In „Wie liest Du?“ stellen in regelmäßig unregelmäßigen Abständen Kritiker, Autoren und Verlagsmitarbeiter, Blogger, Vielleser und Buchhändler ihre Art des Lesens vor. Hier geht es nicht um einzelne Inhalte, sondern vielmehr um die Technik sich ein Buch zu erarbeiten – den Akt des Lesens von außen betrachtet. Heute mit Peter Daser.
Peter Daser ist Journalist beim Österreichischen Rundfunk im Ressort für die tagesaktuelle Innenpolitik der Radio-Nachrichten. Mit Literatur hat er nur im Privatleben zu tun, teilt diese Liebe aber auf charmanteste Weise bei Twitter als @PeterDaser. Dazu betreibt er eine Seite über historische und literarische Landkarten. War James Joyce mal in Triest?
Überspringst Du einzelne Stellen – gar Kapitel – oder liest Du ein Buch, wenn dann komplett? Normalerweise lese ich ein Buch komplett durch. Auch wenn es mir nicht mehr so gut gefällt. In ganz seltenen Fällen -wenn ich das Gefühl habe, es ist wirklich schade um die Zeit- breche ich ab.
Schummelst Du und springst vor, um das Ende schneller zu erfahren? Nie. Allerdings lese ich häufig Klassiker, bei denen mir die Handlung mehr oder weniger schon vorher bekannt ist.
Nutzt Du Lesezeichen (immer dasselbe/andere?) oder legst Du ein Buch offen auf die Nase?
Ich benutze immer ein Lesezeichen, meist eines aus dünnem Karton, wie sie oft in Buchhandlungen an der Kasse aufliegen.
Liest Du Taschenbücher einseitig, wie ein Magazin, indem Du das Cover komplett umklappst?
Nein, sondern so schonend wie möglich. Öffnungswinkel <180 Grad.
Liest Du lieber kurze oder lange Kapitel?
Die Länge der Kapitel ist mir egal.
Markierst Du? Mit Bleistift, Marker, Klebezettel, einfach die entsprechende Seite umknicken oder schreibst du lieber Stellen raus?
Im Text markiere ich selten, aber wichtige Stellen schreibe ich mir manchmal mit Seitenangabe irgendwo vorne hin, manchmal auf einen Zettel.
Schaust Du ältere Lektüre nochmal nach markierten Stellen durch?
Ja, wenn ich gezielt etwas suche.
Welches ist das (nichtwissenschaftliche) Buch, in dem Du am meisten markiert hast?
Faust erster Teil. In den letzten Jahren markiere aber fast nicht mehr, weil man fast jede Stelle wieder googeln kann.
Deine liebste markierte Stelle:
Kann ich nicht sagen. Ich habe auch kein Lieblingsbuch.
Benutzt Du einen eReader? Als Ergänzung zum Gedruckten – ausschließlich – gar nicht?
Erstmals vor einigen Monaten, als ich den Arm in Gips hatte und ein normales Buch nicht halten konnte. Vielleicht komme ich wieder darauf zurück.
Bereits die dritte Rezension zu einem Bruno Krimi von Martin Walker, es wird die dritte, die nicht so richtig wohlwollend, aber auch nicht niederschmetternd für den in Washington und im Périgord lebenden Schotten wird.
Für die tl;dr-Fraktion, ich bleibe meinem Urteil der letzten beiden Besprechungen treu:
Walker ist kein großer Stilist und die Reminiszenzen an die vorherigen Bücher und die Vorgeschichten der Personen sind, zum Teil etwas zu sehr mit dem Holzhammer eingefügt worden. Aber darum geht es bei einer solchen Lektüre auch nicht, sondern um leichte Unterhaltung im Sommer, die Lust auf den ersten/nächsten Urlaub im Perigord macht und einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt.
[“Wasser im Mund zusammenlaufen lassen” das habe ich geschrieben? Ich bin wohl in die Plattitüden-Schreibschule bei Martin Walker gegangen!]
Ingesamt will Walker zu viel und kann zu wenig. Es drängt sich leider das Gefühl auf, dass er mit Voranschreiten der Reihe schriftstellerisch und stilistisch eher abbaut, denn dazulernt. So war schon Femme Fatale arg konstruiert, Reiner Wein fehlt dazu noch die Spannung. Wenn man aber, so wie ich, mit niedrigen Erwartungen an die literarischen Qualitäten diese Bücher liest und nur auf leichte (diesmal fast seichte) Unterhaltung aus ist, wird man nicht enttäuscht.
Die Notizen, die ich mir während der Lektüre gemacht habe, enthalten wieder Hinweise auf alle Fehler, die Walker schon in den letzten Bänden gemacht hat. Bereits nach den ersten Seiten möchte man dem Autor zurufen sich nicht wieder zu viele zu heiße Themen auf einmal vorzunehmen: Islamismus, Dschihad und Anschläge in Europa – brandheiß! – zusammen einem Erzählstrang um die Judenverfolgung im zweiten Weltkrieg in Frankreich – in der Kombination kaum zu händeln – und dann auch noch sexuelle Belästigung von Professoren an Universitäten, das ist doch mindestens ein Sujet zu viel! Und natürlich kann der Autor diesen Themen nicht in Gänze gerecht werden, die Auflösung um den übergriffigen Dozenten wird im Schnelldurchlauf abgehandelt und ebenso selbstverständlich lösen sich alle Probleme der Personen, der Region, ja des ganzen Landes zum Ende hin in Luft auf. Es fehlt insgesamt einfach an Struktur.
Der Stil Walkers macht aus diesem Buch dazu ein ziemlich schlechtes: er reiht Gemeinplatz an Gemeinplatz, wiederholt unablässig vor zwei Seiten Gesagtes und die Geschichte der Vorgängerbände. Wer seine fünf Sinne beisammen hat und auf Seite 300 noch nicht begriffen hat, dass Bruno Soldat war, kann wahrscheinlich gar nicht lesen (ACHTUNG: Dieses Buch enthält keine Bilder [außer auf Vorder- und Rückseite]!) Dazu kommt eine gewisse Vorhersehbarkeit auch für den ungeübten Krimileser, die nicht nur die Story an sich betrifft, sondern auch Details; ein Kampfmesser wird erwähnt [ohoh, denkt sich der Dorfpolizist, der doch aber Soldat war (!), hoffentlich muss ich das nicht einsetzen, könnte er ja aber, weil er ja Soldat war (!!)] klar, dass das nochmal irgendwie verwendet wird [aber nicht im Nahkampf, was für Bruno, der Soldat im Bosnienkrieg war, aber kein Problem gewesen wäre].
Dabei sehe ich Walker förmlich vor mir: Der Mann liebt Frankreich und erarbeitet sich immer wieder historische Themen des Landes. So hatten wir natürlich schon den Algerienkrieg, Resistance, das Vichyregime (kam nicht auch der Krieg in Indochina irgendwie mal vor?) diese Themen kombiniert er mit Tagesaktuellem (Homoehe in Frankreich, die Gefahr von islamistischen Anschlägen) und pfeffert dazu noch weitere landestypische Dinge mit rein (Trüffel, Wein, Käse), die wahlweise in Gefahr sind oder zur Mordwaffe werden. Der Frankreichliebhaber, der Gourmet und Schwärmer wird es ihm verzeihen, der Liebhaber von guter Literatur nicht.
So und jetzt bitte sehr, möge man mir verraten warum ich auch den siebten Band dieser Reihe gelesen habe und den achten lesen werde! Irgendwas muss es ja haben. Ist es nur der Soap-Opera-Trick, möchte man immer nur wissen wie es mit den überzeichneten Figuren weitergeht? Normalerweise würde ich laut wehklagen und ein Schreibverbot für Martin Walker fordern, aber bitte Kerl schreib weiter (lass Dir vielleicht ein bisschen was bei Stil und Konstruktion helfen, nimm ein bisschen den Fuß vom Gemeinplätze-Gas und wiederhole Dich nicht ständig), ich bleib Dir treu – warum auch immer!
Mein Zeitmanagement hat Unwucht bekommen: ich finde nicht die Zeit in Ruhe zu rezensieren, aber genug um derart viele Bücher zu lesen, dass ich mal den Stapel abarbeiten muss. Wie jeden Monat daher nun der Überblick:
Plattform – Michel Houellebecq – Muss man das Buch gelesen haben, um bei DuMont einen Klappentext schreiben zu dürfen? –
Lange vergriffen, endlich wieder da. Ein hervorragendes Buch, hervorragend aus dem Sumpf eines überschwemmten Marktes! Was aber genau möchte mir dieser Klappentext sagen:
Auf einer Reise nach Thailand verliebt sich der frustrierte Beamte und begeisterte Pornokonsument Michel in Valérie, die wie er an die segensreiche Wirkung des Sextourismus glaubt. Gemeinsam wollen sie einschlägige Clubreisen organisieren. Doch durch ein islamistisches Attentat wird der Traum vom Glück jäh zerschlagen…
Wer bitte, der nie etwas von Roman oder Autor gehört hat, soll ein solch beschriebenes Buch kaufen? Natürlich geht es bei Michel Houellebecq auch um Sex, wer aber dieses Thema derart in den Vordergrund stellt hat das Buch nicht gelesen oder nicht verstanden, hat Houellebecq nicht gelesen oder nicht verstanden. Es geht um Sexualität, um die Beziehung von Mann und Frau in der modernen Welt, um Einsamkeit und Ängste. Plattform ist ein tief berührendes und wahres Buch, ein Roman mit Sätzen wie “Man schafft sich Erinnerungen, um im Angesicht des Todes nicht ganz so allein zu sein.” Michel vögelt, fickt und bumst viel, aber er sieht im ganzen Buch (man berichtige mich, habe ich etwas übersehen) keinen einzigen Porno, komische Begeisterung ist das. Valérie arbeitet in der Reisebranche und übernimmt Michels Ideen zum Sextourismus, Michels Anteil kann aber nicht als “organisieren” beschrieben wird. Zuletzt der islamistische Anschlag, der wirklich zuletzt, nämlich ca. nach 5/6-teln des Buches geschieht, hätte ich von diesem Twist in einer Rezension berichtet, SPOILER hätte davor gestanden. Dieser Klappentext nimmt nur die Houellebecq-Schlagwörter und wirbelt sie durcheinander: Sex, Islam, Attentat.
Valérie: “Ich mag die Welt nicht, in der wir leben.” Dürfte O-Ton Houellebecq sein. Diese Welt ist nicht abstoßend, wegen eines schlechten Klappentextes, aber der versaut mir die Laune.
Victor Baton hat am 1. Weltkrieg teilgenommen und ist Invalide, mit einer winzigen Rente fristet er ein trostloses Leben in Paris. Die einzelnen Kapitel sind Abhandlungen über die einzelnen Freunde des einsamen Junggesellen. Doch keiner dieser Freunde ist ein solcher. Victor biedert sich an, schleimt und schmeichelt, doch niemand, auch nicht der Leser, mag ihn sympathisch finden. Eine deprimierende Lektüre wäre da nicht der pointierte Stil Boves, der genau beobachtet und in kurzen Hauptsätzen (Herr Schirach so geht das, denn es sind nicht nur kurze Hauptsätze!) Inneres und Äußeres seines Widerlings schildert. Die Geschichte des nach oben Buckeln und nach unten Treten.
Die Szene als Victor herausfindet, dass die hübsche Freundin seines Bekannten einen Makel hat, so abstoßend wie erheiternd:
Sie stand auf und kam auf mich zu.
Da ergriff mich Freude, so ungeheuer, daß ich stumm bleib. Das Gefühl, als ob ein warmer Hauch mein Gesicht liebkoste, ließ mich erschauern. Obwohl ich doch kaum überschwenglich bin, schlug ich Billard auf die Schulter. Trotz meiner Fröhlichkeit fühlte ich mich lächerlich, als ich die Hand zurückzog. Ich hatte Lust zu lachen, zu tanzen, zu singen: Billards Geliebte hinkte.
So sind sie die Freunde.
Letters of Note – Shaun Usher Ein Prachtband und Fest für jeden kulturgeschichtlich interessierten Leser, ein großformatiger Band voller Korrespondenz: Schriftsteller, Politiker, Künstler und der kleine Mann; Weltbewegendes und erheiternde Kleinigkeiten, Zorn und Liebe, Schlagfertigkeit und beleidigte Leberwürste, Rezepte, die die Queen versendet und Abschiedsbriefe, Bewerbungsschreiben und Antworten auf Fanpost. Jeder Brief ist von seinem Übersetzer in einem kurzen Notat eingeleitet und erläutert, bei jedem, soweit möglich, das abgelichtete Original abgedruckt.
Aufhänger ist das Gemälde Das Konzert (Sommerabend) Heinrich Vogelers, auf dem ein Platz leer geblieben ist, der laut Modick von Rilke eingenommen werden sollte. Anhand der Entstehung des Gemäldes zeichnet Modick eine Geschichte Worpswedes und der ersten Generationen, der dort lebenden Künstler, immer wieder (heim)gesucht von einem arg unsympathischen, überspannten Rilke.
Modick nutzt für seinen Roman zum Teil leider von allem etwas zu viel: Allegorien und Bilder, Alliterationen und Adjektive, Substantivierungen und Schnörkel. Und doch handelt es sich um eine unterhaltsame und bildende Lektüre, das Ende überraschend gut gelungen. Oder wie Modick Lichtwark über Das Konzert sagen lässt: “Die Leinwände der meisten Maler sind zwar frei von Schwächen, sind aber keine Bilder. Vogelers Bilder haben Schwächen, sind aber jedenfalls Bilder.” Das sagt 54books auch über Das Konzert ohne Dichter.
Fuckin Sushi – Marc Degens Fuckin Sushi klingt ziemlich banal und ist doch nicht nur die Geschichte einer hochfliegend-tieffallenden Schülerband. Es ist die Geschichte des Erwachsenwerdens, ein Coming of age-Roman mit Musik.
Niels wohnt unglücklich in Bonn und mimt in der Schule den Außenseiter. Als er René kennenlernt und sie ihre gemeinsame Liebe zur Musik entdecken, gründen sie eine Band, in der sie sich komplett in ihrer Kreativität und ihrem Sound verlieren. Mit absurden Auftritten und nicht endend-wollenden Songs erspielen sie sich eine wachsende Fanschar und stolpern am Ende doch über die Differenzen von Pubertierenden.
Könnte alles trivial, vielleicht unterhaltsam, standard sein, aber Marc Degens zaubert herrlich verstörte Jugendliche in die Geschichte, die immer weitersuchen nach der perfekten Musik, der perfekten Freundin und den perfekten Freunden. Immer weiter machen worauf man Lust hat, am besten abrentnern sofort, das Erwachsensein direkt überspringen. Weil die Leidenschaft der Band so echt ist, das Entbrennen für eine Idee und ein Projekt aus jugendlichem Übermut jedem bekannt vorkommen dürfte und doch überall die Abgründe lauern, ist Fuckin Sushi nicht trivial oder banal, durchaus aber mit Untertönen unterhaltend.
“Nein”, schüttelte Kim den Kopf. “Irgendwann wird das albern und auch zu anstrengend. Ich wollte nie mit einem Haarteil auf der Bühne stehen.
Nie ist Fuckin Sushi albern oder anstregend! Ein tolles Buch über das Erwachsenwerden und gute Musik, Freundschaft und das Abrentnern.
Aberland – Gertraud Klemm Mehrfach habe ich die selten, aber wenn gut besprochene, Gertraud Klemm und ihr Aberland begonnen, mehrfach abgebrochen. Die Geschichte zweier Frauen zweier Generationen, Mutter und Tochter, Franziska und Elisabeth, begann mit einer Suada Franziskas in einem Satz über vier Seiten, ach hat sie es schwer mit dem Kind und ihre Promotion kriegt sie auch nicht fertig, weil ihr Mann so wenig hilft; der Lebensplan, die Wäsche, die Windeln, Abstillen, Altersabstand, zweites Kind, Kinderärzte, Schreibaby etc. pp. Nichts für mich denke ich kurz angebunden.
Doch ich lasse mich Wochen später erneut darauf ein, sehr zögerlich, und bin überwältigt. Ja, manche der geschilderten Szenen und Figuren sind fast zu abziehbildchenhaft die Klischees der gelangweilten, nicht verwirklichten westeuropäischen Frau, aber diese gibt es eben auch genau so. Die Sorgen um den Kindergeburtstag nehmen groteske Züge an, der längst verlorene Kampf um den Ehemann mit dessen jüngerern Geliebten und natürlich weiterhin der Wunsch der modernen Frau nach Erfüllung irgendwo zwischen Kind und Karriere, nicht aber gleichzeitig den Eindruck erwecken eine schlechte Mutter zu sein, dies sind wohl (ich mag das kaum abschließend zu beurteilen) die tatsächlichen Probleme zweier (oder mehr) Generationen Frauen heute.
Ein bisschen versteht sie das Publikum, das unterhalten werden will, diese jungen Künstler sind anstrengend, Literatur ist es, und die von Schriftstellerinnen noch mehr, immer diese Autorinnen mit ihren persönlichen Befindlichkeiten, kaum geben sie etwas von ihrem Privatleben preis, frisst ihnen das Publikum aus der Hand, Selbstmitleid auf Honorarbasis, ob sich das nicht rächt, ich hätte auch Autorin werden sollen, dann könnt ich meine pummelige, komplexbelandene Mutter unter Aspik auf einem Silbertablett servieren, denkt sie, meinen notorischepolygamen Vater häppchenweise als Beilage und meinen Bruder, den Steuerfachtrottel, als Nachtisch.
Aberland ist in diesem Zitat fast komplett enthalten: Klemm sollte sich trauen mehr Punkte zu setzen, aber sie beobachtet genau und beschreibt in einem zynischen Ton auf den Punkt. Im Verlauf der Lektüre lässt es einen Schaudern wie sie auf die Welt sieht, man verzweifelt wie ihre Protagonistinnen in deren Leben aufgerieben werden und doch immer weiterstrampeln. Die Autorin schreibt in einer ganz offenen Sprache über Sexualität, Sex und Erotik, kommt dabei aber ganz ohne das zuweil Plakativ-Aufdringliche eines Houellebecq aus, dessen Pessimismus sie dagegen übernimmt. Mir wird zum Weinen als mir vorgeführt wird, dass der Rest des Lebens eines Westeuropäers nur noch darin besteht zuzusehen wie man mit dem Alter verlischt, Persönliches und Erreichtes bedeutungslos wird, bis wir dement werden, nur noch da sitzen und uns einpinkeln.
Dieses Buch ist grandios, zwischen Plattformen und Sibylle Bergs Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. Sollte ich eines der drei wiederlesen, so würde ich sofort zu Aberland greifen!
Kommisar Lukács – Zeitschrift für Ideengeschichte (Hrsg.) Fast nur der monthly Raddatz und doch eine doppelte Entdeckung. Georg Lukács war ein ungarischer Philosoph und Literaturkritiker. Ein könnte hier auch für der stehen, denn der Adorno des Ostens, wie Raddatz ihn in einem seiner letzten Interview nennt, gilt als wichtiger Erneuerer der marxistischen Theorien. Ursprünglich nur wegen des Interviews erworben, las ich mich fest. In diesem Magazin, das beim C.H.Beck Verlag betreut und gedruckt wird, stimmt vieles. Ausgewählte Fachleute, hier unter anderem nicht nur Zeitzeugen, sondern auch eine Schülerin Lukács’, schreiben auch für den Laien verständliche Artikel und Essays vierteljährlich zu einem Oberthema.
Sofort beginnt man querzulesen, notiert den viel gerühmten Essay Lukács’ über Balzac oder Thomas Mann, muss aber leider feststellen, dass fast alle seine Arbeiten heute nur noch schwer zu bekommen sind, beginnt darüber nachzudenken sich mal wieder mit neuerer Philosophie zu beschäftigen, der Geschichte Ungarns und so geht es in einem fort.
Ausstellungen heute sind auf die Passivität des Besuchers angelegt. Sehen, staunen, nichts verstehen.
Mit dieser Ansicht steht sie, außerhalb des inner circle, sicher nicht alleine da. Einige Wenige bestimmen welche Künstler angesagt sind und hängen ihnen Etiketten um: bedeutenster, wichtigster, einflussreichster, meist kopierter XYZ seiner Generation. Der normale Besucher wird dagegen zum Laien degradiert und als dieser klein gehalten, weil man nicht offenbaren möchte, dass man etwas nicht versteht, nickt man wissend oder zuckt resigniert die Schultern.
Die Autorin seziert eine ganze Branche und zeigt deren Schwächen auf. Endlich kann jeder wissend nicken, der im letzten Quartal in einem Museum war. Dümmliche Texte, Superlative, unfreundliche Wärter, warum überhaupt Wärter, Kunstpädagogik von oben herab, Unwissen und aufgesetztes Insidertum. Flüssig liest man sich durch das amüsante Buch, doch fragt nach 2/3 wann denn nun die konstruktiven Vorschläge zum Bessermachen kommen.
Zepter schlägt vor die Wärter besser auszubilden, so dass diese den Gast zumindest ein bisschen an die Hand nehmen zu können, Anstöße zu einer anderen Form des Nachdenkens über Kunst zu geben. Hmm, das will doch moderne Museumspädagogik auch, nur dem Wachmann mal den Katalog zu lesen zu geben, wird da nicht reichen. Sie bemängelt auch die üblichen Abläufe – Pressetext, Eröffnung, Einführung, Katalog, Beschriftungen an den Werken auf bunten Wänden – doch übersieht sie hierbei auch, dass viele Besucher sich gar nicht mehr einlassen wollen, man lässt die Eindrücke auf sich einplätschern und kann hinterher behaupten im MoMA, in der Tate oder im Louvre gewesen zu sein. Nicht nur der Sender, auch der Empfänger muss umdenken.
Gegen Ende wird Kunst hassen, trotz des löblichen Ansatzes, ziemlich redundant im ewigen Vorwerfen, dass die Autorin ein Problem mit den oben zitierten Superlativen hat, ist dem Leser inzwischen bestens vertraut und wird doch noch einmal bekräftigt. Aber mit den Superlativen ist es wie mit Wiederholungen irgendwann nerven sie.
Am Ende, weil weder Zepter noch mir des Rätsels Lösung eingefahllen ist, bleibt es wohl auch in Zukunft häufig bei der Aussage, die ein Hamburger Kunsthallen-Besucher dort ins Gästebuch schrieb: “Für 9 Euro Eintrittsgeld kaufe ich mir lieber einen Besen.”
Die bevorzugte Bewegung des Astronauten ist das Schweben. Diese Art der Fortbewegung ist lautlos und schwerelos und Traumfabrikmaterial. Aber vielleicht ist es auch ein wenig träge, ein wenig dröge, ein wenig vorhersehbar, immer dieses Geschwebe, ohne jemals fallen zu können. Die Astronauten von Sandra Gugic schweben nicht. Sie trudeln, sie stolpern, sie taumeln und straucheln. Und aus sechs von diesen haltlosen Existenzen im Universum hat Sandra Gugic ein sehr lesenswertes Buch gemacht.
In einem stickigheißen Sommer in einer Stadt, die sich nach Wien anfühlt, treiben die Protagonisten episodenhaft umeinander und aneinander vorbei. Darko und sein wutgetränkter Kumpel Zeno umgarnen die unnahbare Mara, die unaufhörlich Origami-Füchse faltet und eine Affäre mit dem taxifahrenden Schriftsteller Alen beginnt, der wiederum Darkos Vater ist und der sich von seinem Polizistenfreund Niko entfremdet, der wiederum immer wieder auf den Kleinkriminellen Alex trifft und sich dem Junkie unerklärlich verbunden fühlt. Dieser lose, höchstens blassrote Handlungsfaden wird abwechselnd in sechs Stimmen erzählt, sodass am Ende nicht wirklich etwas zusammenpasst, sondern sechs Ichs ihre zersplitterte Sicht auf etwas schildern, das man am Ende vielleicht ein gestrandetes Mutterschiff nennen kann.
Sandra Gugic schreibt in einer Sprache, die traumwandlerisch sicher die richtigen Stimmungen trifft und dem Geschehen in der Stadt und in den Köpfen immer mit einer lakonischen Distanz begegnet, der ihre angeschlagenen Astronauten vor der Rührseligkeit bewahrt.
Minuten, Stunden später wird das Geknutsche und Gefummel vor dem Springbrunnen losgehen, auf dem Parkplatz und zwischen den Säulen. Von drinnen dringen Fetzen von Paartanz-Musik nach draußen, sittsamer Ausgleich zum allgemeinen Treiben bleibt dieVerwendung von Französisch und Englisch als Party- konversationssprachen, und immer neue Erinnerungsfotos vom Abheben und Abstürzen und den Aggregatzuständen da- zwischen, an die sich keiner erinnern wird. Dazwischen liegt die steinerne Grenze zwischen Casino und Park, der Gebäu- dekomplex des Theaters, das Zeno nur einmal von innen ge- sehen hat. Eine Aufführung derRäuber,in die uns eine Jugend- arbeiterin mitgenommen hatte, der alte Schinken aufgepimpt als Gangballade, mit Rap und Breakdance, und Zeno und ich, als alberner Gegensatz dazu, aufgebrezelt in Hemd und Krawatte im Parkett.
Man kann Sandra Gugics Debütroman vielleicht vorwerfen, dass sich die Stimmen ein wenig zu sehr gleichen, dass selbst der gekränkte Bürgerschreck Zeno noch besonnen erklärt, warum er mit dem Luftgewehr auf Passanten und Golfspieler ballert. Das Buch federt seine Schläge oft durch kunstvolle Wortpolster ab und wirkt deshalb eher wie von einer einzigen Stimme erzählt.
Trotzdem entfaltet Sandra Gugics Stil einen gewaltigen Sog, der 199 Seiten mit Lichtgeschwindigkeit im Kosmos verschwinden lässt. Astronauten reiht sich in eine ganze Serie von aktuellen Büchern ein, die sich nicht festnageln lassen, keine klare Position beziehen, sondern ihre Protagonisten fast vorsichtig und großzügig umkreisen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass so viele Texte im zeitgenössischen Universum uns so meinungsstark mit Absolutheitsmegaphon anschreien möchten. Ein Roman ist ein langsames Medium. Lang geschrieben und langsam gelesen, packt er vieles ins Ungesagte. Der Rückzug ins Verkraftbare, viele kleine Geschichten, viele Möglichkeiten anstatt einer großen geschlossenen Erzählung sind eine zur Zeit auffällig häufig genutzte Strategie, der sich auch die Autorin dieser Zeilen außerordentlich verbunden fühlt. Vielleicht hat sie auch deshalb die trudelnden Astronauten so gern gelesen. Kein Autopilot, der irgendwo hinführen muss.
Dr. Tod – Nicholas Kulish/Souad Mekhennet
Der Titel klingt etwas übertrieben, doch so wurde Aribert Heim, einer der letzten verfolgten NS-Kriegsverbrecher genannt. Im KZ Mauthausen hat dieser Arzt auf brutalste Art und Weise Menschen umgebracht und ist nach Ende des Krieges einfach verschwunden. Dies war nicht nur den Wirren im zerstörten Deutschland, sondern auch der Durchsetzung der neuinstallierten Verwaltung mit Altnazis und dem Schutz von Geheimdiensten geschuldet. “Wir sind hier der Ansicht, dass sein Wert als Informant unendlich viel größer ist als jeder denkbare Nutzen, den er im Gefängnis haben könnte”, ließ etwa der CIC (der ehemalige militärische Abwehrdienst der USA) über Klaus Barbie intern verlautbaren. Heim war zwar nicht so nützlich wie Barbie, aber auch (lange) kein so bedeutender Name, dass viel Aufhebens um sein Verschwinden gemacht wurde. Doch im Laufe der Jahre wurde durch Tod der Gesuchten und bereits abgeschlossene Strafverfahren der Kreis um Heim enger, doch gedeckt durch seine Familie und geschickte Taktik seines Anwalts hatte sich dieser inzwischen nach Ägypten abgesetzt, finanziert durch Grundbesitz in Deutschland, der ihn lange Zeit finanzierte. Heim wurde, anders als Barbie, nie geschnappt. Nie musste er sich daher vor einem Gericht für seine Taten verantworten und trotzdem kommen die Autoren fast zu einem versöhnlichen Resümee:
Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern ist nicht einfach etwas, das bald der Vergangenheit angehören wird. Sie schuf einen Präzedenzfall für die Ahndung von Völkermord überall auf der Welt.
So ist Dr. Tod zwar eine Geschichte des Versagens deutscher und internationaler Strafverfolgung, eine Ansammlung von Missgeschicken, Vertuschungen und Fehlurteilen, aber auch eine Mahnung und die Entwicklungsgeschichte eines Rechtsstaats.
Ein Liebesabenteuer – Alexandre Dumas (d.Ä.) Alexandre Dumas hat solche Großklassiker der Unterhaltung wie Die drei Musketiere oder Der Graf von Montechristo geschrieben. Neben diesen beiden Bestsellern stammen aber noch unzählige Theaterstücke, Novellen, historische Romane und Werke zur französischen Küche aus seiner Feder. Ein Liebesabenteuer, eine stark autobiographisch gefäbrte Geschichte, wurde letztes Jahr vom Manesse Verlag erstmals übersetzt. Eine junge Schauspielerin trifft den bereits gealterten Dumas und erbittet von ihm die Einführung in die wichtigen Künstlerkreise von Paris. Sie macht dem als Aufreißer berüchtigten Schriftsteller aber sofort klar, dass sie Mann und Kind in der Heimat hat. Dumas ist trotzdem betört und folgt Lilla auf ihrer Reise durch Europa.
Eine wunderbar leichte Geschichte voller Witz (köstlich allein wie Dumas sich über die Deutschen ereifert) und Romantik, Freundschaft und Liebe: Leichte Unterhaltung mit gehobenerem Niveau, zum in einem Zug Wegschmökern.
(Diesen Alexandre Dumas nicht mit seinem Sohn verwechseln. Der schrieb unter anderem Die Kameliendame.)
Über die Natur der Dinge – Lukrez/Klaus Binder Eine der Entdeckungen des Monats und ein Segen der Bloggerpatenschaft, aus der sich ein sowohl interessanter als auch schmeichelhafter Briefwechsel mit Klaus Binder anschloss. Für Freude der Philosophie, für solche des schönen Buchs und die mit Ruhe und Ausdauer. Bitte Lukrez lesen und ruhig auch mal die Übersetzungen vergleichen. Zur ausführlichen Rezension aufs Zitat klicken.
Die Sprache der Vögel – Norbert Scheuer
Also wenn es zwei Dinge gibt, die ich nicht leiden kann sind es Vogelviecher und Krieg, aber dieses Buch… ich bin ein bisschen sprachlos (was natürlich nur ankündigt, dass nun ein Redeschwall folgt).
Paul Arimond ist vor seinem Leben in der Eifel in den Krieg nach Afghanistan geflohen. Der zurückhaltende junge Mann vertreibt sich den Tag mit Vogelbeobachtungen und dem Zeichnen. Zwischen dem unspektakulären, aber im Kriegszustand immer angespannten Alltag wird der Grund für seine Flucht in Rückblenden gezeigt. Die Schuld an einem Autounfall, bei dem sein bester Freund schwer verletzt wurde, lastet auf ihm und hat sein altes Leben mit einem Schlag zerstört.
Norbert Scheuer, einer der Nominierten des Leipziger Buchpreises für Belletristik, eilt in schnell, kurzen Sätzen durch die Geschichte, die sich am Ende wundersam in ein ausgewogenes Ganzes fügen. Die Lautstärke und Geschwindigkeit des Krieges prallen auf die Ruhe Pauls, die Sätze Scheuers wollen verweilen und werden durch die Story getrieben, das liebevolle Interesse Pauls für Vögel kontrastiert dessen Gleichgültigkeit für den Krieg, gar für Tote und Verletzte. Die menschlichen Verluste werden nur festgestellt, während der Sanitäter Paul Vögel bis ins Detail von Aussehen und Verhalten darstellt. Der Soldat sucht einen Ausweg aus dem Lager, aber nicht um zu desertieren, sondern nur um weiter ungestört beobachten zu können.
Ein so zauberhaftes Buch voller beeindrucktender Schönheit, trotz Krieg und Flattertier. Bitte unbedingt lesen!
Unerbittliche Freunde – Fritz J. Raddatz Über den Tod des Helden immer noch nicht hinweg, lese ich momentan alles was mir in die Finger kommt, auch diesen schmalen Band, in dem Kritiken und Interviews Raddatz’ mit dem (Ex-)Freund Günter Grass zusammengestellt wurden. Wirklich nur für Fans des einen oder anderen. Literaturkritik ist größtenteils nicht derart zeitlos, dass sie auch nach Jahren noch einfach genossen werden könnte. Kein Wunder also, dass dieses Buch vergriffen ist und nicht neu aufgelegt wurde, Leserschaft, jenseits von Maniacs wie mir und vielleicht noch Biographen, dürfte hiermit schwer zu machen sein.
Oona & Salinger – Frédéric Beigbeder
Ist diese Jahr irgendetwas mit Salinger, dass die Bücher über ihn derart aus dem Boden wachsen? 5 Jahre tot oder 96. Geburtstag? Nicht wirklich ein Grund zu feiern, aber die Fans danken es und nehmen alles was es über das Phantom J.D. Neues gibt, auch wenn es nicht seiner Feder entstammt. Frédéric Beigbeder, selbst bekennender Salinger-Fan, schreibt also eine halbfiktionale Geschichte über die Jugend des Idols; so halbfiktionale Bücher schreiben ja heute alle.
Unter Fans tritt man aber manchmal in Konkurrenz wer das Vorbild besser kennt. Fasst der Franzose also Der Fänger im Roggen zusammen als kurzen Roman, der die Geschichte eines Jungen erzählt, der aus seinem Internat geworfen wird, im Central Park herumstreift und sich fragt, wo die Enten hingehen, wenn der See im Winter zugefroren ist, möchte man ihm an Gurgel springen und schreien “Es geht doch nicht um die Enten!”.
Nicht gänzlich unvoreingenommen beginne ich also dieses Buch, das bereits mein viertes des Autors ist, und bin überrascht wie schnell er mich doch wieder gefesselt hat. Kein Konkurrenz mehr. Beigbeder beschreibt wie der junge Jerry die Tochter des amerikanischen Literaturnobelpreisträgers Eugene O’Neill, Oona kennen und lieben lernt. So wenig man über Salinger weißt, so ist doch bekannt, dass diese, seine erste, Liebe ihn für sein ganzes Leben prägte. Jerry und Oona, die mit ihren beiden Jetset-Freundinnen das New York vor dem zweiten Weltkrieg aufmischt, kreisen umeinander, lernen sich vorsichtig kennen und bald verbindet die 15-Jährige und den jungen Schriftsteller eine zaghafte Beziehung, die aber nur kurz halten wird. Jerry zieht in den zweiten Weltkrieg und Oona lernt den deutlich älteren Charlie Chaplin kennen, wird dessen vierte Frau und gebärt ihm acht (!) Kinder. J.D. kommt verändert aus dem Krieg wieder, schreibt einen Weltbestseller, trauert Oona nach und zieht sich wenig später für immer zurück.
Mir bleibt nichts übrig als den Hut zu ziehen. Beigbeder schafft es sogar Salingers Ton aufzugreifen ohne ihn zu imitieren. Er flicht fiktive Briefe und authentische Anekdoten ein, der Autor schaltet sich mit Kommentaren dem Erzählten zu und ja, am Ende glaubt man sogar, dass alles genau so gewesen ist. Denn, nach Beigbeder, trieb Hemingway Salinger in die Einsiedelei, Oona war der Grund, dass er immer jüngere Frauen hatte. Liest man ganz genau “hin”, ist dieses Buch nicht nur ein Buch über den literarischen Helden des Autors, sondern auch über die Abscheu des Krieges und dessen Folgen.
Oh ein herrliches Buch über echte Fakten und unechte Wahrheiten, die sich genau so zugetragen haben könnten. Beibeder lesen, dann Salinger lesen und dann einen Chaplin Film ansehen, dann wieder Salinger lesen. Allein die Szenen wie die beiden junge Oona und J.D. einander kennenlernen und sich schüchtern näherkommen, man möchte wieder 15 sein – oder lieber doch nicht?
Ein ganzes Leben – Robert Seethaler Robert Seethaler wird von allen geliebt. Sein Trafikant in den Himmel gehoben. Nach dessen Lektüre hatte ich mit dem Mann bereits abgeschlossen, zu vorausschaubar und zu gefühlig, weil aber wenige Seiten und mein letzter Kauf bei der Büchergilde eine zweite Chance für Robert S. mit Ein ganzes Leben.
Die Geschichte des Andreas Egger, des verkrüppelten Ziehsohn eines bösen Bauern, der die eigenen Kinder diesem vorzieht, der zum starken Hilfsarbeiter heranwächst, seine Behinderung durch Kraft, Geschick und Schläue ausgleicht, stumpfsinnig liebt und Verluste erleidetet, erduldet, erduldet und erduldet, bleibt für mich auch nur die alte Mär vom ungeliebten Findelkind, die des dummen Glücklichen. Everybody knows, never go full retard.
Dann lest lieber nochmal Die Sprache der Vögel (s.o.).
Bonsai – Alejandro Zambra Eine kleine andersartige Liebesgeschichte, nicht Seethaler, sondern so wie der es gerne könnte. Alejandro Zambra, ein junger Chilene, schreibt einen Kurzroman über die zwei Studenten verbindende Leidenschaft für Literatur und die schier unerschöpfliche Liebe eines jungen Mannes zu einer Frau über den Tod hinaus. Kein Kitsch, kein Schmalz, kein Wort zuviel, kein Seethaler. Leicht, sexy, wunderschön, traurig – gut!
Julios und Emilias Eigenheiten waren nicht nur sexueller Natur (obwohl auch dieser), nicht nur emotionaler (dies zur Genüge), sondern gewissenmaßen auch literarischer. In einer besonders glücklichen Nacht las Julio zum Spaß ein Gedicht von Rubén Darío vor, das Emilia vorspielte und banalisierte, bis ein buchstäblich sexuelles Gedicht daraus geworden war, ein explizit sexuelles Gedicht samt Schreien und Orgasmen. Von da an wurde eine Gewohnheit daraus, aus diesem lauten – leisen – Lesen jede Nacht vor dem Vögeln.
Der gute Deutsche – Christian Bommarius
Dunkle deutsche Geschichte zu Beginn und Abschluss des Monats. In der Kolonialzeit haben sich die wenigsten westlichen Staaten mit Ruhm bekleckert. Über die Historie des deutschen Reichs aus diesem Kapitel, weiß man aus der Schule zumeist nur, dass wir zu spät kamen, Wilhelm II. im Wettlauf um wichtige Rohstoffe versagt hat und aus der Kompensation und den Verwicklungen der Erste Weltkrieg (mit-)entstand. Wie widerwärtig man sich aber vor 100 Jahren, vor nur vier Generationen, im Namen Deutschlands in Afrika ausgetobt hat, wird meist verschwiegen.
Grundlage der Bewirtschaftung Afrikas durch unsere Vorfahren waren Verhandlungen, die in etwa so zusammengefasst werden können: Euer Hwg. melde ich ganz gehorsamst, dass das Dorf Maomu abgebrannt ist. Die Einwohner waren vorher aufgefordert, mit mir zu verhandeln. Sie liefen jedoch fort und waren trotz Versprechungen und Drohungen nicht dazu zu bewegen zur Unterredung zu kommen. Da sie den Pflanzungsleiter Rehbein an seiner Plantagenarbeit hindern, keine Arbeiter stellen und sich auch sonst widersetzlich zeigen, brannte ich darauf hin das Dorf ab. Diese Vorgehensweisen sind heute nur noch von Hausverwaltungen in Hamburg und München oder bei Mobifunkanbietern üblich, stehen einer Nation, die auszog das glorreiche deutsche Rechtssystem als Segen in “unkultivierte” Länder zu bringen, aber sehr schlecht zu Gesicht.
Eine Geschichte über persönliche Bereicherung an Schwachen, Vertragsbrüche der verlogenen Rechtshüter und -bringer mit dem Tiefpunkt der Hinrichtung eines der Enkel des Königs, der sich mit den Deutschen eingelassen hatte. Zur Aufarbeitung leicht übersehener deutscher Geschichte unbedingt zu empfehlen.
Hier begegnet uns übrigens auch ein alter Bekannter: Józef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski, klar der schrieb besser als Bommarius, der war aber auch Joseph Conrad. Eine andere Art sich dieser Zeit zu nähern daher natürlich dessen Herz der Finsternis.
Bereits vor circa fünf Jahren versuchte mich ein Freund für die Büchergilde Gutenberg zu werben. “Du kaufst sowieso mehr als ein Buch pro Quartal. Mit einer Mitgliedschaft erhälst Du dazu exklusiv Bücher in bibliophiler Ausstattung, viele Klassiker werden neu aufgelegt, illustriert etc. pp.”
Ich war zunächst skeptisch, denn viele der mir präsentierten Bücher fand ich nicht besonders ansprechend. Den Ausschlag für meine Mitgliedschaft gab dann aber die Tatsache, dass Tod im Paradies von Alberto Dines über die letzte Lebenszeit Stefan Zweigs in Brasilien quasi nur noch über die Gilde zu beziehen war. Nun aber über zwei Jahre und etliche Büchergilde-Bücher später habe ich meine Mitgliedschaft, hauptsächlich aus zwei Gründen, überdacht. Weiterlesen
Bei dem Treffen der Paten der Leipziger Buchmesse erschienen, wie berichtet, u.a. die drei Preisträger und viele der weiteren Nominierten und waren zum großen Teil uns Bloggern gegenüber sehr aufgeschlossen. Ich war informiert worden, dass auch Klaus Binder, der Übersetzer von Lukrez, sein Kommen angekündigt hatte. Nicht im klassischen Sinne aufgeregt war ich, sondern vielmehr gespannt auf den Austausch und etwas sorgenvoll, ob der kritischen Nachfragen, die kommen könnten, schließlich hatte ich offen mit meinen mangelnden Lateinkenntnissen kokettiert und bin auch kein versierter Philosophiekenner. Doch Herr Binder kam nicht. Nachts erhielt ich stattdessen eine Email, die ich in Ausschnitten veröffentlichen möchte.* Weiterlesen
Ich wurde auf der Messe in Leipzig gleich zweimal interviewt: einmal von Stefan Mesch für Deutschlandradio Kultur, ein zweites Mal von Gesa Ufer zusammen mit Daniel Beskos vom mairisch Verlag für Radio Eins vom rbb.
Nachgelesen und -gehört werden, können beide Interviews hier:
Ich hatte zu dieser Buchmesse in Leipzig die Freude – die war es! – Bloggerpate zu sein. Ob es eine Ehre war, weiß ich (noch) nicht. Evaluieren wir:
Ausgangssituation
Als ich vor fast drei Jahren 54books startete, war es bereits kein Problem mehr für die Buchmesse in Frankfurt oder Leipzig ein Akkreditierung zu erhalten. Der Presseausweis erlaubte den freien Eintritt an allen Messetagen, die Nutzung von speziellen Räumen, Parkplätzen etc. pp. In dieser Welt waren die Blogger nicht akzeptiert, aber zumindest geduldet.
In diesem Jahr wollte die Leipziger Buchmesse vieles anders und sollte auch vieles richtig machen. Jeder Nominierte für den Preis der Messe erhielt einen Blogger als Pate. Die Blogger hatten sich hierfür mit Hilfe eines einfachen Fragebogens zu bewerben und aus knapp 80 Bewerbungen wurden 15 ausgewählt. Die Paten erhielten das zugeteilte Werk in zweifacher Ausführung, eine Einladung zur Eröffnung im Gewandhaus mit anschließendem Empfang und eine Pressekarte für die Preisverleihung selbst. Auf der Messe selbst gab es, nicht nur für die Paten, einen eigenen Bereich, die Bloggerlounge, mit freiem W-Lan und Kaffee, günstigeren Snacks als auf dem Rest der Messe, Arbeitsplatz und Ruhe. Leipzig war hier ein Vorreiter und dies ist schon zu loben.
Trotzdem gab es bereits im Vorfeld Kritik. Bei Facebook wurde unter Paten und Außenstehenden diskutiert, warum sich Blogger für diese verhältnismäßig geringe Gegenleistung vor den Werbekarren der Messe spannen lassen. Wäre es nicht adäquat den Paten für den Zeitraum der Messe oder zumindest der Eröffnung und Preisverleihung auch eine Aufwandsentschädigung zu zahlen, wie viel Gratiskaffee muss man konsumieren, um Hotel- und Reisekosten wieder einzuspielen?
Für mich und, wie ich in persönlichen Gesprächen erfahren habe, wohl die meisten Paten stand bereits vor der Ernennung der Messebesuch fest, ein Zuschuss im Sinne von einigen wenigen Vergünstigungen nahm man gerne mit, mehr zu verlangen, ist in dieser Gratisbranche nicht üblich. Die Frage, ob man nun Geld für eine Rezension zu einem bestimmten, nicht selbstgewähltem Buch und die Eröffnung von Reichweite für Werbung hätte fordern können, sollen, müssen, kann ich hier ebensowenig beantworten, wie die Diskussionen im Facebook und vis à vis dies konnten. Stattdessen möchte ich lieber einige andere Aspekte der Messe und Patenschaft beleuchten.
Begegnung mit Verlagen
Zu Beginn dieser Seite bin ich auf Verlage zugegangen, fast immer netter Kontakt, die Aufnahme in etliche Presseverteiler und die Möglichkeit Rezensionsexemplare zu bestellen, die Folge. Inzwischen, und das fiel mir bei dieser Messe besonders positiv auf, wenden sich Verlage an Blogger. Mehrere Termine waren nicht auf meine Initiative, sondern auf die der Verlage zurückzuführen. Man sitzt beisammen und hier ist die Augenhöhe, die einem von der klassischen Presse verwehrt wird. Bei Manesse und der DVA nehmen sich Verleger, Pressechefin und Lektorat die Zeit mit knapp zehn Bloggern in Austausch zu treten. Während die eine Hälfte zum letzten Termin des Tages aufbricht, lädt Manesse Verleger Dr. Horst Lauinger zum Sekttrinken, der auch Peer Steinbrück, auf meine dreiste Einladung hin, folgt.
Der Suhrkamp Verlag, der ungebrochen viel Aufmerksamkeit im klassischen Radio- und Zeitungsfeuilleton erhält, lädt Blogger zum Kennenlernen einzeln an den Stand, denkt wie Kiepenheuer & Witsch, DuMont oder Hanser darüber nach mehr Aktionen speziell für Blogger zu organisieren, aktiv auf diese zuzugehen. Dies tun sie nicht nur, wie Argwöhner sofort bemängeln werden, um günstige Werbung abzugreifen – die bekommen sie in der klassischen Presse auch – sondern weil der Einfluss dieser ab- und der der Blogger zunimmt.
Begegnung der Paten
Ganz anders und am Anfang sehr ernüchternd verläuft dagegen das Aufeinandertreffen der Nominierten und Paten in der Bloggerlounge. Obwohl eine erfreulich große Anzahl von Autoren und Übersetzern, inklusive der drei Preisträger, erscheinen und sich den Fragen der Mitorganisatorin und Moderatorin Vera Lejsek stellen, geben fast alle sehr offen zu, dass sie von der Patenaktion erst sehr spät – wenn überhaupt – von ihren Verlagen gehört haben und Literaturblogs ihnen zumeist fremd sind. Aber nicht etwa, weil sie hieran kein Interesse hätten, nein vielmehr weil sie über diese gar nicht informiert werden.
Im Gespräch nähert man sich indes immer weiter an, auch weil das Treffen, trotz Podium, ohne jeden Zwang und offen abläuft. Übersetzungs-Preisträgerin Mirjam Pressler ist völlig begeistert von der Aktion und einer Nische der Literaturkritik, die sich ihr bisher entzogen hat. Die Nominierten und Preisträger haben am Ende viel mehr Fragen an die Blogger als umgekehrt. Vor allem Fragen nach der Zeitintensität und wie diese zu bewältigen ist, nach der Motivation ohne pekuniäre Gegenleistung zu schreiben und nach Rezensionsstilen beschäftigen Autoren und Übersetzer gleichermaßen.
Tolle Beispiele für das Potenzial des Modells Bloggerpaten gibt es bereits im ersten Jahr. Tobias Nazemi von Buchrevier hatte im Vorfeld der Messe Kontakt mit Jan Wagner, dem sehr sympathischen Preisträger im Bereich Belletristik, ein Interview kam per Telefon zustande und Tobias hat sich so für Jan gefreut, als sei er selbst ausgezeichnet worden. Nach dem offiziellen Teil stehen sie gemeinsam in einer Ecke und plaudern. Glänzendes Beispiel für den Austausch ist ebenso der Älteste der Nominierten Moshe Kahn. Fast freundschaftlich winken Mara und er sich zu, als er kommt. Sie hatten mehrfach Kontakt, Moshe Kahn hat sogar im Blog kommentiert, ihr von den Schwierigkeiten der Übersetzung und dem Lesen des 1500 Seiten starken, arg verschachtelten Roman Horcynus Orca, erzählt. Besser geht es nicht!
Die Autoren und Übersetzer wussten also leider fast nichts von den Patenschaften und sind umso begeisterter. Was wäre möglich gewesen, wäre im Vorfeld anders kommuniziert worden? Daher muss diese Aktion wiederholt werden, nur unter anderen Vorzeichen! Die Autoren wollen – zum Großteil – sogar einbezogen werden, sind neugierig und haben Spaß daran mit uns zu arbeiten.
[Warum nun gerade die Verlage, die ich oben ausdrücklich für Transparenz und Einbeziehung gelobt habe, eine deutlich größere Aktion als normale Besprechungen nicht anders kommuniziert haben, ist mir ein Rätsel.]
“Ich werde mich nachher informieren, wie ich in die Bloggerszene komme, ich finde das toll.“ Mirjam Pressler
Der Unterschied
Blogger begreifen ihr Tun als Spaß, als Hobby und arbeiten daher mit der intrinsischen Motivation nicht für Geld zu schreiben (schreiben zu müssen), sondern aus Freude an und Liebe zur Literatur. Bei einigen Buchbloggern führt das zu kindlichem und jugendlichem Überschwang, der sich nicht selten in völlig inhaltslosen “Klappentext + Ich habe das Buch verschlungen”-Rezensionen niederschlägt, bei den ernstzunehmenden Literaturbloggern zu Leidenschaft und fundierten Besprechungen.
Eins ist klar: allein der wirtschaftliche Unterbau und die Vermarktung trennt Blogger und klassische Presse weiterhin und bis auf weiteres. Warum unsere Besprechungen aber per se von minderer Qualität sein sollen, legt niemand schlüssig dar. Diese These, die viele Journalisten als Monstranz vor sich her tragen, wird leider viel zu selten in den klassischen Medien mit Leistung gerechtfertigt. Die Blogger – und das zeigt diese Messe eindrucksvoll – sind nicht nur auf Augenhöhe mit den Journalisten klassischer Medien, sondern ihre Arbeit ist teilweise sogar besser, man sehe sich nur diese Beiträge an.
Mein Patenkind ist sehr alt, hat aber ein anmutiges Äußeres.
Die Leipziger Buchmesse hat dieses Jahr Blogger eingeladen die Verleihung des Preises ebendieser zu begleiten. Hierzu wurden per Aufruf Paten gesucht, die jeder eines der insgesamt 15 Nominierten (je 3x fünf Bücher aus den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung) unter ihre Fittiche nehmen sollten. Die Wahl der Jury fiel auch auf mich und man band mir diesen 2000 Jahre alten Schinken ans Bein. Wehe dem, der sich Klassiker auf die Fahnen schreibt.
Weniger schrecken mich Umfang oder Sprache als die Schwierigkeit einem philosophischen Werk mit derartigem Ruf gerecht zu werden. Entgegen meines eigentlichen Vorhabens mich erst mit massig Sekundärliteratur auszurüsten und vorzuinformieren, nehme ich mir Über die Natur der Dinge in der Neuübersetzung von Klaus Binder erschienen bei Galiani Berlin ohne Einarbeitungsphase vor.
Doch man wird zum Glück nicht direkt in den Text gestoßen, sondern von Stephen Greenblatt kurz aber informativ in das Werk eingeführt, Klaus Binder erklärt vor dem Start noch warum Lukrez lesen und wie, dann kann es losgehen. Vorwort und Kommentare regen immer wieder, der Leser solle sich auf den Text einlassen. Also hinein.
In medias res
Lukrez schreibt an und für Gaius Memmius, den Spross einer alten römischen Aristokratenfamilie und legt ihm in sechs Büchern seine stark an Epikur angelehnte Philosophie dar. Er beginnt mit den Urelementen und erklärt den Aufbau der Welt: Atome und Leere, sonst nichts. Anhand von vier Lehrsätzen wird die Basis des Verständnisses des Buches und der gesamten Philosophie Lukrez‘ in nuce dargelegt.
Aus Nichts entsteht nichts.
Alle Materie besteht aus kleinen Partikeln.
Gibt es Körper, muss es auch Leere geben.
Eigenschaften und Ereignisse, beide sind von Körpern nicht zu lösen.
Dem Du des Lesers dröselt Lukrez geduldig die Lehre Epikurs auf und legt dar: Das Universum besteht aus Atomen und Leere – das war’s. Es gibt keine mysteriösen, religiösen Urkräfte, die geschaffen haben. Obwohl Lukrez wohl an die Existenz von Göttern geglaubt hat, sprach er ihnen sämtlichen Einfluss auf die Gestaltung der Welt ab. Gott ist zwar nicht tot, aber er kann nichts. Nach Beweis der Grundlagen seiner Philosophie zerlegt er noch schnell etwaige andere Ansichten von Heraklit und Genossen, Empedokles und Anaxagoras und schreitet in großen Schritten voran die Welt bis ins Kleinste zu entschlüsseln.
Bereits auf den ersten Seiten wird klar, dass vor zweitausend Jahren ein Mensch gelebt hat, der viele Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft vorausgeahnt hat, sogar die Grundzüge des Darwinismus hat Lukrez vorweggenommen, denn seiner Ansicht nach entstand der Mensch nur als Ergebnis des sich immer wieder paarenden Zufalls, der Verbindung der Urelemente. Erschreckend und erstaunlich in wie viel der Autor “einfach” richtig lag. Und doch ist Lukrez vielmehr Denker als Prophet. In den folgenden Büchern werden Seele und Sinne, Liebe und Tod, Natur- und Menschengeschichte, das Werden der Welt und ihre Vergänglichkeit erörtert.
Weil der Autor seinen Adressaten duzt, fühlt sich der Leser immer wieder direkt angesprochen und sich so in den Text einbezogen. Die reichen Kommentare Binders zu Wirkungsgeschichte, Übersetzung, Hintergrund, Geschichte und Rezeption vermitteln das Gefühl der Übersetzer würde in Dialog mit dem Leser treten, als würde man das Werk gemeinsam erschließen.
Gott ist zwar nicht tot, aber er kann nichts
Es gibt wenig was so früh der christlichen Schöpfungsgeschichte derart zuwider gelaufen ist und damit lässt sich auch der Hass Vieler über Jahrhunderte und -tausende erklären, den Lukrez auf sich zog. Ein Gott ohne Macht kann auch keine Angst erzeugen, das Geschäft der Kirche bis in die Neuzeit hinein beruht(e) aber auf dem Schüren von Ängsten – ohne Gott, Teufel und Fegefeuer auch schlechter Absatz von Ablass.
Die zwangsläufigen Gegner des Philosophen versuchten sein Werk zu vernichten und attestierten ihm eine Geisteskrankheit. Im Mittelalter war Lukrez‘ daher nahezu vergessen, bis Poggio Bracciolini 1417 in einem deutschen Kloster die letzte erhaltene Abschrift von De rerum natura entdeckte und die Leser und Bewunderer über Jahrhunderte Namen wie Montaigne, Marx und Diderot trugen. Einstein schrieb für die Übersetzung Diehls das Vorwort, die Übersetzung durch von Knebel wurde von Goethe angeregt. Die Gründe für die Wiederentdeckung und hymnische Verehrung nennt Greenblatt im Vorwort: die leidenschaftliche Kraft des lukrezschen Denkens, die ungeheure Sprachgewalt seiner Dichtung, ihre wunderbaren Metaphern, ihre stilistische Raffinesse, machten es schier unmöglich, diesen Text einfach zu übergehen.
Ein Lehrgedicht in Prosa.
Eigentlich wollte ich mir den Spaß gönnen, mein seit zehn Jahren nicht, außer zum Hinweis auf meine mangelnden Mathekenntnisse (iudex non calculat), genutztes Latein zu prüfen. Aber bereits der Anfang der von mir erwählten Stelle lässt mich zurückschrecken:
Tum porro quoniam est extremum quodque cacumen
corporis illius, quod nostri cernere sensus
iam nequeunt, id ni mirum sine partibus extat
et minima constat natura nec fuit umquam
…
Statt mich im Internet bloßzustellen, lasse ich den Google Übersetzer ran, der zumindest die Vokabeln alle kennt:
Dann ist wieder, daß das Ende jedes Gipfels
dieses Körpers, zu sehen, welche der Sinn ist unser
, die sich nicht mehr, die nicht die überraschende Teil war ragt ohne
und er zu den kleinsten der Natur war zu keinem Zeitpunkt ist offensichtlich,
…
Bereits die Kommasetzung ist eigen, der Text natürlich, wenig überraschend, unverständlich. (Besondere Freude bereitet es übrigens, wenn man Google den Originaltext mit italienischem Akzent vortragen lässt!) Es wird besser liest man eine richtige Übersetzung*:
Da nun ferner ein äußerster Punkt in jeglichem Körper
Da ist, den mit dem Auge wir keinesweges erfassen,
Muss unteilbar er sein, das Kleineste seiner Natur nach.
Niemals hat er besonders für sich als Körper bestanden,
Kann auch nie so bestehn, er ist ja selber des andern
Erster und letzter Teil: es reihen dann ähnliche Teilchen
Eins an das andre sich an und füllen, zusammen in einen
Dichten Haufen gedrängt, des Körpers ganze Natur aus.
Weil nun ein äußerster Punkt bei jenem Urelemente
Ist, das unseren Sinnen schon nicht mehr zu schauen vergönnt ist,
So kann dieser natürlich nicht weitere Teilchen besitzen,
Sondern ist schlechthin das Kleinste, das nie für sich hat bestanden
Als selbständiger Teil und nie als solcher bestehn wird.
Denn es ist selbst nur des anderen Teil, und zwar nur das eine
Erste, wie andere dann und andere ähnliche Teilchen
Dicht aneinander sich reihen, um so das Atom zu gestalten.
Beides natürlich viel gefälliger als Google oder ich das könnten, aber immer noch beschwerlich. Nun aber aufgepasst. Klaus Binder hat die Ehre:
Für jedes Urelement gibt es stets einen äußersten Punkt, den unsere Sinne längst nicht mehr wahrnehmen können, und dieser kann nicht mehr teilbar sein: Er ist tatsächlich das Allerkleinste. Diese Minima allerdings haben niemals als Ding selbstständig für sich bestanden, werden dies auch niemals tun, denn sie sind ja selbst uranfängliches, zugleich einheitliches Teil von etwas anderem.
Binder selbst spricht von einer Übertragung nicht von einer Übersetzung. Dies ist allein schon daher notwendig, da er die Lyrik in Prosa auflöst und zu dieser Entscheidung kann man nur gratulieren. Den Sprachfluss des Lateinischen Originals wird man zweitausend Jahre später nicht ins Deutsche übertragen können und die Transposition in eine verständliche, aber angemessene Prosasprache tut Werk und Inhalt spürbar gut. Schlussendlich verliert die Sprache Lukrez‘ nichts, sondern scheint vielmehr durch die poetisch, bildhafte Sprache Binders zu gewinnen.
Sieh nur genau hin, wenn die Sonne in einen dunklen Raum zu dringen vermag und ihr Licht in einzelnen Strahlen durch diesen sendet: Viele winzige Stäubchen wirst du sehen, wie sie sich im leeren, vom Licht hellen Raum mischen auf vielerlei Weise: Als lägen sie in endlosem Streit, kämpften pausenlos miteinander in immer neuen Verbänden, angetrieben zu immer neuer Verknüpfung und wieder Trennung. Dies mag dir eine Vorstellung davon geben, wie es sich verhält mit den Urelementen, die im leeren Raum in unaufhörlicher Bewegung begriffen sind.
In der Übersetzung Diels dagegen erkennt man zwar die Schönheit der Sprache, die Aussagekraft des Bildes, aber sie bleibt meiner Meinung nach hinter der Übertragung Binders zurück, der es schafft die Lesbarkeit zu steigern und trotzdem Fluss und Sprache zu erhalten.
Folgendes Gleichnis und Abbild der eben erwähnten Erscheinung
Schwebt uns immer vor Augen und drängt sich täglich dem Blick auf.
Laß in ein dunkeles Zimmer einmal die Strahlen der Sonne
Fallen durch irgendein Loch und betrachte dann näher den Lichtstrahl:
Du wirst dann in dem Strahl unzählige, winzige Stäubchen
Wimmeln sehn, die im Leeren sich mannigfach kreuzend vermischen,
Die wie in ewigem Kriege sich Schlachten und Kämpfe zu liefern
Rottenweise bemühen und keinen Moment sich verschnaufen.
Immer erregt sie der Drang zur Trennung wie zur Verbindung.
Daraus kannst du erschließen, wie jene Erscheinung sich abspielt,
Wenn sich der Urstoff stets im unendlichen Leeren beweget,
Insofern auch das Kleine von größeren Dingen ein Abbild
Geben und führen uns kann zu den Spuren der wahren Erkenntnis.
Und Binder selbst erklärt den Zauber in den wunderbaren Worten Lukrez lesen heißt, (wieder) lernen, sich solchem Taumel und Tanz [der Sprache] zu überlassen. Gibt aber zugleich zu bedenken, dass es sich nicht um Lektüre für Minuten handelt, denn dazu ist uns dieser Text wirklich zu fern, manches wissen wir trotz unserer historisch kaschierten Sinnlichkeit tatsächlich besser, vieles ist nicht für unsere Zeit geschrieben. […] Es geht einzig und allein um den Bewegungs-, den Vorstellungsraum, der sich öffnet, wenn man sich mit Lukrez auf die Reise begibt. Es geht um die Bilder, die uns beim Lesen auftauchen; es geht um lebenspraktische Schlüsse, die wir ziehen, mal von Leselust und ästhetischem Vergnügen angestoßen, dann auch erschreckt; es geht zuletzt darum, dass wir unseren Sinnen, ihren Affekten und Defekten, nicht mehr in jedem Augenblick allein mit Misstrauen oder, von unseren Fetischen geblendet, mit blinder Hingabe begegnen. Besser und treffender ist es nicht auszudrücken, wie beeindruckend sich die Lektüre dieses Wunderwerks auf den Leser auswirkt.
Schmier mir Honig auf den Becher
Ein Lob zuletzt auch dem Galiani Verlag, nicht nur für den verlegerischen Mut und das Vertrauen in Klaus Binder dieses Buch zu wagen, sondern auch für die hervorragende Ausstattung. Nur fehlt ein zweites Lesebändchen, Faulheit im Blättern verleitet doch sonst allzu häufig den umfangreichen Kommentar gar nicht gebührend zu nutzen.
Lasst euch auf Lukrez und Über die Natur der Dinge ein, Binder nimmt euch an die Hand: Ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern durcharbeitet, ein Projekt, ein wunderschönes, immer wieder.
Liegt Ärzten am Herzen, Kindern bitteren Wermut zu geben, streichen sie um den Rand des Bechers süßen, gelb fließenden Honig, und die Arglosen, dazu gebracht, den Becher mit ihren Lippen zu berühren, trinken den herben Wermutsaft – getäuscht werden sie, doch nicht betrogen, denn so, durch dieses Mittel, finden sie erneut zu Kraft und Gesundheit. Das habe auch ich im Sinn. Herb erscheint auch unsere Lehre allen, denen sie nicht im Ganzen entfaltet wurde, zurückschrecken lässt sie das Volk. Darum mein Wunsch, dir meine Gedanken in wohlklingendem Gesang nahezubringen, gleichsam versüßt mit dem Honig der Musen. Möge es mir durch meine Verse gelingen, dich, deinen wachen Geist zu fesseln, bis du die Natur der Dinge im Ganzen erfasst hast und du sie vor die siehst in Form und Gestalt.
*Achtung: Die gewählten Stellen stimmen nicht haargenau überein. Ich habe die Zitate so gewählt, dass sich innerhalb desselben ein Sinn ergibt, so dass man die Sprache des Übersetzers erkennt. Das Zitat sollte in sich schlüssig sein und nicht (nur) zum 1:1 Vergleich dienen.
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