren, die meines Erachtens nach sehr interessant (mal mehr, mal weniger originell) gezeichnet wurden und bei denen ein Jeder eine tiefere, innere Welt besitzt. Fats, den ich ganz unverblümt als destruktiven, gehässigen Arsch bezeichnen würde, hat mich zum Lesen ebenso stark motiviert wie die unsägliche Shirley – starke Charaktermomente!

Die von vielen kontrovers gesehene Beischlafszene der Jugendlichen auf dem Friedhof hatte ich als eher unspektakulär wahrgenommen, konnte mich aber über die Verhältnisse im Hause Price oder den Schaden an Arf und Fats Freundschaft nachhaltig aufregen – Rowling kann einfach phänomenal mit Charakteren punkten.

Sehr ernste Themen wie Mobbing, Selbstverletzendes Ritzen, Affären, prügelnde Eltern und eine brutale Vergewaltigung werden dem Leser ebenso kompromisslos vermittelt wie das Angebot im Feinkostladen oder die Gemeindeordnung Absatz III.

Auf den letzten hundert Seiten entzündet sich dann genau diese Dynamik, die einen in ihren Bann zu ziehen vermag – als schließlich viele Einzelperspektiven jenen tragischen Sonntagmorgen mosaikartig zum Katharsis-Moment führen, hab ich mich (vom Gefühl, nicht vom Inhalt) an beste JKR-Momente in Hogwarts erinnert. Gut, dass ich mich gezwungen habe, gut, dass ich zu Ende gelesen habe. Fahren Sie nach Pagford, immer dem Fluss entlang und dann rechts!