Jahr: 2013

Tag #1 – Hubertus Meyer-Burckhardt

Ist der überhaupt Autor? Was soll der lesen?

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Man beachte bitte auch die Rehe auf dem Feld

Ich muss vielleicht vorschalten warum ich überhaupt an die Ostsee gefahren bin, denn auch wenn ich es jetzt gern als Literaturblogger-Geschäftsreise verkaufe: Es war das Geburtstagsgeschenk für meinen Herrn Papa – er und die nicht mehr schulpflichtigen Kinder, eine Woche in einem Hüttchen im Naturschutzgebiet hinter dem Deich und jeden Abend eine Lesung. Da der große Sohn schon angekündigt hatte den Krimiautor zu schwänzen (dazu morgen mehr), meine Schwester (eigentlich, dazu übermorgen mehr) den Historiker ausfallen lassen wollte und Papa dann doch unter der Woche beruflich nochmal weg musste, sollte zumindest in die Woche geschlossen gestartet werden. Also gemeinsam zu Hubi!

Denke ich an Hubertus Meyer-Burckhardt, denke ich an Barbara Schöneberger; denke ich an Barbara Schöneberger, stelle ich mich taub und schließe die Augen, sammle Kraft und schalte um. Man darf es nicht laut sagen, aber diese besonders aufgedrehten Powerfrauen gehen mir in einem nicht zu beschreibenden Maße auf den Senkel; gerade der Typ taffes Blondchen.  Sie wollen zeigen, wie emanzipiert sie sind und kokettieren doch letztendlich nur mit dem eigenen Klischee, besser hat man sich sogar noch selbst den Altherrenwitz angeeignet.

So also betrat HMB die Bühne allein. Er wiederum kokettierte damit das taffe Kartoffelsalat-Blondchen nicht dabeizuhaben, was ihm die anwesenden Männer wahrscheinlich übel nehmen würden – wie dankbar ich ihm war! Nun war aber die nächste Frage zu klären: was hat der Kerl mit Büchern zu tun, macht der nicht Fernsehen?

Nein, er ist (auch) Autor. Die Kündigung ist das Buch über einen Manager, der mit seinem Job auch seine Identität verliert und fortan am Züricher Flughafen in einer Welt aus Hirngespinsten lebt. Burckhardt hat Erfahrung mit solchen Menschen, arbeitete er doch selbst jahrelange bei einer Werbeagentur, war Vorstandsmitglied bei der Axel Springer AG und später im Aufsichtsrat bei ProSieben.

Die Stellen, die er liest sind wahrscheinlich nur lustig, weil er sie liest. Abgedroschene Zurück zum Rock ‘n Roll der 70er-Geschichten, inklusive Namedropping wichtiger Hits und Anekdötchen, um das Fachwissen des Autors zu unterstreichen, ist der eine Teil, etwas sehr “Lebenstipps für Gescheiterte” und die immer wiederkehrende Frage der “Identität dank Job” oder “Identität trotz Job” der andere. Passt alles gut in die aktuellen Burn-out-Diskussionen, sind aber nicht der Stoff, aus dem große Literatur gemacht ist.

An diesem Abend geht es aber nicht um große Literatur – dafür sind in der Woche noch andere da (und auch solche die niveauvolle Bauchlandungen – nein – Niveaubauchlandungen hinlegen) – es geht um Unterhaltung. Der Typ aus dem Fernsehen zeigt, was er kann und allen macht es Spaß. Dass aus ihm kein großer Schriftsteller mehr wird, ist da durchaus zu verschmerzen.

Warten wir ab was Klaus-Peter Wolf morgen von sich gibt, der bereits als “Attacke auf die Lachmuskeln” angekündigt wurde – ach da geh ich ja nicht hin, müssen wir die andern beiden morgen fragen.

Paul Auster – Winter Journal

Häufig schon habe ich sie gebeten, viel ist sie ausgewichen und endlich liefert sie. Meine beste Freundin aus Oberstufenzeiten ist nicht nur eine Perlentaucherin in Bezug auf Musik, sondern versteht auch mehr von moderner Kunst als jemals in meine Rübe gehen wird, dass sie nebenbei gute Bücher liest, ist selbstverständlich. Blogs findet sie eigentlich doof, hilft mir aber trotzdem beim Ausarbeiten von Interviews und nun endlich schreibt sie ihre erste Rezension für mich. Meine Damen und Herren, ich darf vorstellen, für Sie heute die großartige Saskia T:

Vor Kurzem saß ein Mann in meiner Küche, der Paul Auster kennt. So gut, dass er ihn beim Vornamen nennt und die Familie „ab und zu“ zu Hause in Brooklyn besucht. „Der stirbt bald“, sagte mein Besuch, mehr eine nüchterne Feststellung als eine dunkle Befürchtung. „So viel wie der raucht und trinkt.“ Ob Paul Auster diese Annahme teilt, ist nicht überliefert. Doch zumindest bringt der 66-Jährige nun mit „Winter Journal“ ein Buch heraus, das man als Rückschau lesen kann. Ein Leben, erzählt an den Bestandteilen des eigenen Körpers.

Die exzessive Auseinandersetzung mit psychischen und physischen Zuständen scheint in der Schriftstellerfamilie zu liegen. 2010 veröffentlichte Austers Frau Siri Hustvedt „The Shaking Woman“, eine Analyse ihres Nervenzusammenbruchs nach dem Tod ihres Vaters, die sie tief in die Geschichte der Neurowissenschaften führt.

Während Hustvedt jedoch nach dem allgemein Menschlichen in ihren Symptomen sucht, bleibt Paul Auster im wörtlichen Sinne ganz bei sich. Es ist nicht unser Körper, den er beschreibt, sondern sein Körper – ein Lebensraum, zu dem niemand sonst Zutritt hat. „Winter Journal“ könnte banal sein. Paul Auster schlingt Schokolade, wiegt ein Baby in den Armen, hat guten und erbärmlichen Sex und erstickt fast an einer Fischgräte. Aber anders als die meisten Menschen, die in einem Körper stecken, ist Paul Auster ein großartiger Erzähler.

paulausterwinterjournalDer Autor widmet sich den Erlebnissen seiner Finger, Füße und Lippen mit der gleichen Ernsthaftigkeit, die er den Protagonisten seiner Romane schenkt. Das Buch ist mehr Bewusstseinsstrom als komponierte Geschichte, jeder Erzählstrang hat unzählige Seitenarme, und manchmal scheint der Autor selbst mit Staunen auf sein Leben zu blicken. Dieser Eindruck wird auch durch die Perspektive des Buches verstärkt. Auster spricht sich selbst mit „Du“ an, ein literarischer Kunstgriff, den er schon in seinen fiktionalen Werken etabliert hat. Damit bringt er eine Distanz zwischen Schreiber und Beschriebenen, die dem Buch gut tut. Paul Auster scheint aus seinem Körper herauszutreten und ab und an mit sich selbst zu fremdeln. Dabei schwankt seine Rolle zwischen nüchternem Sachbearbeiter (er nennt die Adressen aller Wohnungen, in denen er je gelebt hat) und altersklugem Philosophen (so ganz kann sich ein Paul Auster die großen Fragen des Lebens dann doch nicht verkneifen).

Man kann „Winter Journal“ lesen, weil es ein starkes, berührendes Buch ist. Aber natürlich bleibt dieser Funken Voyeurismus, die Neugier auf den Körper eines großen Geistes. Auch Paul Auster hat Rückenschmerzen, Verstopfung und zu wenig Disziplin zum Nichtrauchen oder Diäthalten.

Fans der literarischen Familie kennen diesen Körper längst. Schließlich hat sich Siri Hustvedt ihren Mann schon oft für die Beschreibung von Sexszenen geborgt. Paul Auster hat diese Passagen nie kommentiert. Aber jetzt hat er sich die Erzählhoheit über seinen Körper zurückgeholt.

Saskia ist Studentin, freie Journalistin und Kunstvermittlerin in unterschiedlichen Prozentsätzen. Im Bloggen ist sie genauso erfahren wie Paul Auster.

Heimspiel-Woche

Wie angekündigt war ich letzte Woche in Hohwacht bei der Veranstaltungsreihe “Literatur am Meer gelesen” und habe von Sonntag bis Donnerstag (fast) jeden Abend einem Vertreter der des schreibenden, lesenden und kritisierenden Business gelauscht. In seiner zeitlichen und räumlichen Abgeschlossenheit, sowohl aufgrund meiner persönlichen Verbundenheit zu diesem schönen Ort, bietet sich an, drängt sich förmlich auf, dass ich hier nun die Heimspiel-Woche ausrufe!

In zeitlich losem Zusammenhang werde ich in den kommenden Tagen einzelne Beiträge zu den Lesungen, Begegnungen und Gesprächen veröffentlichen.

Nach neuen Meeren

Die Berührungspunkte sind heute mannigfaltig: ich lese gerade Oliver Hilmes’ Cosima Wagner Biographie zu Ende, hier tritt er als junger Mann auf; ich komme gerade von der Ostsee wieder und machte Station im Genueser Schiff, das ihm seinen Namen verdankt. Der wirre, später irre, Mann mit dem Walroßbart schrieb herrliche Gedichte – so kurz, so gut; einen lyrischen Wahl-Sonntag mit Friedrich Nietzsche euch!

Dorthin – will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, in’s Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.

 

Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit –:
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich’s an, Unendlichkeit!

Gedichte – Copyright – Schiller

Also meine Sonntags: Lyrik! macht mir ja wirklich große Freude und inzwischen werden mir sogar schon Tipps, Vorschläge und Wünsche angetragen. Doch was ich bei meiner juristischen Vorbildung beachten muss (muss man aber auch ohne juristische Vorbildung beachten): Copyright! Ist der Dichter über 70 Jahre nicht mehr unter den Lebenden, kann man (Faustregel!) recht easy zitieren. Dagegen ist, einer meiner Lieblingsdichter und eigentlich eine eigene Kategorie wert, Erich Kästner erst 1974 verstorben – 2044 erst werde ich ihn also mir nichts dir nichts hier zitieren dürfen. (Dazu kommt, dass der Sohn und Erbe von Kästner ein Abmahnungsfreund ist und lieber das Werk seines Vaters weiter über den AtriumVerlag neuverlegt, um mir mit “Heftchen” noch nen Zehner aus der Tasche zu ziehen; siehe hier).

Nur zu gern würde ich heute das wunderbare Gedicht Der wirkliche Apfel von Michael Ende heute hier bringen. Ende verstarb aber erst 1995, sein Apfel also heute nicht hier. Jedenfalls nicht direkt niedergeschrieben. Der findige Googler findet aber Fremdlinks, von deren möglichen Urheberrechtsverletzungen ich mich natürlich nur ausdrücklich distanzieren kann, aber wer gerne in einem Forum ein wunderbares Gedicht lesen möchte – na der klicke halt hier.

Literatur am Meer gelesen

Hier bin ich nicht nur aufgewachsen, sondern auch groß geworden – weit über ein Jahr meines Lebens habe ich an diesem Ort verbracht. Hohwacht ist ein kleiner Ort, der eigentlich rein touristisch “genutzt” wird. Der “historische” Kern ist näher besehen keiner und die kulturellen Highlights lassen sich größtenteils an einer Hand pro Saison abzählen. Neben ein paar sehr guten Konzerten, die ich schon vor Ort genossen habe, breche ich heute auf um bei Literatur am Meer gelesen teilzunehmen.

Im Hotel Genueser Schiff – Hort meiner Kindheit bis 15 – findet ab heute eine Reihe von Lesungen statt, mit dabei Hubertus Meyer-Burckhardt, Klaus-Peter Wolf, Oliver Hilmes, Harald Martenstein und Denis Scheck – mit dabei und mittendrin auch ich, allerdings größtenteils passiv. Abgeschnitten vom Highspeed Internet, ohne den eingeschickten Laptop unterwegs, wird es wohl nur per Mikroblogging auf Twitter Infos geben bis ich in längeren Artikeln die Woche aufbereiten werde.

Oder leihen mir Schwester, Papa oder Patenonkel mal ihr Apple-Produkt und das Genueser Schiff sein Internet?

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Interview mit Denis Scheck

Es gibt wohl keinen Literaturkritiker, der in Deutschland ähnliches Ansehn genießt, keinen, der so bekannt ist und keinen, der so polarisiert. Denis Scheck sagt was er denkt und daher kann es schonmal sein, dass er von “sprachlichem Brachland” spricht, eine Empfehlung nur für “Freunde[…] masochistischer Selbstkasteiung” aussprechen kann und Paulo Coelho den “unangefochtenen König des Esoterikschunds” nennt, einen Autor von “in der Literaturgeschichte ganz und gar beispiellose[m] und groteskem Dilettantismus”, der dessen Erfolg diametral entgegengesetzt ist.

Mit keinem Kritiker bin ich zumeist so einig. Seine Deutlichkeit und Sprachgewalt würde ich mir wünschen, ebenso die Aufmerksamkeit, die er genießt. Umso erfreulicher ist es für mich, dass ich Herrn Scheck zum Beginn meiner Reihe Gespräche für ein solches gewinnen konnte.

Buch vs. eBook

54books: Würden Sie in der heutigen Zeit eher einen Buchladen eröffnen oder Amazon-Aktien erwerben?

Denis Scheck: Zu allen Zeiten war die Literatur eine todsichere Sache, zu einem kleinen Vermögen zu kommen – vorausgesetzt, man fängt mit einem großen an. Aber im Ernst: ich glaube durchaus an die Zukunft des stationären Buchhandels. Solche Läden haben, wenn sie gut geführt sind und die Lage stimmt, das Attraktivste im Angebot, was man im Kapitalismus anbieten kann: ein Allheilmittel gegen die Einsamkeit.

54books:Kindeln Sie?

Denis Scheck: Nein, ich möchte nicht, daß Amazon weiß und kontrolliert, was ich wann lese. Ich habe einen E-Reader von Sony. Als Kritiker muß ich viel Fahnen lesen – da ist der Reader eine schöne Alternative.

54books: Setzt sich Qualität auch auf einem von Selfpublishern und 0,99€-eBooks überschwemmten Markt durch?

Denis Scheck: Ja.

Literaturkritik

54books: Was sagt es Ihnen, dass die Bücher, die sie am gnadenlosesten niedermachen, die erfolgreichsten sind?

Denis Scheck: Kommerzieller Erfolg besitzt in der Kunst wenig Aussagekraft, sonst hingen in unseren Museen hauptsächlich röhrende Hirsche.

54books: Muss man als deutscher, männlicher Literaturkritiker immer den Vergleich mit Reich-Ranicki fürchten?

Denis Scheck: Fürchten muß man Vergleiche nicht, man muß ihnen standhalten. Vergleiche mit Alfred Kerr und Alfred Polgar schüchtern mehr ein.

54books: Welches Buch haben Sie in letzter Zeit mit besonderem Genuss in den Reißwolf geworfen?

Denis Scheck: Ich habe – hier geht Ihre visuelle Phantasie mit Ihnen durch – überhaupt noch nie ein Buch in den Reißwolf geworfen. Aber Nina Georges „Das Lavendelzimmer“ war schon ein Tiefpunkt.

54books: Erkennen Sie den Klassiker von morgen, wenn Sie ihn heute lesen?

Denis Scheck: Nein, das ist auch nicht mein Ehrgeiz. Als Literaturkritiker wende ich mich an die Gegenwart, das Lesen in Kristallkugeln überlasse ich gern anderen.

Literaturkritik und -szene im Internet

54books: Aus Protest gegen die Streichung des Wortes Neger aus Kinderbuchklassikern haben Sie sich in einer Folge Druckfrisch das Gesicht schwarz angemalt. Haben Sie die – zumeist empörten – Reaktionen, die vor allem auf Twitter und auf Blogs veröffentlicht wurden, verfolgt?

Denis Scheck: Twitter? Ich bitte Sie – ich bin doch kein Politiker. Für das, was mich interessiert, besitzt das die Relevanz von CB-Funk.

54books: Verfolgen Sie die Entwicklungen und Diskussionen der Literaturszene im Internet?

Denis Scheck: Manches schon. Allerdings gilt hier dieselbe Regel, die Flaubert dem Autor für seine Präsenz im Text auferlegt, wenn er sagt, dieser müsse sein wie Gott: immer zu spüren, nie zu sehen.

54books: Die Szene der Literaturblogs wird von Vampir-/Schmacht-/Fantasy- und Weltuntergangsbüchern beherrscht, die Rezensionen kommen zumeist von jungen Damen zwischen 15 und 20. Welcher Klassiker macht jungen Menschen richtig Lust auf dieses Genre?

Denis Scheck: Bücher über den Austausch von Körperflüssigkeiten werden in diesem Alter nun mal gern gelesen. Ich würde die Amerikanerin Elizabeth Kostova mit „Der Historiker“ empfehlen. Außerdem Jack Vance, Stephen King und James Tiptree Jr. Ich persönlich habe zwischen 10 und 20 ein ausgesprochenes Faible für Vampir-, SF- und Fantasyromane gehabt und habe es immer noch. Gegenüber dieser Art von Literatur gibt es leider viel hohle Arroganz.

54books:Eitel, elitär, arrogant – grauenhaft, so sind wir ja nicht?!, sagten Sie im Gespräch mit Benjamin von Stuckrad-Barre. Haftet aber nicht gerade dieses Vorurteil dem Literaturkritiker an, der vielmehr den Feuilleton bedient als den Mainstream; der Otto-Normalleser durch den Verriss ihrer Lieblingsbücher vor den Kopf stößt?

Denis Scheck: Och, manchmal ist ja so ein bißchen Vor-den-Kopf-gestoßen-werden nachgerade heilsam. Man findet in der deutschen Literaturkritik beides: die Locken-auf-Glatzen-Dreher und die durchschaubaren Populisten, die nach der Devise „Endlich-ein-Buch-für-uns-Mädels“ herumfuhrwerken.

Empfehlungen

54books: Von wem lässt sich jemand, der hauptberuflich Bücher empfiehlt, Bücher empfehlen?

Denis Scheck: Die wirksamste Empfehlung ist der Enthusiasmus eines begeisterten Lesers. Ich lasse mir durchaus gern etwas von meinen Kollegen und von Autoren empfehlen, besonders hellhörig bin ich, wenn literarische Übersetzer etwas loben.

54books: Jeder Literaturkritiker wird über kurz oder lang nach seinem Kanon befragt. Umgekehrt, Herr Scheck: welches sind ihre 3 schrecklichsten Bücher und warum haben sie Ihre Missachtung ehrlich verdient?

Denis Scheck: Das würde den Rahmen eines Interviews sprengen. Aber unter Shades of Grey, Paolo Coelho und Stephenie Meyer habe ich wirklich gelitten.

54books:Der Scharfsinn des Kritikers erweist sich besonders an neuen Schriften, die noch nicht durch das Publikum erprobt sind. Erraten, vorauseilen, auf den ersten Blick beurteilen, das ist die Gabe des Kritikers, sagte Charles-Augustin Sainte-Beuve haben Sie zum Abschluss einen spontanen Geheimtipp, der zu wenig beachtet wurde?

Denis Scheck: Die Brasilianerin Clarice Lispector lohnt eine Entdeckung, ebenso die deutsche Lyrikerin Sabine Scho, die in Hamburg auch sehr schöne Fahrräder produziert.

54books: Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Fabelhaft!

Nur wenige Dichter schaffen es mich so zum Lachen zu bringen wie Wilhelm Busch (neben ihm sicher noch Erich Kästner, der Busch einen seiner geistigen Großväter nannte). Bestens bekannt neben seinen Wort- auch die Zeichenkünste und wie gut hat es der Schreiberling, der mit der Fähigkeit gesegnet ist, das Seine selbst zu illustrieren – ein Pionier des Comics?!

Die Max und Moritz-Geschichten sind inzwischen deutsches Volksgut, aber auch andere Stoffe Buschs sind beachtenswert und daher darf ich euch am lyrischen Sonntag heute, mit Bildern, vom Unglücksraben Hans Huckebein zum Lachen und Nachdenken bringen.

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

Jetzt aber naht sich das Mahlheur,
Denn dies Getränke ist Likör.

 

 

 

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

 

 

Es duftet süß. – Hans Huckebein
Taucht seinen Schnabel froh hinein.

 

 

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

 

Und läßt mit stillvergnügtem Sinnen
Den ersten Schluck hinunterrinnen.

 

 

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

 

 

Nicht übel! Und er taucht schon wieder
Den Schnabel in die Tiefe nieder.

 

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

 

Er hebt das Glas und schlürft den Rest,
Weil er nicht gern was übrigläßt.

 

 

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

 

Ei, ei! Ihm wird so wunderlich,
So leicht und doch absunderlich.

 

 

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

 

Er krächtzt mit freudigem Getön
Und muß auf einem Beine stehn.

 

 

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

 

 

 

Der Vogel, welcher sonsten fleucht,
Wird hier zu einem Tier, was kreucht.

 

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

 

Und Übermut kommt zum Beschluß,
Der alles ruinieren muß.

 

 

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

 

Er zerrt voll roher Lust und Tücke
Der Tante künstliches Gestricke.

 

 

WilhelmBuschHansHuckebein

 

 

 

 

Der Tisch ist glatt – der Böse taumelt –
Das Ende naht – sieh da! Er baumelt.

 

WilhelmBuschTanteHansHuckebein

 

 

 

 

»Die Bosheit war sein Hauptpläsier,
Drum«, spricht die Tante, »hängt er hier!«

 

Quelle: Niepoort-Vinhos.com
Quelle: Niepoort-Vinhos.com

Der aufmerksame Weinkenner wird erkannt haben, die Firma Niepoort aus dem Douro Tal hat sich dieser mahnenden Geschichte eines übermütigen Trinkers bedient und dieser ziert ihren Rotwein Fabelhaft. Einzelne Portweine sind nach Max und Moritz benannt und diese stolzieren über die Etiketten. Durch diesen kleinen Trick kann ich meine Freundin darüber hinwegtrösten, dass es heute kein Pessoa Gedicht gibt und trotzdem habe ich geschickt einen Portugalbezug hergestellt. Aber für die Auswahl eines passenden Pessoa Gedichts und vor allem das Auffinden einer anständigen deutschen Übersetzung brauche ich Muse und Muße, die momentan nicht vorhanden ist. Madame möge es mir nachsehen und ihr euch an Wilhelm Busch erfreuen.

Schlaraffenland

In letzter Zeit habe ich ein Händchen für Bücher, die mich begeistern. Nach Navid Kermani hat mich nun Stevan Paul mit seinem Schlaraffenland enthusiasmiert. In dieser besagten Kombination kommen, ich darf kurz persönlich werden, meine drei Hauptleidenschaften zusammen: Kermani für die Musik, Paul für das Kochen und Essen und alle beide in gedruckter Form.

Stevan Paul ist gelernter Koch, kann also (wahrscheinlich) kochen, einer der Foodblogger in Deutschland, kann also (wahrscheinlich) schreiben und außerdem Foodstylist, Rezeptentwickler und Kochbuchautor, kann also (wahrscheinlich) auch nette Rezepte an seine Geschichten anhängen.

stevanpaulschlaraffenlandAuf Empfehlung hab ich mir nun sein Buch Schlaraffenland zugelegt, dass den Untertitel Ein Buch über die tröstliche Wirkung von warmem Milchreis, die Kunst, ein Linsengericht zu kochen, und die Unwägbarkeiten der Liebe trägt. Klingt nach einer ziemlich bunten Mischung und ist es auch! In 15 Kurzgeschichten nähert sich Paul in mannigfacher Weise dem Thema Kochen und Essen aus Sicht eines Professionellen (nicht das was ihr jetzt denkt!): Kellner, Lehrlinge, Chefköche, arbeitslose Köche, Restaurantkritiker und Foodblogger, aber auch dessen, der sicher die Zielgruppe dieses Buches ist – der kulinarisch Begeisterte und Begeisterungsfähige. 15 Kurzgeschichten, von denen man, wie sollte es anders sein, einige etwas mittelmäßig, eine sogar recht langweilig finden kann, ein paar aber überwältigend gut sind.

Von diesen möchte ich zwei herausgreifen, die meiner Meinung nach die ausufernde Welle des Foodpornos und der Küchennazis treffen charakterisieren.

Der von Magenproblemen geplagte Restaurantkritiker Georg Berger ist das Spitzenküchenbrimborium leid. Er mag keine Foie Gras mehr sehen, er mag sie schon gar nicht mehr in Kombination mit Apfel und Brioche und auch nicht als ersten Gang eines 12-Gänge-Menüs. Er sehnt sich nach Handwerkskunst, die sich gerne mit Kreativität paaren darf, so wie der Griesbrei seiner Frau, dem Einzigen was an schlimmen Tagen sein Magen noch verträgt. Dass Berger selber gar nicht kochen kann, seine beißenden Kritiken Jungköche aber ins berufliche Abseits stoßen können, zeigt dagegen auch die Perversion von der anderen Seite.

Der von seinem Nachbarn (Küchen-, Vegetarier- und Bionazi) genervte Foodblogger Niklas Bär kommt, aus Liebe zu seiner Frau in die Verlegenheit Hackfleisch aus dem Supermarkt zu kaufen und bei einem gemeinsamen Abendessen mit dem, ebenfalls bloggenden, Weltverbesserungsnachbarn kommt es zum Eklat. Nach den umfänglichen Vorbereitungen in Verstecken von Mikrowelle, Instant-Gemüsebrühe und Soßenbinder und dem Herausstellen von Edelolivenölen, geraten die beiden Alphatiere aneinander. Das Streitgespräch zwischen dem ehrlich authentischen Niklas Bär, der versucht immer häufiger auf Fleisch zu verzichten, bio, regional und nachhaltig kauft (“den ganzen Schlagwörterkatalog”) und doch zugeben muss, dass er es neben einer normalen Arbeit nicht immer auf den Wochenmarkt schafft. Schließlich müssen Niklas und der Leser einsehen, dass man eben nicht alles richtig machen kann: Lebt man vegetarisch bleiben doch wieder die Verfehlungen durch Flüge in den Urlaub, das jährlich neue Smartphone und die 8000 Liter Wasser, die für die Designer-Jeans draufgingen. Der Nachbar bleibt leider uneinsichtig und tritt einen Shitstorm los, in dem die Blogreputation Niklas’ den Bach runtergeht.

Stevan Paul schreibt nicht nur unglaublich gut, sondern verfällt bei aller Leidenschaft nicht in den sonst oft nervigen Foodvoyeurismus. Statt mit Produkten und Techniken zu prahlen, erzählt Paul Geschichten von Menschen, die eine Passion für das Kochen und Essen haben. Dass dies nicht ganz ohne Namedropping auskommt, versteht sich von selbst, ist aber immer in angenehmem Rahmen. Seine offene Art entlarvt nicht selten auch die Perversionen, die inzwischen in Teilen des Gastrogewerbes und dem gesamten Umfeld Standard sind. So geht es z.B. auf den meisten Foodblogs nicht mehr nur um das Prahlen mit Zutaten, sondern auch mit eigenen Fertigkeiten und Weltverbesserertum, statt um die Liebe, die Paul transportiert.

Zu dieser Leidenschaft des Kochenden, kommt die Leidenschaft des Mairisch Verlages, der dieses Buch in einer sehr sehr schönen Ausgabe vorlegt. Paul fügt jeder Kurzgeschichte noch ein Rezept eines in der Geschichte vorkommenden Gerichts an.

Ein durch und durch gelungenes Buch für jeden Leser der das Kochen liebt und Interesse an den Menschen hinter den Töpfen hat. Manche Geschichten habe ich bereits wiedergelesen.