Jahr: 2020

Nord Verlag – Skandinavische Literatur abseits von Krimis

von Isabella Caldart

 

Und plötzlich war der kleine Verlag sehr präsent auf Instagram – spätestens mit dem Roman „Ich, Unica“ von Kirstine Reffstrup, der von zahlreichen Bookstagram-Accounts empfohlen wurde. Erschienen ist er im Nord Verlag, gegründet von der 29-jährigen Camilla Zuleger. Das Besondere am Nord Verlag: Er sitzt in Kopenhagen, blickt aber auf den deutschsprachigen Buchmarkt – Zuleger veröffentlicht skandinavische Literatur in deutscher Übersetzung. Wie und wieso sie das macht, erzählt sie im Interview mit 54books.

 

Camilla, bevor wir über deinen Verlag reden: Wieso interessierst du dich als Dänin für Deutschland und die deutsche Sprache?

Camilla Zuleger (Gründerin des Nord Verlags)

In den meisten Grundschulen in Dänemark ist Deutsch nach Englisch die zweite Fremdsprache, auch ich hatte Deutsch seit der fünften Klasse als Unterrichtsfach. Später dann habe ich Deutsch studiert. Mir war klar, dass es eine Chance für mich sein würde, die Sprache richtig gut zu können. 2012 habe ich meinen Erasmus in Berlin gemacht. In Berlin leben recht viele Däninnen und Dänen und deswegen stand ich dort vor der Herausforderung, so wenig wie möglich auf Dänisch zu kommunizieren – schließlich war ich nach Deutschland gegangen, um nichts anderes als Deutsch zu sprechen! Zurück in Dänemark habe ich meinen Freund kennengelernt, der aus Deutschland kommt und mit dem ich seit fünf Jahren zusammen bin. Deswegen ist mein Leben deutsch-dänisch.

 

Du hast deinen Verlag 2017 gegründet. Wie kommt man darauf, in einer Zeit des von allen Seiten beschrieenen Rückgangs von Print und Leser*innen, einen Verlag zu gründen – und das auch noch alleine?

Zu sagen, Print sei tot, ist übertrieben. Es werden in Omnibussen keine Zeitungen mehr gelesen, aber gleichzeitig gibt es einen wahnsinnigen Boom von Indie-Magazinen und vielen kleinen Verlagen, die zeigen, wie man das anders machen kann. Mit Social Media als Gegenposition zu Print hat man neue Möglichkeiten, ein ganz anderes Publikum zu erreichen. Man muss seine Nische finden, und das habe ich getan. Es ist aber eine große Herausforderung, wenn man nicht im System ist, vor allem bezüglich der Bürokratie. Die Buchbranche wird unter anderem durch Libri, KNV und das VLB strukturiert, die Bücher listen und ausliefern. Um da reinzukommen, muss man schon etabliert sein. Mir wurde gesagt: Ruf an, wenn du einen Umsatz von 100.000 Euro im Jahr hast. Mein Glück war Instagram: Die Leute haben die Bücher gesehen und daraufhin in ihren Buchhandlungen bestellt. Und durch diese Nachfrage wurde ich doch im Zwischenbuchhandel gelistet, der merkte, dass man mit mir Geld verdienen kann.

 

Instagram ist also eine große Chance.

Auf jeden Fall! Deswegen mache ich schöne Bücher, die getreu dänischer Designtradition gestaltet sind. Außerdem glaube ich, dass der moderne Verbraucher eine emotionale Verbindung will; genau damit arbeite ich in meinem Tagesjob in einer Digitalagentur. Meine Zielgruppe kann sich mit mir identifizieren, sie kauft die Bücher, weil sie die Geschichte des Verlags gut findet. Das ist mein Vorteil, was Suhrkamp zum Beispiel nicht kann, da der Verlag eher eine Marke ist.

 

Du hast dich auf deutsche Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen spezialisiert. Wieso dieser Fokus?

Ich habe den Verlag direkt, nachdem ich mit der Uni fertig war, gegründet. Ich wollte mit Literatur arbeiten. Aber in der dänischen Branche einen Job zu bekommen ist fast unmöglich, weil sie einfach zu klein ist, es gibt nur drei, vier große Verlage. Und ich hatte keine Lust auf zehn unbezahlte Praktika, um irgendwann einmal einen richtigen Job zu bekommen. Ich habe mit Freund*innen über die Idee diskutiert, einen dänischen Verlag für deutsche Literatur zu machen. Allerdings: Deutschland gilt in Dänemark als uncool, und es würde zu lange dauern, einen solchen Verlag zu etablieren. Die Idee, es andersrum zu machen, stammt von meinem Freund. Das könnte funktionieren, dachte ich mir, Skandinavien hat ein Momentum in Deutschland, ist cool, und zwei Jahre später würde Norwegen das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse sein. Also wenn, dann jetzt. Alles war weniger durchdacht, als ich gerne gehabt hätte, ich hatte keinen Businessplan, sondern stellte mir einfach die Frage: Was kann man machen? Zu den größten Herausforderungen gehörte am Anfang, den Buchhandlungen zu vermitteln, dass ich keine Selbstverlegerin bin, auch nicht selbst übersetze.

 

Du hast sehr unterschiedliche Bücher in deinem Programm. Welche besonderen Merkmale hat skandinavische Literatur?

Bei nordischer Literatur denken alle immer an Krimis, deswegen wollte ich als erstes ein Statement setzen – meine ersten beiden Bücher sind Lyrikbände. Generell habe ich nur eine einzige Regel: keine Krimis. Ich möchte gerne die Vielfalt präsentieren. Skandinavien hat eine besondere Literaturszene, es gibt drei Länder, in denen alle die Sprachen der anderen verstehen. Jedes Land hat eine Autorenschule wie Hildesheim, und das Coole daran ist, dass sie grenzüberschreitend funktionieren, dass dänische Autor*innen nicht unbedingt in Dänemark studieren. Deswegen kann man natürlich von „dänischer Literatur“ sprechen, aber eigentlich ist es eine skandinavische. Die Autor*innen besuchen für Lesereisen alle Länder, es gibt viel Austausch und ein gesundes System der Förderung, auch ich habe Förderung bekommen. In Skandinavien lohnt es sich als Verlag, ein Debüt herauszugeben. Die Bibliotheken in Norwegen beispielsweise kaufen 1000 Exemplare von jedem Debütanten, jeder Debütantin. So kann man sich auch Experimente leisten. Zudem haben die Autorenschulen eine Art BAföG, das heißt, es gibt finanzielle Sicherheit, das ist ganz exzeptionell. Das verschafft die Möglichkeit, nicht nur Literatur, die sich verkaufen lässt, sondern etwa auch Lyrik zu schreiben. Lyrik ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren groß geworden – vor allem bei jungen Autor*innen. Das hat auch etwas mit dem Internet zu tun, denn dieses Format passt gut in den Facebook-Feed oder die Captions bei Instagram.

 

Wie war das rückblickend, mit Lyrik zu starten?

Es war krass. Ich hatte nicht erwartet, dass es im Goethe- und Rilke-Land so schwierig sein würde. Ich hatte auch nicht erwartet, dass viele Buchhandlungen nicht einmal ein kleines Lyrikregal haben. In Dänemark wird selbst in den Ketten, die ihren Fokus auf Spielzeug legen, Lyrik verkauft. In Deutschland habe ich eine regelrechte Angst vor Lyrik erlebt. Das war eine Herausforderung. Am Ende hat es funktioniert; die Leute haben den Verlag auf Instagram entdeckt und fanden Lyrik cool.

 

Wie findest du die Bücher für deinen Verlag?

Ich habe das Privileg, dass ich alleine bin und keine Entscheidung rechtfertigen muss. Ich habe Bücher gewählt, die mir selbst gefallen, unabhängig davon, ob sie Erfolg versprechen. „Ich, Unica“ kam über eine Empfehlung: Ich hatte es selbst schon gelesen, aber erst in dem Moment, als mir die Übersetzerin Elke Ranzinger das Buch vorschlug, fiel mir auf: Natürlich, das muss ich machen! Elke hat es dann auch übersetzt. Generell verlege ich Bücher, die es verdient haben, ein größeres Publikum zu erreichen.

 

Wie gut ist die Buchbranche in Kopenhagen, in Dänemark vernetzt? Unterstützt man sich gegenseitig?

Ich habe versucht, mich ein bisschen aus der Szene rauszuhalten. Die meisten dänischen Autor*innen möchten sehr gerne auf Deutsch erscheinen. Ich habe einmal größer in Dänemark veröffentlicht, was ich mache, und war dann total überfordert von den vielen hoffnungsvollen E-Mails von Autor*innen, denen ich absagen musste. Deswegen versuche ich, unter dem Radar zu bleiben. Die Szene in Dänemark ist sehr klein und auf Kopenhagen konzentriert. Dadurch weiß ich genau, was hier los ist. Diesen Vorteil habe ich im Vergleich zu Verlagen aus Deutschland: Ich bin nicht von Agenturen abhängig, ich kann sofort zuschlagen, kenne viele Autor*innen. Victor Boy Lindholm, den Autor von „Gold“, hatte ich einfach per Facebook angeschrieben.

 

Siehst du dich dann eher der deutschen Buchbranche angehörig?

Ich fühle mich nicht als Teil der Buchbranche in Deutschland, weil es eine physische Distanz gibt. Ich kann nicht bei jedem Event dabei sein. Diese Outsider-Position gibt mir aber ein gewisses Potential, ich bin flexibel und kann überraschen.

 

Du leitest den Nord Verlag alleine. Wie darf man sich deinen Arbeitsalltag vorstellen? 

Ich selbst kümmere mich um Kommunikation, Presse, Instagram, Buchhaltung, Verkauf und Business Development, außerdem habe ich eine Grafikerin, die die Buchgestaltung macht, und arbeite mit verschiedenen Übersetzer*innen zusammen. Eigentlich wollte ich keine Kohlrüben kaufen wurde von meinem Freund Lars Bliesener übersetzt; wir gingen dann den Text gemeinsam durch, bevor Marie Krutmann das Lektorat übernahm. Es ist schwierig, von einem Alltag zu sprechen, die Grenzen sind fließend. Zwischen 9 und 17 Uhr arbeite ich für die Agentur, davor, ungefähr ab 8 Uhr, erledige ich Verlagssachen, um auf der Arbeit den Kopf freizuhaben. Auch meine Freizeit geht für den Verlag drauf, meinen Urlaub verbringe ich für gewöhnlich auf den Buchmessen oder in Berlin. Das klingt ein bisschen wahnsinnig, aber ich mache das total gerne. Ich habe durch den Verlag viele tolle Menschen kennengelernt, deswegen ist das zumindest gefühlt keine Arbeit. Mir ist allerdings wichtig, dass klar ist: Der Verlag ist zwar ein Projekt nebenbei, aber nicht „nur“ ein Hobby. Ich mache das, weil ich Lust darauf habe, nehme es aber auch ernst, denn ich weiß, dass ich beim Verlegen die Verantwortung für das Werk einer anderen Person trage.

 

Und wie sieht dein Leben derzeit aus? Was hat sich wegen der Coronakrise für dich verändert?

Mein Verlag ist finanziell unabhängig, weil ich einen Fulltimejob habe und so nicht den Druck, profitabel sein zu müssen. Aber es ist schon super ärgerlich, dass ich nicht zum Indiebookday nach Berlin konnte, wo Veranstaltungen in den Buchhandlungen ocelot und Pankebuch geplant waren. Dänemark war schon vor Deutschland von Corona betroffen. Als ich den Indiebookday abgesagt habe, reagierte man in Deutschland noch überrascht. Events haben eine enorme Bedeutung für mich, weil ich nicht alles über das Internet machen kann. Ich glaube, vielen Firmen wird jetzt klar, dass sie ein Online-Konzept brauchen, auch Verlage denken neu, wie sie Bücher auf Social Media präsentieren können. Soweit bin ich schon, ich muss nicht unbedingt vor Ort sein und bin somit als Verlag unabhängig.

 

Photo by Sandro Kradolfer on Unsplash

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (9)

Dies ist der neunte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8)

Das mittlerweile über 120 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

 

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

 

10.04.2020

Viktor, Frankfurt

Zwei Bekannte berichteten mir, dass sie ganz überrascht darüber sind, wie intensiv und positiv sie die Zeit mit ihren Kindern erleben (es sind zwei Mütter). Die eine meint, sie überlege sogar, ihre Kinder vom Kindergarten abzumelden (was sie nicht tun wird, da bin ich mir sicher). Vor diesen Gesprächen war in der FR der Leserinnenbrief einer Psychologin aus Mainz, die in einer Familienberatungsstelle arbeitet und die berichtete, dass die Gewalt in einigen Familien steigt. Sie nannte einige Beispiele von Misshandlungen und Überforderungen, die ganz akut waren.

Das klingt abgedroschen, aber es trifft wohl zu: Wenn wir mit einer nicht zu ändernden Situation konfrontiert sind, dann zeigen sich Charakterzüge, die wir sonst nicht sehen würden oder unter anderen Umständen verstecken können.

Was mir auch auffällt: Menschen, die am Anfang der Corona-Krise sagten, sie kämen allein sehr gut zurecht, sagen nun, dass es doch einen Unterschied gebe, ob sie freiwillig oder gezwungenermaßen allein sein müssen.

Slata, München

Eine gewisse abstrakte Freude macht sich breit, das schon, Schokoladenküken, Stifte zum Eierfärben, Marzipanbonbons, ich stelle mir einen idealen Tag vor, einen wenigstens in den fünf Wochen, wie das glückliche Kind die Blumentöpfe auf dem Balkon absucht, Topf für Topf, eine Schokoladenfigur nach der anderen, den vollgefüllten Korb zufrieden auf den Küchentisch stellt, und dann färben wir Eier und backen einen Kuchen und es wird so wunderbar alles, so gut organisiert, durchgeplant und vorbereitet. Die Nachbarn haben Ostereier aus Neonplastik in ihrem Garten hängen. Die Schweißnaht auf diesen Eiern sieht nach einem Kaiserschnitt aus, die Küken rausgeholt, wieder zugeklebt, als wäre nichts passiert. Ich will konsumieren, sage ich, Die einfachste, billigste, im übertragenen Sinn, Art von Freude, will alte Sachen wegschmeißen und neue Sachen kaufen, Sommerkleider, leichte Leggins, Leinenröcke, koreanische Gesichtspeelings, dann noch Plastikeier halt, will wenigstens einmal die Woche reduzierte Wintermützen anprobieren, die Adrenalinkicks bleiben aus, und ich beginne ernsthaft zu überlegen, ob das gerade etwas ist, was man Enthaltsamkeit nennt.

 

Sandra, Berlin

Mein Partner sagt ja gern, ich bin die größte (aber trotzdem seinerseits sehr geschätzte) Klugscheißerin, die er kennt. Oh, und wie er recht hat. In diesem Sinne, to whom it may concern: https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/der-oder-das-Virus

Ansonsten: Ich schreibe lebe schreie schlafe und wache hier weiter, in meiner kleinen Lebensbox. Ab und zu muss ich hier raus (kein Balkon, kein Garten, ein Kind). Und nein, wir hatten keinerlei Besuch seit dem KontakteinschränkungsDings, nur auf meinem Bildschirm treffe ich mich mit Freund_innen. Wir trinken, reden, spekulieren, widersprechen uns. Eigentlich nehmen wir uns mehr Zeit füreinander als üblich, ich führe lange Gespräche mit Menschen, die ich sonst selten sehe. Täglich gehe ich mit dem Kind raus, wir sind süchtig nach Licht und Sonne, beobachten Käfer, Katzen, Eichhörnchen, Menschen, sammeln Äste und Steine, untersuchen die Erde, lauschen den Geräuschen der Vögel. Das Kind grüsst alle Vorbeikommenden, brabbelt energisch gestikulierend drauflos und steckt so gut wie alle mit seiner unerschöpflich guten Laune an, die auch seine Stürze, und damit einhergehende Schrammen nur kurzfristig trüben können. Ein einziges Mal waren wir ultrakorrekt Distanzspazieren mit einer Freundin, aber davon schrieb ich ja schon. Ich habe bis heute große Schwierigkeiten mit Hierarchien, Regeln und Beschränkungen, aber hier mache ich, machen wir keine Ausnahmen. Gestern brachte der Paketbote eine Packung schwarze Plastikhandschuhe aus Latex Größe M. Sie erinnern mich an den Frühling vor zwei Jahren, die Hände meiner Tätowiererin, das Surren der Nadel, das Vibrieren unter der Ruhe, die einsetzt, wenn die Nervenenden den Schmerz akzeptieren, Körper und der Geist loslassen. Ein bisschen wie der innere Dialog beim Meditieren. Oder beim Schreiben. Heute ist der erste Osterfeiertag, mir waren Feiertage nie wichtig, meist arbeite ich. Das lange Wochenende beginnt mit der letzten Überarbeitungsrunde an meinem Romanmanuskript. Ich bin unruhig, ich drücke mich vor dem Anfangen vor dem Ende, so auch mit diesem Text. Eigentlich ist ein Text niemals fertig, es ist unmöglich. Das Ende ist niemals das Ende. Aber es gilt, rechtzeitig loszulassen. 

Und dann fällt mir noch mein Lieblingsneologismus von 2010 ein: ESKAPISMUSKATAPULT

 

Fabian, München

Ich kann jetzt sechzehn Fesnter neben- und übereinander gleichzeitig darstellen; ein unwahrscheinlicher Luxuseffekt der Situation, der ohne sie zumindest nicht so bald zustande gekommen wäre. Nicht, dass sich dadurch irgend’was änderte, am Blick auf und in die digitale Umwelt. Aber es fühlt sich anders an. Etwas weiter, immerhin, und ganz sicher wire wie jede Adaptierung von Perspektivenschnipseln allein der Eindruck sich bald verflüchtigen, oder so sehr in die Gewohnheit übergehen, wie innerhalb von wenigen Tagen die Covid-19-Situation. Nur ein paar Tage lang fühlte ich mich bedroht, stellte an mir, ganz offensichtliche allerdings, Phantomsymptome fest, ohne mich mit der ausführlichen, möglichen Symptomatik ausführlich auseinandergesetzt zu haben, die sich dann aber dann direkt proportional zur Intensität sozialer Kontakte verflüchtigten und im selben Maß wieder auftraten – heute videotelefonierte ich zwei Stunden mit einer Freundin, Romanbesprechungen, trainierte und beobachtete, wie die vor Kurzem gepflanzten Chili-Pflänzchen die direkte Sonneneinstrahlung draußen am Balkon inzwischen sehr viel besser zu vertragen scheinen, ohne den ganzen Tag lang mehr als den Müll runtergebracht zu haben, und einen riesigen Verpackungskarton. Mir ist klar, dass es, an und für sich, eine Luxusposition ist, nicht zu vegetieren, gerade, für jemanden, der auch sonst die großen sozialen Räume eher scheut.

 

11.04.2020

 

Viktor, Frankfurt

Vielleicht verstehe ich die Krise immer noch nicht umfassend. Ich wundere mich über so viel Angst um mich herum. Ich sehe Menschen mit Masken im Wald, wo der Abstand zu anderen sehr groß ist oder wo es kaum anderen Menschen gibt. Ich sehe Menschen nervös werden, wenn sie jmd für einen Moment zu nahe kommen. In Umfragen ist die Bereitschaft sehr groß, den Lockdown zu verlängern, manche wollen härtere Maßnahmen. Eltern wollen die Schulen länger geschlossen halten.

Ich traf letztens jmd im Wald mit seinem Kind, unsere Kinder düsten dann auf ihren Rädern hin und her, der Bekannte erzählte, er hätte einige Nachbarn seit Wochen nicht gesehen, die hätten sich komplett abgeriegelt.

Die MHH (Medizinische Hochschule Hannover) testet jetzt eine Tuberkulose-Impfung, die das Immunsystem stärken und so abwehrstärker gegen das Coronavirus machen soll. Vor dem Spiegel stehend sehe ich auf meinem linken Oberarm die Narben der Tuberkulose-Impfungen, die ich als Kind bekommen habe.

Persönlich kann ich dieser Zeit etwas abgewinnen. Aber ich merke auch, dass ich nicht so recht die Angst um mich herum verstehe, ich nehme sie nur wahr.  

 

Slata, München

Trennungsraten natürlich auch, Scheidungsraten, massenweise laufen Pärchen auseinander, suchen wieder nach bezahlbaren Einraumwohnungen, Ehegatten zerren an den Kindern, streiten sich über Unterhalt und Elternrecht, googeln, jeder heimlich, abends, an seinem Handy, der eine auf dem Ehebett, der andere auf dem Sofa im Wohnzimmer, wie viel ein Anwalt kostet und wie man die Kinder für sich behalten kann. Alte Greise gar, die das erste Mal Monate zusammen verbringen auf kleinstem Raum, vierundzwanzig Stunden am Tag, stellen plötzlich fest, dass es ja nicht auszuhalten ist, dass sie sich geirrt haben in ihrer Wahl und die Jahrzehnte, das ganze Leben davor vielleicht mit jemand Falschem verbracht, die Enkel sind schockiert, rufen sie besorgt an, aber die Alten bleiben standhaft, sie diktieren einzeln Einkaufslisten und bitten, ab jetzt zwei gesonderte Lebensmitteltüten vor der Tür abgestellt zu bekommen, getrennte Haushaltsführung, Trennung von Tisch und Bett.

 

Fabian, München

Maxim Biller fühlt sich intellektuell unterfordert. Spannend daran, dass er über die mediale Überrepräsentation der Pandemie hinaus seine Unterforderung kurz und knapp mit Desinteresse begründet. Er interessiert sich nicht für Biologie, etc. und vielleicht ist es das ehrlichste, was jemand bisher über das eigene Verhältnis zur gegenwärtigsten Gegenwart gesagt hat, die uns zur Verfügung stand, um einfach darüber hinweg zur Literatur zu gehen, als hätte er und in Bezug auf die gegenwärtigste Gegenwart nichts zu gewinnen. Man kennt vielleicht keinen anderen Gegenwartsautoren, der auch nur mit im Ansatz vergleichbarer Präzision die eigene Egozentrik dialektisch zu kontrastieren in der Lage wäre.

 

Rike, Köln

Das Gefühl von 50er jahren in der 2020 Trashversion. Alle (viele) spielen Kernfamilie, selbst die, die nicht wollen. Menschenfahrradketten von ausflügenden Muttervaterkindern mit Helmen und Fähnchen, die dürfen, rosa/blaue Farbkonzepte, der Rest rumbummelnde Einzelmenschen oder Pärchen, selbst die, die nicht wollen, sehen phänotypisch so aus. Lippenstift auflegen für das Einkaufen gehen, weil Highlight des Tages. Raus in die Natur sagen oder den Rasen mähen, ein Heim werkeln, Samstag Abend den Grill anschmeißen und niemanden einladen. Diese Vibes. Ich ziehe mir mein türkises Frotteeshirt an, das mich an Handtuch und Sonnencreme erinnert und rede mir ein, ich lauf zum Strand. Es klappt überraschend gut, paradoxe Intervention nennt man das glaube ich, vielleicht ist das auch der falsche Begriff. Durst nach Gesprächen mit Unbekannten. Lust auf Mayo-Ei und Cocktailobst im Supermarkt. Samstag Abend alleine Sektbowle trinken am offenen Fenster und den Dackel beobachten, (Freddy), der seinem Herren seit Tagen davon läuft. Der Herr brüllt dann immer. Dass ich den Namen seines Hundes kenne, seinen aber nicht. 

 

Marie Isabel, Dunfermline

  1. Wut ist kein österliches Gefühl. Also fülle ich sie in Flaschen und lagere sie bis nach den Feiertagen. Beschriftet: Dem NHS mangelt es an Schutzkleidung = mehr Medizinier und Krankenschwestern sterben (https://www.bbc.co.uk/news/health-52242856). Auffallend viele von ihnen People of Colour. Der Gesundheitsminister schiebt die eigene Verantwortung anderen in die Schuhe = Masken etc. würden verschwendet, u.a. von der Bevölkerung (https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/coronavirus-face-masks-uk-shortages-nhs-workers-matt-hancock-a9460011.html). Während sie anderswo verpflichtend werden. Man fordert medizinisches Personal im Ruhestand auf, wieder in den NHS zurückzukehren – mit direktem Patientenkontakt. Wo doch das Risiko mit dem Alter zunimmt. = Die ersten sind bereits tot. Personalmangel, klar. Planerisches Versagen der letzten Jahre? Exodus von EU-Bürgern wegen des Brexit? Erwähnen die Tories nicht. Stattdessen sprechen sie von ‘gefühlten’ Mängeln (https://www.bbc.co.uk/news/uk-52252470). Voll funktionsfähige Beatmungsgeräte werden vom Set einer Krankenhausserie der BBC an Krankenhäuser gespendet … Ich werde noch viele Flaschen brauchen.
  2. Trotz allem scheint nach anfänglichem Zögern die Sonne, und auf Gründonnerstag folgt Karfreitag, und schon ist Ostersamstag. Ich gehöre keiner Konfession an, aber die Emotionalität und Symbolik des christlichen Osterfests tut mir in diesem Jahr gut. Der Gottesdienst im Fernsehen (aufgezeichnet schon im Winter in der King‘s College Chapel in Cambridge) wirkt wie der sprichwörtliche Balsam. Ich erinnere mich an Ostern in einer kleinen Vorortkirche im weißrussischen Minsk, das Segnen des Brotes, das von Kerze zu Kerze weitergereichte Osterlicht, den freudigen Ton der getauschten Grußworte: Christus ist auferstanden! – Er ist wahrhaftig auferstanden! Mich überkommt Dankbarkeit.
  3. Dankbarkeit dafür, dass ich gesund bin und meine Familie und Freunde – einige von ihnen sind chronisch krank – bisher von der Pandemie verschont wurden. Dass ich mein Leben mit einem geliebten Menschen teile, für den ich morgen früh ein Riesenschokoladenei im Garten verstecken werde. Dass ich die Wohnung österlich dekorieren kann, einen Hefezopf backen, Gedichte schreiben, in Feld und Wald spazieren gehen. Dass es warm genug ist für leichtere, luftige Kleider. Dass plötzlich vor unserer Haustür Pflanzenableger für unseren kleinen Garten auftauchen – Geschenk einer Nachbarin. Dass ich relativ schmerzfrei bin. Dass es Menschen gibt, die ihr Leben für andere aufs Spiel setzen. Dass sie es vielleicht auch für mich tun würden.
  4. Am Abend dann noch einmal Nachdenken: Für alle, die nicht an Covid-19 erkrankt sind und niemanden kennen, der positiv getestet wurde, die im home office arbeiten und keine Verwandten im Gesundheitswesen haben, findet die Pandemie hauptsächlich im Fernsehen und im Supermarkt statt. Abstrakt trotz der persönlichen Einschränkungen und irgendwie weit weg. Vielleicht daher die ab und an in den Knochen nagende Angst. Klar, die Luft draußen ist sauberer. Flugzeuge sieht und hört frau kaum noch. Fahrzeuge weniger. Dafür sind manche Waren noch nach Wochen ausverkauft. Hefe, zum Beispiel. Weswegen eine Freundin jetzt versucht, selbst welche herzustellen. Was dabei vor allem wächst, sind Zweifel. Überhaupt gibt es momentan so viele Gründe zu zweifeln. U.a. der ungenügenden Zahl von Tests auf der Insel besteht Unsicherheit über die tatsächlichen Fallzahlen. Soll man nun eine Maske tragen oder nicht? Auf Twitter fragen Menschen, ob sie die einzigen seien, die ihren Einkauf desinfizieren. Nein, machen wir auch, ruft man ihnen entgegen. Fluch und Segen der sozialen Medien. Alle können sich mit allen anderen vergleichen. Dazu kommt, dass je nach Land unterschiedliche Regeln gelten. In Dänemark beispielsweise, whatsApped mir eine Freundin dort, sind Zusammenkünfte von bis zu 10 Personen erlaubt. Kein Wunder, dass sich neben mehr oder minder genauen Informationen irgendwann auch Falschinformation und Verschwörungstheorien multiplizieren.

 

12.04.2020

 

Rike, Köln

Ich verstecke jetzt Ostereier vor mir selber in meinen 3 Blumentöpfen, das ist keine paradoxe Intervention, eher Schizophrenie, aber keine andere Wahl und das gesuchte Gefühl. Die Kinder mit dem Garten von oben beobachten beim Eiersammeln. Immer wenn die große Schwester losrennt, rennt der Bruder auch (panisch). Das Gefühl völliger Sicherheit, beim Beobachten nicht entdeckt zu werden, weil selten Menschen in den Himmel schauen. Notiz: Mehr in den Himmel schauen, wenn Stresspanik. Hans sagt, sie kann das nicht zu lange machen, sie kriegt dann Platzangst. Sie kriegt Angst vor der eigenen Kleinheit. Die Kinder schlagen Sprachnachrichten für die Oma vor. Verschiedene Oma-Opa-Sprechchöre werden aufgenommen. Als sie frohe Ostern Oma Gerswid aufsagen, kriegen sie so eine Stimme. Roboterkinder, Dressurstimme, dabei hat ihnen das in dem Moment niemand vorgesagt. Wieder das Gefühl von 50er Jahre. 

 

Shida

Auf dem Land ist wirklich so ziemlich alles anders als in der Stadt. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe seit dreizehn Jahren in fünf mehr oder weniger großen Städten gelebt, die im Vergleich zu meinem Herkunftsort reine Metropolen sind. Mir sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land in ihren Facetten völlig egal, denn auf dem Land langweile ich mich und will schnell weg, das ist alles, was mich interessiert.

Corona verändert mal wieder alles. Corona färbt jede noch so kleine Eigenheit des städtischen bzw. des ländlichen Lebens, macht die Unterschiede sichtbar, für die ich nie Interesse hatte.

Hier, wo ich gerade unterkommen konnte, wohnt man in Häusern, nicht in Wohnungen. Man kann den Müll rausbringen, wann man will und muss nicht durch ein belebtes Treppenhaus gehen, Türen und Tonnen anfassen, die man sich mit Nachbar:innen teilt und die den ganzen Prozess des Müllrausbringens zu einer weiteren Corona-Falle machen. Hier sitzt man im Garten oder im Vorderhof, weil einem zwar ein komplettes Haus zur Verfügung steht, man trotzdem ein Gefühl der Enge hat. Hier muss man ein Auto haben, um einkaufen zu können und dass man einen Wocheneinkauf für eine ganze Familie im Einkaufswagen stapelt, ist hier auch außerhalb Coronas die reinste Selbstverständlichkeit. Hier gibt es keine Türsteher:innen am Eingang des Supermarktes, denn im Supermarkt sind sowieso nur drei Leute. Die drei Leute fahren keine U-Bahn, müssen aktuell nicht auf Menschenansammlungen verzichten, denn die gibt es hier sowieso nie, und sie wären mit Markierungen auf dem Boden vermutlich maßlos überfordert. Das haben sie nämlich noch nicht auf Fotos im Internet gesehen, denn das Internet funktioniert hier nur so rudimentär, dass man ewig auf jedes Foto wartet.

Ich bin nun seit zwei Wochen hier, in erster Linie wegen der Personen, mit denen ich die Isolation verbringe und für die der Faktor des Rausgehen-Könnens elementarer ist als für mich. In den zwei Wochen sind mir eine Millionen Dinge aufgefallen, die sich hier so grundsätzlich von meinem Leben in der Stadt unterscheiden und die alle den Effekt haben, dass Corona uns hier mehr und mehr als Idee und immer weniger als reale Gefahr erscheint. Mir fällt wieder ein, dass ich es deswegen unerträglich fand, auf dem Land aufzuwachsen. Man kann sich hier immer einbilden, man hätte mit der Welt da draußen nichts zu tun. Egal, welche Debatten geführt werden, welche politischen Umwälzungen geschehen, welche Viren rumgehen: Die Illusion, dass man selbst die ferne Insel ist, die nichts damit zu tun hat, will sich immer wieder aufdrängen und bestätigt wissen. Im Fall der Viren genieße ich es zum ersten Mal, dass die Zahlen hier tatsächlich so viel geringer sind.

P.S.: Superviel Liebe für alle Klugscheißer:innen da draußen! Ich korrigiere meinen privaten Klugscheißer jetzt sofort und fange an, alle zu verwirren und einfach mal DIE Virus zu sagen. Vielleicht setzt es sich durch. Und wenn Corona vorbei ist, habe ich gewonnen. 

 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich schaue per Video meinem dreieinhalbjährigen Neffen in Suffolk beim Ostereiersuchen vor dem Aufstehen zu. Die Begeisterung des Kleinen wird übertroffen vom Fleiß der großen Versteckt-Habenden. Das Beutelchen für die Süßigkeiten, das an seinem linken Handgelenk baumelt, scheitert schon am ersten Riesenei (gibt es die mittlerweile in Deutschland eigentlich auch?). Am Ende ist seine Mutter bepackter als er selbst, und er verkündet glücklich: ‘Come on, let’s go eat chocolate!’ Als später mein Mann das Erwachsenenosterei findet, das ich für ihn im Garten versteckt habe, sehe ich, wie seine Augen leuchten. Ich freue mich mit. Mit meinem Neffen. Mit meinem Mann. Mit mir selbst, als ich ein auf Daumendruck blökendes Minischaf auspacke, das uns meine Schwester zu Ostern geschickt hat. Es steckt eben doch ein Kind in uns allen.

 

Slata, München

Waren wir früher fast stolz darauf, auf genügende Distanz zu achten, jedem sein Revier zu überlassen, mittlerweile abends jeder seins zu machen, Respekt und Gleichgewicht und, ja, den anderen ein gutes Beispiel geben (Was, er geht abends echt ins Kino, ohne dich? Was, fährst du für eine Woche weg, alleine?), stellt sich nun heraus, dass es kosmetisches Gehabe war. Planten wir selbst die seltensten Urlaubsreisen sorgsam, keine zehn Tage, nie, eine Woche mehr als genug, was sollen wir da machen, die ganze Zeit zusammen, und jetzt, fünf Wochen ‒ Sprechen wir nun zueinander, vermeiden wir Blickkontakt und sagen etwas vor uns hin, in den Raum hinein, oder richten unsere Rede an das Kind oder an jemanden Imaginären, den großen Anderen vielleicht, ekeln uns voreinander schon, lassen sich die besten Gefühle füreinander nicht durch Homeoffice vernichten, und etwas groß zu sagen gibt es auch nicht mehr.

 

13.04.2020

 

Janine, Flensburg

Meine dänische Schwiegermutter hat Ostern gefeiert, im Kreise ihrer Geschwister und deren Familien. Sie hätten extra einen besonders großen Tisch ausgeliehen, damit sie mit Abstand sitzen konnten. Mir fällt dazu sehr viel ein, aber ich sage nichts; mein Dänisch ist zu schlecht und mit Englisch ist es in diesem Fall einfach nicht dasselbe. 

 

Shida

B. und ich haben ungläubig hin- und herdiskutiert, am Ende den Kalender rausgeholt, ganz am Ende mit dem Kontroll-Finger die Wochen abgezählt: Es sind vier Wochen Rückzug aus dem normalen Leben, aus der Welt, aus allem. Diese Erkenntnis wiederum ist nun vier Tage her. Sind vier Wochen und vier Tage Isolation nun viel oder wenig? Das ist wohl genau das, was wir auch nicht einschätzen konnten, deswegen das Hin- und Herdiskutieren. Gibt man zu, dass es viel ist und nimmt sich damit die Energie, womöglich noch länger so weitermachen zu müssen? Meine Strategie von Anfang an war, nicht anzufangen, von Corona genervt zu sein. Wenn man nicht weiß, wie lang es am Ende dauern wird, ist das die Energie, die wir noch brauchen werden. Genervtsein ist der Luxus, den man sich aufsparen muss für die wirklich harten Momente. Innerlich pendelt man seine Geduld trotzdem auf den 19.April ein, in der vollkommen naiven Hoffnung, dass es danach normal weitergeht (was es nicht wird, I know). In den kommenden Tagen wird man mehr wissen und es ist doch immer der letzte Abschnitt der Strecke, auf dem man die Geduld dann doch verliert und gerne aufgeben möchte. Gleichzeitig denke ich: Wie viele Leute haben (zumindest hier auf dem Land, wie gesagt, besondere Rahmenbedingungen, eigener Umgang) Ostern irgendwie doch nicht mehr so richtig an den Vorgaben festgehalten, wie viele Leute gehen gerade im Kopf mehr und mehr die Ausnahmen durch, die man vielleicht doch auch langsam machen könnte, weil man doch einiges getan hat, um das Risiko möglichst gering zu halten. Wäre also vielleicht gerade doch der wichtigste Zeitpunkt für klare Hinweise, Anweisungen, Ausblicke, und wenn sie lauten: Die Schulen und Kitas bleiben weitere vier Wochen geschlossen, jetzt reißt euch alle noch mal zusammen.

Hier in dem winzigen Dorf gehen die Kinder “klappern”, um die Kirchenglocken traditionell über Ostern zu ersetzen. Es scheppert einige Minuten auf den Straßen, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass hier überhaupt Kinder vorhanden sind und dass die dann auch noch ernsthaft um 7 Uhr morgens aufstehen, um Kirchenglocken zu ersetzen (und dabei dann zwei Meter Abstand zueinander halten und Mundschutz tragen? Hmm.). Dabei sind sie dieses Jahr vermutlich wichtiger als sonst. Selbst ich als Atheistin freue mich über ihr Signal, ihre Geräusche, ihr Dasein, ihr Engagement. Es ist vielleicht, neben dem geänderten Feiertagsprogramm im Fernsehen, das Einzige, was gerade an Ostern erinnert. Überhaupt, Fernsehen, das ist sowas, was ich letzte Woche wiederentdeckt habe und wie immer nach einer Zeit der Abstinenz haben mich die Werbespots in ihren Bann gezogen. Es gibt so viele Quarantäne-Werbespots, plötzlich so viel Werbung für Tiefkühlpizza und Abholservices. Mir hat das Fernsehgucken gutgetan, endlich hat die Werbung mal meine Lebenssituation verstanden.

Morgen geht der normale Arbeitswahnsinn wieder los. Ich mag meine Peergroup (ok, Kernfamilie ist das Wort, das man eigentlich dafür benutzt) und genieße unsere gemeinsame Zeit. Aber normaler Weise ist mein Zuhause mein Büro und damit der Ort meines einsamen, konzentrierten Denkens. Die Stunden am Tag sind normaler Weise die, in denen ich nicht nur meine eigene Chefin, sondern die Chefin meines Zuhauses bin. Seit Corona teile ich mein heiliges Büro plötzlich rund um die Uhr. Als hätte man plötzlich die freie Wildbahn um sich, weil man einmal nicht gut aufgepasst hat. Ich vermisse es so sehr, konzentriert allein zu arbeiten, die meditative Stille beim Denken. Und Alter, wie vermisse ich es, in Städte zu fahren, in Hotels unterzukommen, abends auf Bühnen zu sitzen, Menschen zu treffen, Menschen zu sprechen, ganz selbstverständlich Literatur im Fokus zu haben. Aber das sind diese Momente, in denen man wieder aufhören muss, zu denken. Sonst klappt gar nichts, falls es Mitte der Woche heißt: Die Beschränkungen werden um vier Wochen verlängert.

 

Sarah, München

Manchmal rasen die Katzen einfach los, über die schrundige Wiese und zur Gartentür hinaus, mit hochgestelltem Schwanz in einem ausgestreckten Galopp. Nach ein paar Minuten kommen sie dann wieder im Gang eines gelassenen, siegreichen Tigers. Wenn sie so rennen – es ist kein Jagdrennen, denn Katzen jagen nicht rennend, sondern lauernd – habe ich mir bis vor ein paar Wochen immer gedacht: Das muss die Furcht sein, die sie packt. Die Furcht, dass sie vielleicht plötzlich nicht mehr hinaus können. Sie kommen aus Rumänien. Straßenkatzen. Hungrig, aber frei. Dann kamen sie in die Tötung und von da nach Deutschland, wo sie zwei Jahre in einer kleinen Wohnung gelebt haben. Sie wissen also was es heißt, Freiheit zu verlieren.

Seit dem Shutdown denke ich jetzt jedes Mal, wenn die Katzen in ihrer Frucht um die Freiheit davonjagen: Ob es uns auch so gehen wird? Wenn das alles wieder vorbei ist? Wird uns die Furcht um unsere Freiheit manchmal überfallen wie ein Rasen, das uns in die Städte stürzen lässt? In die Bars, Kinos, Restaurants? Hungrig nach Freiheit und anderen Menschen? Werden wir wieder für unsere Grundrechte kämpfen? Für ein digitales Vergessen zum Beispiel?

Vielleicht kommt es aber auch so, dass wir ganz und gar vergessen, wie das geht, das mit der Freiheit. Weil das Gefängnis nicht der Lockdown ist, sondern die Angst. Und dass diese Angst uns bleiben wird. Je länger der Lockdown dauert, desto schwerer wird sie sich abschütteln lassen. Denn schon jetzt denken wir bei Bildern von Menschenansammlungen: AUSEINANDER! IHR WAHNSINNIGEN! Das muss hängenbleiben. Oder?

Trotzdem stelle ich mir die Zeit danach als Fest vor. Mit Tischen und Stühlen auf den Straßen, bunten Lampions in den Bäumen und Menschen, die einander in den Armen liegen. Und uns alle stelle ich mir als Tiger in Menschengestalt vor, die gelassen in ihr Revier zurückkehren, aus der Freiheit, von der sie doch wussten, dass sie auf sie gewartet hat.

 

Fabian, München

Man dürfe nicht davon ausgehen, das wire wie das “Es war eine Zeit” Bruce Willis’ in Lucky Number Slevin als Ausgangs- und Knotenpunkt der Erzählung. Es lässt sich vielleicht und ohne Weiteres behaupten, dass es sich dabei nicht um die cleverste mögliche Eröffnung eines durchaus sehr cleveren Films handelt. Nun ist der durchschnittliche deutsche, überregional-mediale Kommentar zumeist (intellektueller) deutscher Kommentatoren zweifellos kein clever geplotteter amerikanischer Film mit Millionenbudget, aber es ist doch auffällig, wie viele der sozusagen intellektuellen Kommentatoren der Krise sich dazu verschworen zu haben scheinen, die Komplexität aller möglichen und notwendigen und wahrscheinlichen Maßnahmen und Folgen und Begleiterscheinungen der und zur Bewältigung der Krise und entgegen jeder facherkenntlichen Enigmatik auf die Phrase, Corona habe “die Welt fest im Griff” herunterzubrechen. Das ist perfide, als ob es der Alternativlosigkeit der Feststellung bedürfte, um die jeweilige Alternativlosigkeit des Folgenden zu untermauern, umso perfider oder wahlweise achtloser, wenn die hohle Phrase dazu dient, eine Diskursverschiebung zu naturalisieren, die, nach allem was wir wissen, längst nicht ausgemacht sein kann. Wahlweise ärgerlich, wenn “wir” als Kollektiv, nagut, ganz zu schweigen von den kontemplierenden Individuen ihrer Beiträge, die sich der Phrase bedienen, genug über das Virus wüssten. Das Virus hat ganz sicher die Zellen fest im Griff, die es zur Reproduktion nutzt, wie Covid-19 die schwer erkrankten Körper vorweg aller Maßnahmen fest im Griff hat, aber alles darüber hinausgehende ließe sich höchstens als vielschichtiges Ineinandergehen von Entscheideungskaskaden und -bäumen im kausalen Zusammenhang zwar, immerhin, vorstellen, sodass sich eher, vielleicht, behaupten ließe, die Welte habe, als Diskursmoment, Corona fest im Griff.

 

Emily, Rostock

Inzwischen treffen mein Therapeut und ich uns einmal in der Woche in einem Chatroom um gemeinsam zu atmen. Ich weiß, dass wir uns dabei gleichermaßen lächerlich vorkommen, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Generell versuche ich mir nur noch wenig anmerken zu lassen. 

 

14.04.2020

 

Jan, Hannover

Heute ist Nochntag. Mit lautem Getöse zerren die Männer von der städtischen Abfallwirtschaft die Müllcontainer aus ihren vergitterten Verschlägen und treiben sie auf dem Bürgersteig zusammen. Zumindest einmal in der Woche bringen sie so noch etwas Leben in die Straße. Seit dem Lockdown haben die Paketboten der konkurrierenden Dienste insgesamt exakt ein Päckchen für unsere Nachbarn bei mir abgegeben. Vor dem Lockdown kam ich oft schon an einem einzigen Tag auf drei bis vier Sendungen, die ich treuhänderisch bis zur ihrer Abholung in unserem Flur lagerte. So war ich jederzeit bestens über die breit diversifizierten Bedarfe und Bedürfnisse in unserem Haus informiert. Der Rekord waren acht Pakete an einem Tag. Jetzt aber hocken alle Nachbarn den ganzen Tag lang in ihren Wohnungen und warten wie Junkies selbst auf ihre verschiedenen Zusteller, als wären ihre Online-Orders die letzte Verbindung zu einer ansonsten unerreichbar gewordenen Außenwelt.

Kleiner Hund, die große Diva, kommt angewackelt, streckt sich und posiert vor seiner Bücherwand, als würde gleich eine Videokonferenz starten. Ich bin so unwichtig, dass ich seit Ausbruch der Pandemie noch nicht eine einzige richtige Videokonferenz hatte, nur Koch- und Trink-Calls, aber Kleiner Hund ist auf allen Kanälen bestens vernetzt. Das Tier, wie wir es liebevoll nennen, hat in den vergangenen Wochen etwas zugenommen, obwohl wir es achtsamer ernähren, als es uns bei uns selbst je gelänge. Dass wir die Walkies-Runden lockdownbedingt etwas kürzer gehalten haben, macht sich bemerkbar. 

Gleich wird der Wecker klingeln, um uns aufgeregt an seine wichtige Rolle in unserem Haushalt zu erinnern, aber ich bin ihm bereits um eine Stunde voraus. Vor dem Badezimmerspiegel zwinge ich mich zu meinem morgendlichen Kniebeugen-Regime. Auch ich habe zugenommen, was den sportlichen Wert dieser Verrichtung natürlich spürbar erhöht; mehr Gewicht bedeutet mehr Kraftaufwand, ich kümmere mich um mich. Mein Haar wellt sich schon über die Ohren, und vergangene Woche ist auch noch der Barttrimmer kaputt gegangen. Die Krise hat viele Gesichter, meines wuchert langsam von allen Seiten zu.

Die Kids mit den BMX-Bikes (nennt man das heute noch so: BMX? Kids??), die ich früher nie hier gesehen habe, drehen schon wieder gelangweilt ihre Runden im Hof, die dicken Reifen surren über das Pflaster, aus einem Smartphone-Lautsprecher bellt heiserer Delinquenten-Rap. Frühaufsteher-Kids, aha, die werden es noch weit bringen. Der Wecker klingelt, Kleiner Hund antwortet mit kurzem, rhythmischen Fiepen. Gleich werde ich ein paar Downloads starten, meine Fähigkeiten zur Lokalisierung, Beschaffung und dezentralen Ablage digitaler Unterhaltungsinhalte haben sich seit dem Lockdown deutlich verfeinert. Catch and chill. Man kann vielleicht nicht mehr verreisen, aber man kann immer noch jederzeit seinen Standort im VPN ändern.

Die Barista-Boys haben den Espresso zu fein gemahlen. Meine Pyjamahose hat ein Loch. Heute ist Nochntag.

 

Shida

Der Bericht der Leopoldina in Halle ist eine der wichtigen Grundlagen für weitere Entscheidungen, hat Merkel mehr oder weniger angekündigt. Seit gestern liegen deren Einschätzungen vor. Ich bin von den möglicher Weise berechtigten Kritikpunkten, die Menschen daran finden, genervt, weil ich keine Ruhe habe, mich damit auseinander zu setzen. Der Bericht klingt in meinen Ohren plausibel (schrittweise zur Normalität zurück, Schulen für bestimmte Jahrgangsstufen in kleinen Gruppen und mit Mundschutz wieder öffnen, Negativfolgen auf Psyche der Menschen in Isolationszeit nicht unterschätzen und so weiter) und gleichzeitig ist es völlig egal, wem er wie plausibel erscheint denn er ist kein Garant für nichts, was in den kommenden Tagen entschieden wird. Ich finde, er klingt nach Hoffnung, nach dem kleinen Stück hellem Himmel, auf das man starrt, wenn es regnet. Die Vorschläge sind für meine persönliche Arbeitssituation trotzdem niederschmetternd. Die prall gefüllten Arbeitstage werden bleiben. Das ist nach wie vor alles machbar und händelbar und kein Grund zum Losheulen. Es würde nur wirklich sehr helfen, es gäbe eine Pause davon. Einmal ausschlafen zu dürfen, überhaupt einmal dem Schlaf, den der Körper für sich einfordert, nachgeben zu dürfen, nämlich so ungefähr 15 Stunden am Stück. Einmal kurz Wochenende von Corona bitte, dann geht es schon wieder.

Heute stürze ich mich wieder mit mehr Energie in den Roman, an dem ich arbeite. Figuren, die ich mir ausdenke, fühlen sich an wie der eigene Nachwuchs, ich will, dass es ihnen gut geht und sie tun mir mit ihrem Eigenleben wiederum gut. Im Moment würde ich ihnen gerne Dankeskarten dafür schicken, dass mir die Arbeit an ihnen eine Welt ohne Corona liefert. Eine Welt, in der ich entscheide, dass es hier kein Corona gibt und niemals geben wird.

 

Slata, München

Irgendwie soll da morgen was beschlossen werden, keine Ahnung, da wurde etwas gesagt vor ein paar Tagen im Radio, also das klang so, als ob da was beschlossen werden müsste, und auch, vielleicht, ob Schulen öffnen, Horte und Friseursalons, das, was uns fehlt gerade, stell dir vor, wie da alle auf einmal in den Urlaub aufbrechen, das wird was geben, hej, da wird wieder alles zusammenbrechen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig mitbekommen habe, also mitgehört, weil wir grad gegessen haben und die Hälfte verpasst, zum Ende hin erst auf laut gestellt, aber irgendwas muss da ja gesagt worden sein, woher hätte ich mir das gemerkt, dass morgen, am Mittwoch, irgendwas beschlossen werden soll, ich warte dann bis Mittwoch nochmal ab, ob da was verkündigt wird, und bestelle dann ein Set, ein einfaches, als Erste Hilfe sozusagen, einen guten Kamm, eine Schneidemaschine und eine scharfe Schere.    

 

Nefeli, Berlin/Hamburg

Ich glaube, ich bin nicht mehr wirklich alltagstauglich seitdem ich kaum mehr Termine habe. Diese Woche wird irgendwas beschlossen und dann gibt es vielleicht wieder Normalität. Das ist für mich ein bisschen so angsteinflößend wie die Abwesenheit jeglicher Normalität. Ich glaube, ich weiß gar nicht mehr so richtig, wie das geht. Zurück nach Hamburg gehen, ins Büro, Schlafrhythmus, die Liebsten treffen, auf der Straße Bier trinken, Termine ausmachen, Google Kalender pflegen. Mir kommt das alles befremdlich vor, jetzt wo ich mir all das abtrainiert habe. Ich sitze auf dem Fensterbank und die Sonne knallt rein. Beim Lüften merkte ich allerdings, dass es gar nicht warm ist. Ständig wird man reingelegt. 

 

15.04.2010

 

Sarah, München

Seit wir auf uns selbst zurückgeworfen sind, koche ich noch mehr als sonst. Oder eher: Gewissenhafter und Detailverliebter als sonst. Denn vor Corona musste ja auch Essen auf den Tisch. Und in unserer Familie bin ich der Koch- und Einkaufmensch, während mein Mann der Wäsche- und Aufräummensch ist. Kochen war schon immer ein Weg, ohne großes Nachdenken kreativ zu sein. Nun nehme ich mir mehr Zeit, experimentiere herum, lese sogar in Kochbüchern nach, was ich sonst höchstens zu Weihnachten oder Geburtstagen mache. 

Und ich merke, wie ich in meinem Kopf auf Reisen gehe, daran denke, wie wir entschieden haben, dass eine Familie ein Waffeleisen braucht. Oder der Reiskocher erinnert mich an meine ehemalige Mitbewohnerin, die ihn mir zum Auszug geschenkt hat und wie ich dastand, zwischen meinen Kisten, mit dem Kochtopf in der Hand und heulte. Und dann sind da noch die fünf rumänischen Kochlöffel. Handgeschnitzt. Ich koche gern mit ihnen. Sie liegen gut in der Hand, haben eine angenehme Größe und eine tatsächliche Mulde, so dass man mit ihnen auch gut abschmecken kann. Bis zum Fall des eisernen Vorhangs aß man in Maramures, wo die Löffel herkommen, auch mit diesen handgeschnitzten Löffeln. An die Zeit in Maramures erinnere ich mich eigentlich gern. Aber nicht so sehr an den Kauf der Löffel. Denn es war einer dieser Imperialisten-Momente, aus denen es keinen Ausweg gibt. Auf dem Parkplatz eines Supermarktes kam ein Mann auf uns zu, sonnengegerbt und die linken drei Vorderzähne weg, vielleicht war er Mitte vierzig, oder fünzig, auf eine raue Art hübsch, trotz der Zähne. Er hielt die fünf Löffel in der Hand, streckte sie mir entgegen. Sehr fröhlich und siegesgewiss. Och wollte keinen Löffel. Er blieb eisern. Und schließlich kaufte ich alle fünf. Weil sie so unfassbar billig waren und ich mich in der Situation als reiche Touristin (in Maramures ist jeder, der es sich erlauben kann zum Spaß zu verreisen reich) zum Schreien unwohl fühlte. 

Nun stehen die Löffel mit anderen Kochgeräten in einem alten Sektkühler. Und seit Corona erinnern sie mich nicht mehr nur an ihren Verkäufer und vermutlich auch Erschaffer. Sie erinnern mich auch an das Krankenhaus in Sighet (offiziell Sighetu Marmației), wo auf dem Klinikgelände das Rudel wilder Hunde lebt und in den Betten die Matratzen fehlen. Ich muss an die gespendete Klinikausrüstung aus Deutschland denken, die Rostflecken hat und aus den sechzigern ist. An die Ärzte und Schwestern, die schon vorher den Mangel verwaltet haben, würdevoll und ernst und mit viel Fachwissen. Wie viele Beatmungsgeräte es wohl bei ihnen gibt? Corona gibt es natürlich auch in Rumänien. Und es wird auch nicht vor der Idylle von Maramures haltmachen. Und wenn schon New York um Beatmungsgeräte betteln muss, wie wird es wohl dort gehen, dort, wo 

 

Nabard, Bonn

“Was bringt dir das alles? Ist es überhaupt was Wert wenn du dich so aufopferst? Wozu machen wir das alles, nur damit am Ende ein Vollhorst unsere Arbeit kaputt macht oder die Leute es nicht wertschätzen!? Nabard! Pass bitte auf dich auf! Wann hattest du das letzte mal Zeit für dich? Für Musik? Kunst? Inspiration? Deine Umwelt? Verlier dich nicht, mein Bruder!” 

Habe Alex seit London Anfang März nicht mehr gesehen, er ist wieder in Marburg. Ich in Bonn. Dennoch weiß er, spürt er, dass vieles mich momentan stresst.

Habe kurz runter gespickt und gesehen dass parallel zu mir jemand schreibt und nach mir fragt; 

Hallo Sandra! Ja mir geht’s gut. Ich bin angehender Arzt im praktischen Jahr und war bis eben noch im Krankenhaus. Stressig aber ich liebe es. Und du? Wir haben einen Garten und während meiner Quarantäne war es mein Spot, ab der zweiten Woche, jeden Morgen dort frühstücken. Bis mittags sitzen und was lesen. Naja, meiste Zeit YouTube Videos schauen. Ich wollte gerade laufen gehen aber ich dachte ich tippe euch diese Zeilen. 

Zurück zu Alex; ja, er hat recht. Sich für etwas einsetzen und engagieren kostet Kraft. Vieles bleibt auf der Strecke ohne das man es merkt. Virtuell ist man für alle da. Doch was ist virtuelles wert? Ersetzt es die Umarmung eines geliebten Menschen? Das gemeinsame chillen auf dem Balkon? Das Gefühl wenn beide von den Zeilen des Lieblingskünstlers berührt werden? Der Handschlag wenn man etwas fühlt und es zum Ausdruck bringen will? 

Lustigerweise traf ich am nächsten Tag einen alten Arbeitskollegen aus der Zeit wo ich als MTRA in einem Bonner Krankenhaus arbeitete. Er arbeitet jetzt im Schwesternhaus und sprang gestern bei uns ein. Ich saß im Arztzimmer als er an der Tür stand und die Tür nicht aufbekam. Ich ging zur Tür, öffnete sie und sah ihn. Mit seinen 1,95 wirkte er vor fast 7 Jahren noch riesig jetzt sah ich ihm gefühlt in die Augen und ohne zu überlegen umarmten wir uns für mehrere Minuten! Lachten, freuten uns und ließen alle Emotionen heraus. Alt ist er geworden, er stehe kurz vor der Rente und freue sich dass ich es soweit geschafft habe. Seine beiden Söhne studierten jetzt. Er müsste wieder rüber, wir gaben uns beide die Faust zum Abschied. 

Dieser Moment wo ich einen alten Freund umarmen konnte zeigte mir nochmal wie wichtig realer Kontakt mit unseren Mitmenschen ist. Hoffentlich verlernen wir es nach dieser Pandemie nicht.

An Sandra die gerade ihre Zeilen tippt, ich sehe welchen unendlichen Akt du und andere leistet. Worte können nicht ausdrücken wie sehr ich mir wünsche das es sich ändert! Ich will mit euch kämpfen. Hoffentlich können wir das gemeinsam ändern! Zu deiner letzten Frage; JA! Mit jedem Tag mehr. Hab einen schönen Abend und euch  viel Vergnügen mit unseren Zeilen. 

 

Sandra, Berlin

Wo war ich? Ah, auf dem Eskapismuskatapult. In neue Texte hineintauchen und alle 5 Minuten wieder hinaus. Rückenschmerzen vom Kind herumtragen. Kopfschmerzen vom andauernden Nachrichten hören lesen sehen. Kann mich nicht konzentrieren. Apropos:

Während ich diese Zeilen ins googledoc tippe, tippt ein anderer Mensch parallel zu mir. Ich sehe die Zeilen vorwärts und rückwärts laufen, wenn getippt korrigiert gelöscht wird. Das ist ziemlich witzig und ich stelle mir vor, dass mein unsichtbares Gegenüber sieht wie ich tippe mich vertippe lösche von vorne anfange. Hallo anderer Mensch! Wie gehts denn dir so? Hast du noch einen Job? Hast du einen Balkon? Einen Garten? Ein gutes Gewissen? Hast du dir deine Schreibzeit auch gestohlen?

Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich an die unzähligen Menschen denke, denen es viel schlechter geht an mir. Aber es geht mir trotzdem nicht gut. Ich bin zornig, ich bin müde.

In Merkels Rede kein Wort zur Carearbeit (Nein, es geht nicht um „Verzicht“!), zu den Eltern, die arbeiten und kinderbetreuen müssen, ich könnte auch Frauen schreiben, die arbeiten und kinderbetreuen müssen, denen niemand Ausfallshonorare zahlt, von denen erwartet wird beides zu schaffen, die unmöglich beides schaffen können, nicht auf Dauer. Alleinerziehende werden ohnehin wie so oft ignoriert. Diese unsere Gesellschaft schenkt den Frauen nichts.

Ohne Familienpolitik kann und darf Wirtschaftspolitik nicht mehr gedacht und gemacht werden. Und wie @bergdame so treffend schreibt: Familien sind alle Menschen mit Kindern, die Verantwortung für Kinder tragen.

Oh! Ich hab Antwort von meinem tippenden Kollegen. Hallo Nabard. Mir gehts nicht so gut. Siehe oben, ich bin sehr zornig, sehr müde. In meinem Kopf hab ich auch einen Garten. Muss mal wieder Blumen gießen, der Rasen sieht schon etwas angetrocknet aus, der Hund vom Nachbarn hat Löcher gegraben, die Katze einen Vogel gefressen. Federn überall. Willst du immer noch Arzt werden? War ein gutes Parallelschreiben, der wandernde Cursor hat mich motiviert. Jetzt beginnt meine Abendschreibschicht mit open end. Find ich gut, dass du nach wie vor Arzt werden willst, lieber Nabard. Take care! 

Ich korrigiere und schreibe meine Texte meist endlos um. Aber jetzt lass ich das einfach mal so stehen. 

 

Emily, Rostock

Was sich vor meiner Haustür abspielt: eine Gruppe Männer trinkt Bier auf einem Fensterbrett im dritten Stock. Ein Hinterhof wird umgegraben. Eine Schlange beim Bäcker, bei der Drogerie, beim Metzger. Ich kann nichts dagegen tun, dass mir die Situation mit jedem Tag unwirklicher vorkommt. Ich habe Angst und Sorge verlegt und manchmal muss ich mich auswringen, um sie wiederzufinden. Ein Gefühl als wollte ich mich zum Weinen zwingen. Ich muss mich aktiv daran erinnern, warum ich Ostern nicht mit der Familie verbracht habe, warum irgendwann das Geld knapp wird, warum mein Flug nach Griechenland vom namenlosen Kundenservice annulliert wurde.

Erst vor ein paar Stunden wurde beschlossen, wie die Lockerungen im Land aussehen werden. Fast beschämend: ich denke erstmals nicht an die Risikopatient*innen und die Kranken. Ich denke, dass ich mir die Ostseestrände ohne all die Menschen kaum vorstellen kann. 

 

Marie Isabel, Dunfermline

Sagt einem ja keiner, dass in Flaschen abgefüllte Wut frau irgendwann kräftig um die Ohren fliegt. Hilft außerdem wenig, wenn du dann bedröppelt mitten im Schlamassel stehst und dein Blick auf immer neue Schlagzeilen trifft, die dich innerlich explodieren lassen.

Etwa, dass ein Viertel der Corona-Toten in Schottland aus Pflegeheimen gemeldet wurden (https://www.bbc.co.uk/news/uk-scotland-52292001). Auf BBC Radio4 schildert eine Frau, das Heim ihrer Mutter habe telefonisch mitgeteilt, dass Letztere im Fall einer Corona-Infektion keine Krankenhausbehandlung erhalten werde. Das, in Kombination mit dem grassierenden Mangel an Schutzkleidung, klingt fast wie ein Todesurteil. Ich möchte gern Juristen dazu hören: Auf welcher rechtlichen Grundlage werden solche Verfügungen über die Nicht-Versorgung von Menschen getroffen?

Dann wird heute verkündet, dass man wieder Abschied nehmen dürfe von sterbenden Angehörigen (https://www.bbc.co.uk/news/uk-52299590). Die Maßnahme wirkt irgendwie zynisch aus dem Mund von Gesundheitsminister Hancock, der Schutzkleidung und ausreichende Tests gefühlt jeden Tag neu verspricht, aber wenig zustande bringt, ganz zu schweigen von anderen Versagensbaustellen.

Teile der Bevölkerung bekleckern sich gerade ebenfalls mit wenig Ruhm, wie ein Beispiel aus Edinburgh zeigt: Da gibt es doch wirklich Menschen, die ihnen Fremde, die sich beim Spazierengehen zufällig treffen und miteinander unterhalten, unvermittelt anschreien, beschuldigen, nicht genügend Abstand zu halten und dann mit dem Maßband zur (scheiternden) Beweisführung schreiten (https://www.bbc.co.uk/news/uk-scotland-edinburgh-east-fife-52230081). Unter anderen Umständen: comedy gold.

Dann die Meldung über Channel 4 (https://www.channel4.com/news/pregnant-nhs-nurse-dies-with-coronavirus-but-baby-saved), dass am Ostersonntag eine 28jährige Krankenschwester an Covid-19 gestorben ist; nur Tage vorher war ihre jüngste Tochter durch Kaiserschnitt gesund zur Welt gekommen. Obwohl unklar bleibt, wie sie sich angesteckt hat, ist klar, dass sie bis ca. Mitte März noch Patientenkontakt hatte. Wieso man, in einer angekündigten Pandemie, eine hochschwangere Frau überhaupt einem Risiko ausgesetzt hat, bleibt mir schleierhaft. Ist es purer Zufall, dass es sich um eine Frau of Colour handelt?

Das ist natürlich nicht der ganze Katalog des gerade alltäglichen Wahnsinns, aber wenn ich jetzt noch von Flüchtlingen in Seenot oder Klassenunterschieden in der Bewältigung des Lockdown anfange, mag ja gar keiner mehr weiter lesen. Da hilft nur, mit etwas besseren Nachrichten die Wutflut einzudämmen: Also ende ich für heute mit dem fast 100jährigen Kriegsveteran Captain Tom Moore, der seit einiger Zeit mit einem Rollator unermüdlich rund um seinen Garten in Bedfordshire stapft, um Geld für den NHS zu sammeln. Eigentlich wollte er £1,000 zusammenbekommen. Inzwischen sind es mehr als £4 Millionen.

Prinzipiell ist die Idee, den NHS durch Spendenaktionen mitzufinanzieren, absurd; aber Fakt ist: das Geld fehlt, und die Großartigkeit dieses einen Menschen macht zumindest gefühlt manche Widrigkeit wett.

PS: Ich verspreche bald wieder weniger Presseschau und mehr Introversion oder was dafür gelten mag.

PPS: 16. April: Nun hat Captain Moore, noch vor seinem 100sten Geburtstag, 100 Runden um seinen Garten gedreht. Laut BBC sind £12 Millionen für den NHS zusammengekommen. !!!

 

Fabian, München

Was zur Hölle ist relevant. Was wäre konsequenter an der Annahme, die Fragen zu stellen wäre dem Versuch, sie sich zu beantworten, vorzuziehen. Etwas macht, etwas sieht zeitversetzt, die ganze “Corona-Kultur” ist eine Kultur inhärenten Zeitversatzes, ganz zweifellos, oder? Unser Unfähigkeit, die Welt zu erfassen, bestätigt sich in der zur Regel konvertierten Ausnahme von der Regel pluralistischer Berichterstattung; das ist zu einfach – was soll’s? Es gibt immerhin noch Nebenschauplätze, aber keinen Bezug auf die Krise dort, die sich nicht in der möglichen Welt unwahrscheinlicher Dramen realisiert. Zoos, die zur Ernährung der einen die Schlachtung der anderen Terie zur Disposition stellen, aus reinen, brutalen Kostengründen, Dispositiv der Fragilität von Institutionen, deren ganz selbstverständliche Stabilität des schönen Scheins in Friedenszeiten keiner infrage stellt. Und ganz sicher gibt es noch weniger plakative Beispiele und ganz sicher äußerst sich’s als unangemessen grobe Verkürzung, wenn man dabei das Gefühl hat, dass Facebook etwa schon einen Grund haben wird, mit dieser zweifelhaften Funktion der Vorfilterung der “relevantesten” Kommentare sehr häufig eher militante Eindimensionalist*innen zu bevorzugen, für die die Welt, und mit ihren engen Perspektiven durch die thematischen aber immer gleichen Bezüge, nicht in die Widersprüche, Zufälle und Ambivalenzen zu zerfallen  scheint, die zur Verfügung stünden, immer.

 

Matthias, Jena
Die Fernseher sind so groß, dass es Wohnzimmerfenster gibt, die fast völlig davon ausgefüllt werden. Man schaut in ein fremdes Wohnzimmer und es ist einfach, als schaute man auf einen großen fernen Bildschirm, und genau das tut man ja auch. Das ist mir früher nie aufgefallen, aber ich gehe jetzt anders durchs Viertel.
Der Spielplatzsand, der in den vergangenen Wochen mit der Sandmaster-Siebmaschine durchgearbeitet und geharkt wurde, harrt hinter rotweißem Flatterband darauf, dass Kinder irgendwann wieder zum Spielen nach draußen dürfen.

Ich habe immer noch leichte Atemschwierigkeiten, die ich mir nicht erklären kann. Vielleicht nehme ich auch nur meinen ganz normalen Atem falsch wahr? Es ist leider aktuell völlig unmöglich, noch unmöglicher als sonst, sich unvoreingenommen mit der Wahrnehmung des eigenen Atems auseinanderzusetzen. Ein Leibphänomenologe hätte vermutlich seine Freude an mir. Ich will einfach nur, dass es aufhört.

Auf der Suche nach Uchronia – Von Zeit und Chemotherapie

Der gelbe Fleck auf dem Laken meines Bettes verursacht mir Übelkeit. Das Gelb löst ein Geruchsempfinden aus, das ich mir mit großer Wahrscheinlichkeit einbilde. Die Farbe erinnert mich an die träge glänzende Flüssigkeit, die zur Zeit manchmal von einem Beutel in mich hinein tropft, aber es muss der Überrest einer Mahlzeit sein, Currysauce von gestern vielleicht. Auf den weißen Bezügen ist alles deutlich sichtbar: jedes Haar, jeder Spritzer Blut, jeder Soßenfleck, Schweiß, Erbrochenes. Alles ist sofort zu erkennen. Auf der Decke, auf dem Betttuch, auf dem Kopfkissen entsteht in kleinen Flecken eine Chronologie der letzten Tage. Meine Mutter hat früher gescherzt, man könne auf meiner Kleidung die Speisekarte erkennen, ich kann meine Krankenhausakte auf dem Bettlaken lesen.

Es ist 7.45 Uhr, noch etwa 15 Minuten. Wenn um 9 Uhr kein*e Ärzt*in da war, frage ich nach.

Acht Monate, fünf Wochen, 16 Tage, drei Tage, 72 Stunden, 4 Stunden…

Diese Zeitangaben stehen für Intervalle, die in meinem Leben vor etwas mehr als zwei Jahren eine Bedeutung hatten. Damals war ich in Chemotherapie. Sie begann am 2. Oktober 2017 oder hätte beginnen können. Ich weiß dieses Datum nicht, weil es mein Leben verändert hat oder weil es der Beginn von acht langen Monaten war. Ich weiß dieses Datum, weil der nächste Tag der 3. Oktober war und an einem Feiertag nichts passiert. Es verstrich einfach Zeit. Schon am zweiten Tag im Krankenhaus bekam ich eine Ahnung davon, um was es in den nächsten Monaten am meisten gehen würde: Zeit. Es passierte einen Tag lang nichts, Zeit verging, wie so oft in den darauffolgenden Monaten, ohne, dass ich sie bestimmen konnte.

Ein großer Teil der Zeit, die ich während dieser acht Monate erlebte, war das, was Helga Nowotny einmal in einem Essay als unbesetzte Zeit beschrieben hat: Die Zeit, die man durchlebt, während man unfreiwillig wartet. Das Gegenteil davon ist der Titel ihres Textes: Eigenzeit. Der größte Teil meiner Chemotherapie war keine Eigenzeit, sondern Zeit, auf deren Inhalt ich keinen Einfluss hatte.

Krebs als psychische und körperliche Erfahrung lässt sich kaum objektivieren, es ist ein in höchstem Maße individueller und subjektiver Prozess. Die Kämpfe, die man ausfechten muss, die Sorgen, die durchgestanden werden, die Schmerzen, die man erträgt, und die Angst, die mit all dem verbunden ist, sind Bestandteile einer Gesamterfahrung, die man nicht allgemeingültig beschreiben kann. Alles davon hat für jede*n eine eigene Schwere, eine eigene Leichtigkeit, ein eigenes Gefühl. Meine Therapie wurde von dem Verhältnis von unbesetzter Zeit zu Eigenzeit bestimmt. Und ich tat alles dafür, dieses Verhältnis in einer Balance zu halten, die ich ertragen konnte.

Im Rhythmus bleiben

Zeit wurde in diesem Sinne zum entscheidenden Faktor dieser Monate, die ich in bestimmten Intervallen zu denken und zu leben begann. Wenn einer der Zeitabschnitte durcheinander kam, wenn Zeit stehen blieb, geriet ich in Panik. Meine Chemotherapie musste für mich wie ein regelmäßig tickendes Uhrwerk vorangehen. Genau wie bei einem solchen mechanischen Apparat mussten Kleinigkeiten derart aufeinander abgestimmt sein, dass sie schließlich dazu führen, dass etwas mit einer exakten, regelmäßigen Geschwindigkeit voranging. Jeder Vorgang musste in einem bestimmten Tempo vonstatten gehen, damit er den nächsten im richtigen Moment anstieß und diesen wiederum in Bewegung versetzte. Nur so konnte der vorgesehene Rhythmus der Behandlung, in dem sich Krankenhausaufenthalte mit unterschiedlich langen Pausen, die ich zuhause verbringen konnte, abwechselten, erhalten bleiben.

Ich verfolgte alles peinlich genau.

Wenn ich mittwochs in Krankenhaus kam, dann konnte das nur geschehen, weil meine weißen Blutkörperchen einen bestimmten Wert aufwiesen. War ich dann im Krankenhaus, musste mir am Abend ein Tropf mit Flüssigkeit gegeben werden, damit am nächsten Tag mit der Gabe des Medikaments begonnen werden konnte. Je nachdem, um welches Medikament es sich handelte, floß die gelbe oder rötliche Flüssigkeit vier oder 72 Stunden durch einen Zugang in der rechten Brust in meinen Körper. Dann mussten nach vier Stunden wieder mehr Kochsalzlösung und manchmal ein zusätzliches Medikament alle acht Stunden gegeben werden, damit das Gift wieder aus dem Körper gespült wurde. Ich behielt jeden dieser Schritte genau im Auge, erinnerte Pflegekräfte an bestimmte Vorgänge, schrieb mir jeden Blutwert auf und achtete darauf, dass die Zeit im Takt blieb. Ein Ausscheren hätte das Uhrwerk gestört. Wenn das Uhrwerk seinen Dienst tat, konnte ich am Sonntagmorgen das Krankenhaus verlassen.

Ich grabe meinen Kopf in das weiße Kopfkissen und warte. Jetzt ist das Blut auf dem Weg. Es wird abgeholt und ins Labor gebracht. Dort wird es untersucht und die entscheidenden Werte werden gemessen, die dann auf dem Bildschirm in der Pflegestation erscheinen. So lange liege ich hier. Es ist Sonntag, alle diese Vorgänge dauern länger. Ich betrachte und fühle meine Handinnenflächen, sie sind trocken, gleichzeitig ist mein Gesicht aufgequollen von mehreren Litern Flüssigkeit. Ich kann das spüren. Alles fühlt sich falsch an, Haut ist nicht mehr Haut, Haut stört. Ablenkung ist alles. Seit 7 Uhr habe ich drei Folgen Gilmore Girls geschaut. Jede davon eine dreiviertel Stunde. Währenddessen kam ein Pfleger zum Blutabnehmen und das Frühstück wurde gebracht. An solchen Tagen im Krankenhaus rechne ich Zeit in Serienfolgen. Beruhigt bin ich, wenn die Länge der übrigen Folgen einer Serie bis zu meiner Entlassung reicht. Noch war kein*e Ärzt*in da, es ist nach 9 Uhr.

Das alles Entscheidende in diesen Abläufen war, dass ich grundsätzlich nach vier Tagen das Krankenhaus wieder verlassen konnte. Das setzte ich von Anfang durch – sofern es medizinisch vertretbar war, wollte ich sonntags nach Hause. Nur so konnte das Verhältnis von unbesetzter Zeit und Eigenzeit so bleiben, dass ich es ertragen konnte. Die Sehnsucht nach Eigenzeit wurde zum alles bestimmenden Gefühl und Eigenzeit hatte ich nur in meiner eigenen Wohnung. Dort war mein Uchronia – mein Eigenzeitort.

Das seltsame Gefühl weißer Handtücher

Uchronia ist in der christlichen Theologie ein Jenseitszustand losgelöst vom Druck der Zeit. Für mich war Uchronia der Ort, an dem ich so viel Zeit wie möglich verbringen wollte. Auch im Krankenhaus konnte ich meine Zeit weitgehend selbst füllen, aber dort war ich nicht der Herrscher über mein eigenes Uchronia, die Zeit, die ich dort verbrachte, war unbesetzt, sie war bestimmt von Faktoren, die ich nicht kontrollieren konnte.

Der Kontrollverlust fing mit dem Geruch an, der mir beim Betreten des Stockwerkes meiner Station, entgegenschlug. Ein stehender Geruch, unveränderlich, schal und gleichzeitig eindringlich, zusammengesetzt aus Gerüchen von notdürftig warmgehaltenem Essen, von Desinfektionsmitteln und parfümfreier Seife, von heiß und mit geruchlosen Waschmitteln gewaschener Wäsche und von Körpergerüchen. Es ist ein Geruch, der entsteht, wenn vermeintlich Geruchloses mit warmen Gerüchen und stehender Luft vermischt wird. Jedes Stockwerk des Klinikgebäudes roch anders, die meisten in meiner Wahrnehmung besser als ‚meines‘. Hatte ich ein Einzelzimmer, riss ich sofort beide Fensterflügel auf, selbst in den Wintermonaten. Von den Mahlzeiten, mit denen die Station beliefert wurde, hielt ich mich so weit wie möglich fern und bestellte mir stattdessen Essen von Lieferdiensten. Das war bald so bekannt, dass Pfleger*innen neugierig fragten, was es denn heute bei mir gäbe.

Wie sehr das Empfinden an Orte geknüpft war, zeigte sich auch durch die Zustände von Übelkeit und Erbrechen, nur im Krankenhaus war mir übel und das körperliche Unwohlsein viel stärker. Dabei genügte ein Geruch, ein Farbton oder gar die Maserung des Tisches neben meinem Bett, die ich sehen konnte, dass mir ein Gefühl den Körper hinaufstieg, das Übelkeit auslöste. Sogar das Licht war mir unangenehm, kalt und grell oder zu fahl, strahlte von den weißen Wänden ab. Weiß wurde zur unerträglichen Nichtfarbe. Noch heute fühlen sich weiße Handtücher seltsam an. Das Unerträglichste aber war, dass ich in der Zeit im Krankenhaus nicht entscheiden konnte, wann ich alleine war.

Während ich die vierte Folge der Serie am heutigen Vormittag schaue, verdeckt der Bildschirm meines Laptops meinen Zimmernachbar. Er liegt in seinem Bett und starrt die Decke an. Vorhin saß seine Frau an seinem Bett. Ich habe versucht beide zu ignorieren, mein Kopf so nah am Bildschirm, dass ich lediglich erahnt habe, dass noch andere Menschen im Zimmer sind. Allein sein. Schweigen können. Reden können, oder weinen. Der gestrige Abend war einer der schlimmsten. Dieser plötzliche Drang niemanden sehen zu müssen, niemanden hören zu müssen, nicht die Anwesenheit von verfallenden Körpern spüren zu müssen, stattdessen die Wand anschreien zu können. Panik. Nicht aus Angst, nur aus dem drängenden Wunsch heraus, allein zu sein, keinen Menschen sehen zu müssen.

Der Ort, an dem ich all das kontrollieren konnte, an dem ich allein sein konnte, der Ort, an dem ich Zeit bestimmen konnte, war meine Wohnung – mein Uchronia. Jede Stunde in meiner eigenen Wohnung war wichtig. Und elementar war, dass ich diese Zeit zelebrieren konnte. Von dem Moment des Betretens meiner Wohnung an fühlte ich mich wohl. Etwas fiel ab von mir, etwas in mir kam zur Ruhe. Die Tage und Stunden dort wurden so wichtig, dass ich sie bewusst nutzen wollte. Ich begann mir den Wecker auf 6 Uhr morgens zu stellen, obwohl ich keinerlei Verpflichtungen hatte. Der Wunsch danach, so viel bewusst erlebte Zeit in meiner Wohnung zu verbringen, wie ich konnte, wurde zum alles andere überragenden Zweck meines Handelns. Ich stand mehrere Stunden früher auf als sonst, im Winter lange bevor die Sonne aufging, machte das Radio an, kochte Tee, ging Duschen und setzte mich mit einem Buch oder meinem Laptop auf meinen Sessel, legte die Füße hoch und las, surfte im Netz, schaute eine Serienfolge oder einen Film, schrieb etwas und draußen begann langsam der Tag. Die Nachrichten im Radio strukturierten den Morgen, der Verkehr vor den Fenstern wurde lauter und flaute gegen halb 9 wieder ab. Wenn ich dann nach Stunden auf die Uhr sah und bemerkte, dass es erst 10 Uhr am Vormittag war, überkam mich eine unendliche Erleichterung darüber, dass es immer noch so früh am Tag war. Das Gefühl der angenehmsten Ruhe in diesen Monaten empfand ich, wenn mir klar wurde, wie viel Zeit ich immer noch in dieser Wohnung vor mir hatte.

Es ist in der Mitte der fünften Folge Gilmore Girls an diesem Vormittag, als die Tür aufgeht und eine junge Ärztin hereinkommt. Mehrmals habe ich an der Pflegestation nachgefragt und vorher versucht abzuschätzen, wann ich jemandem auf die Nerven gehen würde. Jedes Mal hieß es, die diensthabende Ärztin wäre noch unterwegs, meine Blutwerte sähen aber gut aus. Die Angst und die Erleichterung lösen sich in diesen Stunden ab. Ich weiß, ich darf heute gehen, wenn… wenn alles so ist wie immer, wenn die Ärzt*innen mir vertrauen, wenn kein*e Ärzt*in Autorität auf die falsche Art und Weise beweisen will. Ich warte. Meine Tasche habe ich längst gepackt, nur der Laptop ist noch draußen, ich brauche ihn, um Serienfolgen zu schauen, um Zeit zu messen und zu beschleunigen. Ich höre kaum, was die Ärztin sagt. Ich weiß genau, was ich tun muss, worauf ich achten muss, wann ich welche Tablette nehmen muss, wie meine Leukozyten und Thrombozyten sein müssen, ich funktioniere wie ein Uhrwerk und ich kenne meinen Körper, spüre, wie es mir geht. Als ich die Station verlasse, beginnt wieder die Zeit, die ich selbst bestimmen kann.

Raum und Zeit für sich allein

„Ein Zimmer für sich allein“ ist für Virginia Woolf die Voraussetzung, damit eine Frau große Literatur schaffen kann, und nie habe ich ansatzweise so gut verstanden, was damit gemeint sein könnte, wie in dieser Zeit. Während sich Woolf als Frau in einer Gesellschaft, die ihr nicht die Zeit und den Raum ließ, um zu schreiben, ein eigenes Zimmer wünschte, wollte ich einfach nur eine Tür, die ich hinter mir schließen konnte. Hier zeigt sich, wie sich Ort und Zeit auf eine bestimmte Art verbinden. Woolfs Sehnsucht nach einem Zimmer für sie allein, bezieht sich nicht nur auf die räumliche Ebene sondern auch auf eine zeitliche. Eine Tür hinter sich schließen zu können und einen eigenen, abgeschlossenen Raum zu haben, dessen Erscheinung und Nutzung man selbst bestimmen kann, bedeutet in diesem Fall auch eigene Zeit zu haben – die Parameter des Zeitverlaufs selbst bestimmen zu können. Ein Zimmer für sich allein ist auch eine Zeit für sich allein.

Die Möglichkeit sich durch einen eigenen Raum Zeit für sich selbst zu verschaffen entsteht für mich auch durch das Internet mit seinen sozialen Netzwerken und seinem permanenten Zugang zu Büchern, Filmen und Ablenkungen. Oft wird gesagt, das Internet raube uns Zeit, vielleicht – mir verschafft es oft Zeit, die ich selbst bestimmen kann. Die Welt des Internets ist die digitale Erweiterung meines Zimmers für mich allein. Die Öffnung eines Raumes, den ich schließen kann, wenn ich es will und den ich öffnen kann, wann immer ich ihn brauche. Gleichzeitig kann ich allein sein. Vor dem Bildschirm sieht dich niemand mit deinen privatesten Emotionen – manchmal ist das gut so, manchmal muss das genauso sein.

Auch jetzt noch, zwei Jahre nach Ende der Therapie, denke ich in diesen Mustern. Diese acht Monate haben mein Gefühl für Zeit und mein Bedürfnis nach Eigenzeit grundsätzlich verändert. Ich verbringe mehr Zeit in meiner Wohnung oder einfach alleine, mir geht es gut in dieser Zeit, ich bin nicht einsam oder traurig, auch weil ich meinen Raum um mich herum jederzeit um das Internet erweitern kann. Ihn mit den Stimmen von Menschen füllen kann, mit Bildern und Tönen. Immer dann, wenn ich es brauche oder ertragen kann.

Die Vorstellung einen langen Tag vor mir zu haben, an dem ich keinen anderen Menschen sehen muss, aber dennoch kommunizieren und mich mit anderen im digitalen Raum umgeben kann, wann immer ich will, beruhigt mich.

Am deutlichsten spüre ich dieses Bedürfnis, wenn die Nachsorgetermine anstehen. Etwa eine Woche davor beginne ich Zeit wieder stärker bestimmen zu wollen – ich will mir Eigenzeit verschaffen. Jede Stunde, die ich in vier Wänden, deren räumliche und zeitliche Parameter ich beherrschen kann, verbringen kann, wird dann wieder sehr kostbar. Ich verfalle in meine Muster aus der Therapiezeit, stehe früh auf, zelebriere den Morgen, koche ausgiebig, lese, schreibe und schaue Filme und Serien. Ich schaffe mir Raum und Zeit – meinen Raum und meine Zeit. Mit jeder Stunde, die der Kontrolltermin näher rückt, werden die Zeiträume, die ich auf diese Weise mit Bedeutung auflade, kleiner. Ist es am Beginn der letzten Woche vor der Untersuchung noch ein beruhigendes Gefühl sieben lange Tage vor sich zu haben, so ist es am Morgen des letztes Tages davor, ein guter Gedanke zu wissen, dass ich noch ein paar Stunden in meiner Wohnung habe – die Eigenzeiträume, die ich genießen will, werden kürzer. Nach den Untersuchungen erfüllt ein ausgedehntes Eigenzeitgefühl die nächsten Monate – bis es wieder die letzte Woche vor dem Termin ist. Auf die Emotionen dieser Woche hoffe ich bald verzichten zu können. Das Gefühl von Eigenzeit würde ich gerne behalten, es fühlt sich gut an.

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (8)

Dies ist der achte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7)

Das mittlerweile über 112 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

 

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7.04.2020

Nabard, Bonn

Mein erster Tag in “Freiheit”. Meine erste Woche als gesunder Mensch. Ich gehe nach Wochen wieder einkaufen und sehe die Menschen sich plötzlich anders verhalten. Als würde eine unsichtbare Hand der Angst über sie alle liegen von der ich mich irgendwie befreit fühle. Sofern das Virus den Regeln der Immunologie, Physiologie und Biochemie folgt, was es tut,  haben diejenigen die daran erkrankt waren und nun gesund sind, eine Immunität entwickelt. Bis zu dem Zeitpunkt wo es mutiert und sich anpasst.

Aber jetzt werde ich in die Stadt fahren, zwei Termine wahrnehmen. Im Rewe einkaufen. Veganes Eis hat mir meine Schwester empfohlen. Morgen darf ich wieder ins Krankenhaus, lernen, praktizieren, helfen. Die Ärzte freuen sich das ich gesund wiederkomme. Ich freue mich dass sie alle gesund geblieben sind. 

Marie Isabel, Dunfermline

Ich unterhalte mich mit einem befreundeten Autor über das Wesen des Erinnerns. Darüber, dass wir uns wundern, wie wenig wir oftmals erinnern, von einem Raum, einer Begegnung, einer Reise, auch weil sich Manches im Leben erst viel später als bedeutsam erweist. Dass es Momente gibt, in denen unerwartet und überwältigend lebhaft Erinnerungen in uns auftauchen, von denen wir gar nicht mehr wussten, dass wir sie haben. Dass eben diese schweigenden, zurückhaltenden Erinnerungen dennoch in uns fortarbeiten, uns vielleicht leiten, vielleicht aber auch Unsinn treiben. 

Wie werden wir die jetzige Zeit erinnern, in ein paar Monaten, Jahren, Jahrzehnten? Als Zeit der Angst? Der Entblößung von Lücken und Lügen im System Kapitalismus? Der zunehmenden häuslichen und staatlichen Gewalt? Der Großzügigkeit und unerwarteten Hilfsbereitschaft? Der Hilflosigkeit? Der unbändigen Kreativität? Des Muts? Der erzwungenen, genossenen, verhassten Intimität? Des Verzichts? Des Erstarkens nationaler Egoismen und Reflexe? Der Polarisierung? Der Solidarität? Als Zeit, in der wir ernsthaft darüber diskutieren, ob es erlaubt ist, allein im Park auf einer Bank zu sitzen und ein Buch zu lesen (schon immer ein subversiver Akt). Und wie werden verschiedene Altersgruppen sich erinnern? Kinder, die jetzt gern mit Altersgenoss:innen spielen würden, die Fremden noch weiter aus dem Weg gehen müssen als sonst, und die andererseits erleben dürfen, wie das ist, wenn Mutter und Vater oder Mutter und Mutter oder Vater und Vater oder nur Mutter und nur Vater den ganzen Tag unter der Woche daheim sind, vielleicht noch weniger entspannt und müder, dafür aber, zumindest, anwesend.   

Zukünftige Erinnerung spielte auch in der Rede der englischen Königin eine Rolle, die dieses Wochenende ausgestrahlt wurde. Je länger ich ihr zuhörte, umso weiter rückten ihre Worte in die Vergangenheit zurück: “I hope that in the years to come, everyone will be able to take pride in how they responded to this challenge. And those who come after us will say the Britons of this generation were as strong as any, that the attributes of self-discipline, of quiet, good-humoured resolve, and of fellow feeling still characterise this country. The pride in who we are is not part of our past. It defines our present and our future.” [Cut zu Bildern von Menschen, die vor ihren Häusern auf der Straße und in Supermärkten applaudieren und zu Bildern von Kinderzeichnungen mit Regenbögen, die in den letzten Wochen überall im Land an den Fenstern aufgetaucht sind.] Und die Stimme der Königin kommentiert: “The moments when the United Kingdom has come together to applaud its care and essential workers will be remembered as an expression of our national spirit. And its symbol will be the rainbows drawn by children.”

Die Rhetorik des Nationalen und des Stolzes ist bekannt, und ich finde sie ermüdend. Von den evozierten Tugenden – besonders dem ‘fellow feeling’ – hätte ich mir nicht nur als Einwanderin in dieses Land viel mehr gewünscht während der Brexit-Debatten der letzten, zermürbenden Jahre. Werden die Gräben, die während dieser Zeit aufgerissen sind, durch die Pandemie kleiner werden? Ehrlich gesagt, ich bezweifle es, aber ich lasse mich gern positiv überraschen. Am Ende berühren mich die Worte der Königin dann doch noch, wenn hinter dem jahrzehntelang trainierten Gesichtsausdruck der royalen Rolle die Mutter, Großmutter, Urgroßmutter aufscheint: “We will be with our friends again; we will be with our families again; we will meet again.”

Fabian, München

Etwas “Tolles” an der Situation ist die Nicht-Verfügbarkeit eines Fail-Safes – zu viele Variablen, möchte man’s auf ein Bonmot runterbrechen; und natürlich, es ist gleich schön wie die Feststellung banal scheint, dass die, soweit von hier aus sichtbar, funktional ausdifferenzierten, man verzeihe den Luhmann-Kalauer, Gesellschaften “der” Welt die Kontingenz (neu) direkt proportional mit der Neuheit aller möglichen Details, umständehalber, bewältigen. Nichts besonderes, aber schön zu beobachten, wie sich die aus der Historie gezogenen Theorie-Ansätze und ihre im beobachtenden Bewusstsein soweit festgesetzten Fragmente real in Szene gesetzt sich zu bestätigen scheinen, unter, versteht sich, dem Vorbehalt der immer beschränkten Reichweite des sinnbildlichen Auges und dem Fallstrick eines gewissen Zynismus, wenn man, so weit entfernt, darüber hinwegsieht, dass die Kontingenzbewältigung mit realen Kosten (von Menschenleben, ökonomischen Werten, im weitesten Sinne, Existenzen, oder was immer man mit dem geringen Abstand, der zur Verfügung steht, dafür hält) einher, mindestens, geht, während sich reale Gewinne aus der Krise, wenn überhaupt, noch gar nicht abschätzen lassen, und ohnehin noch, mit merklicher Breitenwirkung, kaum jemand bis niemand über Bedingungen nachzudenken scheint, die über die Wechselwirklichkeiten der Sicherung menschlichen Lebens mit “dem” empirischen Gespenst “der” Wirtschaft hinausgingen. Schade eigentlich, oder bloß zu früh, um da mehr zu sehen, als die aus der Zukunft der Krise herüberwehenden Symptome eines, mit Mark Fisher, kapitalistischen Realismus ohne Alternative – von den verschwurbelten bis schlicht und einfach “zu” reduktiven Utopien aus einer längst vergangenen Zeit vor drei Wochen ganz zu schweigen, die da und dort aufploppten, um inzwischen aber wieder völlig das Feld den möglichst kurzsichtigen Forderungen der üblichen wirtschaftsliberalen Mahner überlassen zu haben.

Janine, Flensburg

Seit Wochen gehen wir so selten vor die Tür wie möglich. Man sieht es auch am Inhalt des Wäschekorbs. Ausschließlich Zuhause- und Schlafklamotten. Baumwolle, Fleece. Kindische Farben. Muster wie Pünktchen, Streifen, Sterne, Häschen. Der befüllte Wäscheständer schließlich sieht aus wie ein Symbolbild für „Waschtag in der Clownsschule“.

Slata, München

Jetzt irgendwie runterfahren, sich beruhigen, nur keinen Druck. Die Diss muss nicht diesen Monat schon beendet werden, der nächste Lyrikband muss nicht bis Ende der Quarantänezeit geschrieben sein, keine Lesungen, Gott bewahre, ein übersichtliches Leben also abseits grandioser Pläne. Entzugserscheinungen werden sichtbar, zitternde Hände, pulsierende Augen, es fehlt die tägliche Dosis Erfolgsdenken und Konkurrenz. Ich versuche mich an den Kürbispflänzchen zu orientieren, an den Sonnenblumenkeimlingen auf dem Balkon, sie wachsen langsam, Geduld, Geduld nur, Aufmerksamkeit und Zuversicht, gar nicht im moralischen Sinn, als praktische Sentenz oder Spiritualität, nein, ich meine es völlig sachlich, ich will am Ende dieser Zeit dazu kommen, mich, nur an sich, ohne alles, was ich machen sollte, könnte, mich nicht weniger wertvoll als diese Keimlinge auf dem Balkon zu schätzen.

8.04.2020

Sarah, München

Es gibt Dinge, die lassen uns nicht los. Ich meine nicht Traumata. Ich meine Passionen, Obsessionen, Faszinosa. Dinge, Ereignisse, die uns an irgendeinem Moment in der Kindheit packen und ab diesem Moment können wir nicht mehr von ihnen lassen. Für mich sind das Pflanzen und Insekten. Und nun trägt mich diese Passion durch dieses merkwürdige Corona-Frühjahr. In allen möglichen Näpfen und Töpfchen keimt und wächst es. Ich taste mich vor von den sicheren, vertrauten Projekten, der altvertrauten Tomatenzucht von einem halben Dutzend Pflanzen zu verwegenen Experimenten. Wassermelonen und mexikanische Minigurken (von denen ich noch nicht einmal weiß wie sie aussehen und schmecken werden), die nun in der Wärme von Plastikhüllen das Licht der Welt erblicken bestaune ich. Und ich bin mir nicht sicher, wer hier wen mehr päppelt. Jeden Morgen gibt es ein neues Blatt zu bestaunen, hat sich eine weitere Ranke gebildet. Die Zeit geht voran, sie bleibt nicht stehen. Die Pflanzen sind ein gewachsenes Kalendarium. Sie werden Früchte tragen. Vielleicht nicht genießbar. Wassermelonen in Deutschland sind eine wirklich merkwürdige Idee und wahrscheinlich geht es schief. Aber das macht nichts. Nein, es scheint mir geradezu unwahrscheinlich, dass dieser äußere Stillstand eine schmackhafte, süße Wassermelone hervorbringen kann. Aber Wachstum. Ranken. Blätter. Stille Bewegung. Trotzdem.

Jan, Hannover

Die Stadt um mich herum fühlt sich an wie ein Anzug, der zu weit geworden ist. Wie ein verlassener Badeort im Winter, in dem nur noch die mürrischen Einheimischen durch eine Kulisse schleichen, die für die Belustigung aufgekratzter, längst abgereister Besuchermassen ausgelegt ist. Geschlossene Geschäfte und Cafés warten hinter dunklen Schaufensterscheiben auf neue Gäste, neues Leben im Sommer. «Locktown», schrieb Oli Grimm (@freikampf) heute morgen auf Twitter. Mir schwirrt oft die Melodie von «Everyday Is Like Sunday» durch den Kopf, wenn ich durch das Viertel laufe, «the seaside town that they forgot to bomb». Auch wenn ich Morrissey nicht mehr hören mag.

Die Stimmung in der Stadt ist eigentümlich und ich möchte sie mit meiner Kamera einfangen, aber es gelingt mir nicht. Es fällt mir schwer, die Abwesenheit von etwas festzuhalten, und manchmal, zu selten ist mir das früher geglückt. Jetzt aber schieße ich Bilder von vollendeter Banalität und Langeweile, die ich später am Rechner wieder lösche. «Everyday is silent and grey», Pixel Edition.

Ich lebe in keinem Badeort, nicht an der See. Früher versuchte ich mir manchmal mit geschlossenen Augen vorzustellen, das Rauschen des Verkehrs auf dem nahen Kreisel wäre das Meer oder ein Hafen, vergebens. Doch selbst der Kreisel ist jetzt still geworden, auch das sonst so beständige Hupen und Bremsenquietschen der aufgeregten Autos (Deutsche können keine Kreisel) ist nahezu verstummt. Ich sitze auf dem Balkon und genieße die Sonne, die ihr warmes Licht großzügig über den beinahe leeren Parkplatz des Callcenters ausgießt. Aus der Ferne weht die abgehackte Stimme des Mannes herüber, der mit einem Megaphon die Kundenschlange vor dem wiedereröffneten Baumarkt  durch einen improvisierten Kordon aus Europaletten, Malerböcken und Flatterband dirigiert. Wie in einem Flashmob mit Sicherheitsabstand versammeln sich die Bohr- und Bastelfreudigen vor der mächtigen orangefarbenen Heimwerkerkathedrale, als wollten sie ein Statement abgeben: Wenn nicht mehr geschraubt und gedübelt wird in diesem Land, hat das Virus schon gewonnen.

Sandra, Berlin

Ich habe eine sehr sehr schlechte Serie von Anfang bis Ende gesehen (Unorthodox).

Ich habe Eis gegessen (Affogato, Vanilleeis in Espresso).

Ich habe versucht zu arbeiten (Wirklich?).

Ich habe wirklich versucht zu arbeiten.

Ich hatte einen Lachkrampf und zwei Wadenkrämpfe.

Ich habe ein bisschen geweint.

Ich habe im Supermarkt analog-Pac-Woman gespielt.

Ich habe Nachrichten geschaut gehört gegessen gestreamt geträumt.

Ich habe von DIY-Mundschutz-Tutorials gealbträumt.

Es ist Frühling, und mir ist nach Winterschlaf.

Und was ich im Übrigen noch sagen will:

Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. 

[da capo al fine]

Janine, Flensburg

Am späten Abend erst zum Hundestrand, dann zur Schusterkate gelaufen, dem einzigen unbewachten Grenzübergang zwischen Deutschland und Dänemark seit Wiedereinführung der Einreisekontrollen 2016. Doch auch hier kommt man nun nicht mehr rüber, die Brücke ist über ihre gesamte Länge im Zickzack mit rot-weißem Band abgesperrt. 

Auf der anderen Seite sieht man schemenhafte Gestalten, dänische Polizei, die sich mutmaßlich langweilt, ab und zu blitzt der bläuliche Screen eines Smartphones auf. Hinter ihnen, unsichtbar in der Dunkelheit, führt der im letzten Jahr fertiggestellte Wildschweinzaun aus dem Kollunder Wald hinaus und etwa zwanzig Meter in die Ostsee hinein. Der Zaun soll ein Bollwerk gegen die Afrikanische Schweinepest sein, Anfang Februar gab es noch einen Protestmarsch von Bürger*innen diesseits und jenseits der Grenze, in den Zaun wurden Plastikrosen gesteckt, aber darüber spricht gerade niemand mehr.

Am Strand sitzt eine Gruppe Jugendlicher und trinkt Alkohol. Sie machen mich wütend, weil sie mindestens zu fünft sind und natürlich null Komma null Abstand zueinander halten, gleichzeitig tun sie mir leid, weil sie wahrscheinlich ihre Gründe haben, kurz vor Einbruch der Nacht noch hier zu sein. Schätze, zuhause ist es beschissen und war es auch schon vor Corona.

Marie Isabel, Dunfermline

Ich möchte Zug fahren. Ich laufe zum Bahnhof und nehme die erste Verbindung, die kommt. Richtung Edinburgh. Es sitzt kaum jemand im Wagen. Eine Frau, die wippenden Kopfes Musik hört. Ein älterer Mann in dunkelgrauer Jacke. Draußen ist es dunkel. Schon spät. Als der Zug die Querung des Firth of Forth erreicht, schweben wir einen Moment lang über dem Wasser. Ein weiter Raum öffnet sich. Lichter an beiden Ufern senden Lebenszeichen. Da ist noch jemand wach. Menschen in kleinen oder größeren Häusern. Mit und ohne Garten. Alle gemeinsam allein. Ich schließe die Augen. Höre dem Räderschienenrattern zu. Es ist jetzt kälter als mittags, da die Sonne weiß und warm aus blauem Himmel schien, so als sei Sommer und wir hätten alle frei, so als könnte ich einfach zum Bahnhof laufen und Zug fahren, weit in dieses schöne Land hinein, und aus der Nacht in den Morgen, der doch unweigerlich auf das Heute folgen muss, und auf den ich jedesmal hoffe, wenn es dunkel ist, und ich die Augen schließe.

Svenja, Köln

Corona ist seit dreimal Müll runter bringen. Seit 23 mal wischen. Seit 48 mal Zähne putzen (nach dem Duschen muss man immer auch Zähne putzen). Corona ist seit 13 Dosen Kidneybohnen, seit sechs Brokkoliköpfen, seit 4 Paketen guten Humus aus dem türkischen Supermarkt und 3 Paketen schlechten Humus aus dem REWE. Seit Corona habe ich 13,47 Stunden Hörbuch gehören, 57 gedruckte Seiten gelesen und 147 digitale, aber manche habe ich auch überflogen. Ich habe sechs Fenster geputzt, 13 Serienfolgen gesehen, zweimal die Wäsche zum Waschsalon getragen und eine neue Zahnbürste gekauft. Ich habe zwei Arzttermine abgesagt und einen wahrgenommen. Ich saß 37,2 Stunden vor Zoom und habe 24 Stunden lang Skype benutzt, ich habe 14 Menschen angerufen und drei Anrufe nicht beantwortet, 2 Nachrichten nicht gelesen, aber 6245 Zeichen in SMS geschrieben und es ist immer noch Corona.

Ich habe über drei Autorinnen gelesen und mir ihre Namen aufgeschrieben. Meine Ordner haben jetzt auch welche: Archiv 2009–2011, 2011–2015, 2017–heute. Ich habe drei T-Shirts aussortiert und einen Brief beantwortet, zwei geschrieben, eine Postkarte bekommen und den Pfand weggebracht. Ich habe versucht meine Augenbrauen wachsen zu lassen. Ich wollte auch etwas Wildes im Gesicht, etwas, das die Ausnahme markiert, aber auch ein bisschen auf mein Potential als Nachdenkerin verweist. Am Anfang habe ich mir vorgenommen, einen strengen Plan zu haben, gut aufzupassen, jeden Tag etwas mit dem Körper zu machen, dass ich ihn nicht vergesse in der Stille. Ich habe eine Absage bekommen und hätte noch einen zweiten Brief geschrieben, aber dann ließ ich ihn liegen bis es wieder hell war und dann kam er mir albern vor.

Seit Corona habe ich 171 Stunden geschlafen und fünf Bilder von meinem Gesicht gemacht, aber sie haben mir alle nicht gefallen. Auf meinem Gesicht sind 48 neue Sommersprossen, die mag ich aber. Seit Corona hatte es 179,1 Stunden Sonne, kein Eis und keinen Schnee, aber 12 Tage mit Niederschlag. Ich war fünf Mal in Begleitung spazieren und den Rest alleine. Es hat mir gut gefallen, wenn ich unterwegs Fische oder Vögel oder Hunde gesehen habe. Einmal stand ich sehr lange vor einem geschlossenen Kosmetiksalon und betrachtete die zurückgelassenen Fische im Aquarium. Sie kamen mir außerordentlich schön und bunt vor, vielleicht gehört sich das so für Kosmetiksalonfische. Sie machten mürrische Gesichter, vielleicht weil sie wussten, dass sie jetzt lange niemand mehr betrachten würde und dann gab ich mir besonders viel Mühe.

Vor zwei Wochen kam ein Paket für einen Nachbarn. Ich hatte es angenommen und auf ihn gewartet. Als er nie kam, stellte ich es in den Flur und jetzt steht es seit zehn Tagen auf der Fensterbank. Manchmal drehe ich es um, sodass man die Anschrift richtig lesen kann, aber jemand im Haus dreht es immer zurück. Ich habe seit 39 Tagen niemanden mehr geküsst, aber das ist nicht die Schuld von Corona.

9.04.2020

Tilman, Hamburg

Am Dienstag war ich zu einem Termin beim Landgericht Hamburg. Im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit kann jede*r Richter*in selbst entscheiden, ob verhandelt wird oder nicht. 

Das ganze Landgericht ist ausgestorben. An der Tür – klassischerweise müsste man Pforte sagen – hängt ein Zettel, dass man wegen Corona und doch bitte nur, wer unbedingt muss usw. Ich schlendere also durch ausgestorbene Gänge und warte vor dem Sitzungssaal. Es findet nur ein Termin statt an diesem Tag, in diesem Raum. Der Fall an sich ist unspektakulär und aufgrund der Vorgeschichte gehe ich davon aus, dass der Gegner nicht erscheint. 

Ein junger Richter kommt vorbei grüßt nett, wir stellen fest, dass wir gleich gemeinsam verhandeln und der Gegner wohl nicht erscheint. So ist es dann auch. Der Termin ist daher entsprechend kurz, es sind nur wir beide. Es ergeht Versäumnisurteil. Warum er denn heute verhandelt, möchte ich vom Richter wissen, denn eigentlich lief der Prozess bisher über den Tisch einer Kollegin, die auch den Termin angesetzt hat. Die Kollegin ist in Quarantäne, sagt er, Kontakt mit einem Coronapatienten. Ich schlendere durch das leere Landgericht nach draußen und gehe mit R. Spaghettieis essen und Knackfolie knacken.

Matthias, Jena

Vorgestern hatte ich den zweiten Tag in Folge leichte Atemschwierigkeiten und Schmerzen in der Brust. Natürlich habe auch ich von den atypischen Covid-Verläufen gehört, bei denen außer unklaren Schmerzen keine Symptome auftauchten, und mir entsprechend Sorgen gemacht. Ich bin kurz vor 12 zum Hausarzt; um 16 Uhr hatte ich mehrere ausführliche Arztgespräche, EKG, Thoraxröntgen und Lungenfunktionsprüfung hinter mir und auf Verdacht auch schon einen Asthmainhalator bekommen. Wenn die Radiologiepraxis nicht am anderen Ende der Stadt gewesen wäre, wäre es schneller gegangen. Es wurde nichts diagnostiziert außer einer leichten Überblähung der oberen Lunge; ich solle wiederkommen, falls es schlimmer wird oder anfallartig auftritt. Ich befürchte, es ist irgendwie psychosomatisch. Vielleicht ein Selbstverstärkungsphänomen, weil man aktuell mehr auf seine Atemwege achtet? Mir ist es alles recht peinlich, aber zuhause bleiben mit Brustschmerzen wollte ich in Zeiten einer Lungenseuche nun auch nicht.

Heute, Gründonnerstag, Ostereinkäufe. Das Konsumverhalten ändert sich – ich habe zum ersten Mal überhaupt relevante Mengen auf dem Wochenmarkt eingekauft. Alles war zu bekommen. Es nötigt mir Bewunderung ab, wie gut offenbar sehr vieles weiterhin funktioniert, Gesundheitssystem, Lebensmittelversorgung, Nahverkehr.

Und natürlich alles mit Maske, die Pflicht gilt in Jena seit Montag quasi in allen öffentlichen geschlossenen Räumen, die man noch betreten darf. Eine ganz neue Erfahrung ist es, über Stunden hinweg den eigenen Atem zurückgeworfen zu bekommen. So rieche ich also, wenn ich Kaffee getrunken habe? Auch das ist mir peinlich.

Was ich beruhigend und hoffnungsvoll finde, ist, dass an allen großen und kleinen Baustellen der Stadt weitergebaut wird. Teils sogar mehr, schneller und früher als vor der Pandemie, da man die Zwangspause ausnutzt. Wenn der Ausnahmezustand wieder vorbei ist, hat Winzerla eine neu angelegte Kinderrutsche und renovierte Wasserläufe und Jena ein neues Bootshaus – und wer weiß, was noch alles fertig wird. Es weiß ja niemand, wie lange es alles dauert, aber dass weitergebaut wird, ist ein überall sichtbares Zeichen dafür, dass an eine Zukunft geglaubt wird, in der es wieder eine nicht-elektronische Öffentlichkeit gibt, und das ist keine Selbstverständlichkeit mehr.

Sarah, München

Ein erster Einkauf mit Maske. Eine selbstgenähte, bei ebay gekauft. Die Gummibänder sind zu eng. Sie schneiden in die empfindliche Haut hinter den Ohren, zuerst nur ein Ziepen, steigert es sich in wenigen Minuten in einen Schmerz, der es mir schwer macht, mich zu konzentrieren. Und plötzlich steigt eine Wut in mir hoch, die mich völlig überrumpelt. Ich sehe mich die Maske herunterreißen und mich schreiend auf die beigefarbenen Fliesen des Supermarktes schmeißen. SO EINE VERFICKTE DRECKSSCHEISSE! Möchte ich auf einmal schreien. Jetzt. Hier. Ganz plötzlich. Ich bezahle, obwohl ich höchstens die Hälfte der Dinge zusammengesucht habe, die ich kaufen wollte, stürze zu meinem Auto, schmeisse den Einkauf in den Kofferraum und steige ein. Das Gummi zerreißt, als ich mir die Maske herunterzerre. Ich haue auf das Lenkrad, das kurz und erschrocken aufhupt. “SCHEISSE!” schreie ich endlich wirklich. Und nochmal “VERDAMMTE SCHEISSE!”. Es ist nicht ganz so befreiend, wie ich es mir im Supermarkt vorgestellt habe. Aber es hilft ein wenig. Dann starre ich für ein paar Minuten aus der Windschutzscheibe auf die noch kahle Parkplatzbepflanzung. In München kommt das Frühjahr immer später als im Rest von Deutschland. Ohne die Blätter ist der braune Rindenmulch besonders Trist. Die Maske. Sie hat sich am Schaltknüppel verfangen. Das Gummiband lässt sich ganz leicht wieder zusammenknoten, was ich auch gleich tue. Schuldbewusst. Warum diese Wut? Warum habe ich das vorher nicht gemerkt? Ich lege die Maske in meine Tasche, vorsichtig gefaltet, was eigentlich gar nicht meine Art ist. Meine Taschen ist immer ein Sammelsurium aus Zetteln, Müll und Fundstücken, wie Steinchen oder verlorenen Knöpfen. Ich positioniere die Maske noch einmal sorgfältig, als legte ich sie in ihr Bettchen, bis zum nächsten Mal. Verdammte Scheiße.

Shida

Liebes Tagebuch, endlich vertraue ich es dir an, denn ich habe herausgefunden, dass es alle machen: Ich hatte Besuch. Ehrlich gesagt schon ganze vier Mal. Ich schwöre, wir saßen nur draußen (nur möglich weil immer noch Exil auf dem Land dank fetter Privilegien), wir hielten Abstand, wir hatten zwischendurch sogar Mundschutz an, wir haben uns wirklich Mühe gegeben. Erst konnte ich deswegen nicht schlafen, dann fand ich es schön, dann lud ich neue Menschen ein (die verabschiedeten sich allerdings mit den Worten „Es war sehr doof“, vermutlich, weil es wiederum ihr erstes Mal war).

Ich bin so verflucht regelkonform, wenn Merkel sagt „Bitte soziale Distanz wahren“, dann bin ich die erste Person, die zwei Minuten später alle Verabredungen absagt. Ich habe nicht gewusst, dass es so viele Menschen gibt, die gar nicht nur mit ihrer allernächsten Isolationsgruppe abhängen, sondern zwischendurch andere Leute treffen. Aber alle auf dem Land machen das! Wenn man einmal anfängt, sich zu outen, geben alle es zu! Sie treffen sich heimlich! Pah! Erwähnenswert finde ich das übrigens nur, weil es so unglaublich schön zu durchschauen ist, wie sich alle dabei an irgendwelchen Entschuldigungen und Erklärungen festklammern und wie ich selbst vorne mit dabei bin. Wie wir in der Sonne sitzen, Kuchen essen und uns aufzählen, dass wir wirklich gesund sein müssen, denn wir sehen ja wirklich niemanden und gehen nur einmal die Woche einkaufen und waschen uns dauernd die Hände undsoweiter. Das sind tolle, beruhigende Gespräche, in denen wir uns gegenseitig die Absolution geben, perfekte Ausnahmen füreinander zu sein. Unangenehm wird es, wenn wir dann feststellen, dass wir die Grenzen doch irgendwie alle vollkommen unterschiedlich setzen. Ich am äußersten Rand (fasse Tassen für Gäste nur mit Tüchern an, rühre sie dann nicht mehr an, ziehe von mir berührte Kannen und Messer wieder aus dem Verkehr), die anderen am anderen äußersten Rand (die Kinder wird man ja wohl noch abknutschen dürfen! Nur noch einmal, nur noch mal kurz, Kinder husten doch sowieso immer!). Äh, Leute, so geht das eigentlich nicht, ihr müsst das doch alle so wie ich machen, denke ich hinterher und weiß auch, dass alle das gerade denken. Alle denken gerade, sie machen es genau richtig und wenn man einmal anfängt, aufzuzählen, was man gelesen hat und deswegen ganz genau weiß, dass man es ganz richtig macht, dann entspinnt sich das dreißig Millionste, langweiligste Gespräch unter Hobby-Virulog:innen, die vor einem Monat nicht mal wussten, was Virulog:innen sind. Ich halte mich auch stur an meine eigenen Erkenntnisse. Zum Beispiel daran, dass es DER Virus ist und nicht DAS Virus. Vor drei Wochen hat mich jemand zum ersten Mal darauf hingewiesen, dass ich das falsch mache. Schockierend, was man in einunddreißig Jahren auf der Welt immer noch nicht gewusst hat. Ich weigere mich trotzdem, mich zu korrigieren. An irgendwas muss man doch stur festhalten dürfen, bitte. Lasst mir den Virus.

Fabian, München

Grade ist es schwer, einen Gedanken zu fassen, oder nicht in Bedeutungsschwere abzugleiten, die, als befände man sich gewissermaßen an einem Scheidepunkt, gewissermaßen mehr Zeit einnimmt, im Alltag, oder was der immerhin nur halbe Arbeitstag davon übrig lässt.

Abgesehen davon, dass ein Teil dieser Tage jetzt im Homeoffice verbracht werden, hat sich daran nichts geändert, im Grunde, dass sich die Tage, die Nachtzeiten, schlafenderweise, nicht mitgezählt, in zwei Teile reißen, deren Einheit die Arbeit enthalten, die ich gerne mache, und einen meistens diffusen Rest. Das heißt, um nicht zu sagen, der Ausnahmezustand habe sich normalisiert, dass seine alles außer gewöhnlichen Elemente sich soweit in das Denken darüber integriert haben, dass das Nachdenken über die Außergewöhnlichkeit der Umstände und Maßnahmen sich an der Außergewöhnlichkeit der Maßnahmen und Umstände nicht mehr über die Perspektive hinaus stören, an der sie schließlich enden, gerade weil alle Aussagen, die darüber gemacht werden, noch so vage sind, notgedrungen.

Verhaltenslehren des Schmerzes. Valerie Fritschs “Herzklappen von Johnson & Johnson”

Schon früh erfährt die Hauptfigur in Valerie Fritschs neuem Roman, auf wie unterschiedliche Arten sich Menschen aus einer Welt zurückziehen, die nur Leid für sie bereithält. Almas Haus kommt der Heranwachsenden „beängstigend kulissenhaft“ vor, „brüchig zusammengezimmert“ von ihren Eltern, „wackelig und unstimmig in den Einzelheiten, als wären sie nur geborgt“. Vater und Mutter fügen sich ein in eine familiäre Entourage, bei der jedes Mitglied auf seine Weise verlernt hat, glücklich zu sein. Den Großvater lernt Alma als eingesunkenes Gespenst kennen, das aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt war, ohne sich zurechtzufinden im sogenannten Wirtschaftswunder. Und zur Großmutter findet Alma erst als junge Erwachsene Zugang; in langen Gesprächen erzählt die Ältere der Jüngeren von einem Damals voller Kuriosa, bei dem nichts sprechender ist als das Schweigen über den gefallenen Bruder.

Es gibt auf den gut 170 Seiten zu diesen und anderen Sujets keine Einzelszenen im klassischen Sinne. Gespräche werden nicht wiedergegeben, sondern referiert. So legt sich der lange Hauch einer Erzählerstimme über den Stoff, der insgesamt vier Generationen umspannt. Der dritte Roman der österreichischen Schriftstellerin becirct auch deswegen so sehr, weil er bei alledem die Distanz zu wahren weiß. Tatsächlich legt Fritsch mit „Herzklappen von Johnson & Johnson“ eine Theorie poetischer Nahdistanz vor. Immer wieder tarieren ihre Figuren aus, wie viel Abstand sie zu sich selbst, den eigenen Erinnerungen oder anderen Menschen benötigen. Als die erwachsene Alma und der Photograph Friedrich ein Paar werden, zeigt sich, dass die Distanznahme Teil ihrer innigen Beziehung ist: „Die Nähe war ihnen auch nach Jahren keine Gewohnheit, sie kam und ging, sie gaben sich ihr hin, wenn sie sich einstellte, zwangen sie nicht herbei und ließen auch ihr Ausbleiben zu, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben“.

Ein Faible für das große Ganze

Insgesamt beleuchtet Fritschs Roman die mal schöne, mal schmerzhafte Erscheinung der Dinge und setzt sich der stupenden Wirkkraft der Wirklichkeit aus. Um den Effekt existenzieller Gestimmtheit zu vermitteln, verlässt sich Fritsch wie im vorherigen Roman „Winters Garten“ auf einen höchst evokativen Stil. Das Weltpathos spannt die Fibern dieser Prosa energetisch auf, jedes Komma möchte auratisch sein, jeder Satz will teilnehmen am großen Ganzen, an der Abgeschiedenheit des großelterlichen Hauses, an der kannibalistischen Kälte Stalingrads und an der Wochenbettdepression, in die Alma nach der Geburt ihres Sohnes Emil fällt. Dessen Biographie wird durch einen Gendefekt geprägt sein, der jegliches körperliches Schmerzempfinden unterbindet.

Für einen solchen Text gibt es nichts Schlimmeres als den Vorwurf des Lauen. Alle Rhetorik arbeitet denn auch daran, die erfahrene Wucht gelebten Lebens zu vermitteln. Das ist als Lektüreerfahrung ungemein reizvoll, zugleich erbarmungslos intensiv, weil es schlichtweg keine Leerstellen vorsieht. „Herzklappen von Johnson & Johnson“ gesteht sich keinen Moment der Entspannung zu. Und der Leser muss recht schnell einen Kompromiss schließen: die eigene Fabulierlust hintanstellen, um sich einer Imagination zu überantworten, die alles mit ihrem sinntönenden Manierismus durchdringt.

Charakterisiert werden die Familienmitglieder, indem sie in Atmosphären verpackt werden, in perfekt ausgeleuchtete Stimmungstableaus. Der Gram des Großvaters offenbart sich nicht in einem artig evidenten Dialog, in dem die blinden Flecken nachkriegsdeutscher Aufbau- und Verschwiegenheitskunst ausgestellt würden, sondern im Bild eines nackten Greises, der nachmittags in Badewannen steigt, um sein Fleisch zu wärmen, das „sich an die Winterjahre zu erinnern schien, selbst wenn er sie vergessen hatte“.

Der Text hat sich zwar Themen wie vererbte Traumata, Mutterschaft und Altersdepressionen verschrieben und sich dadurch historische, psychologische und soziale Parameter gegeben. Aber an deren Erkundung hegt er gar kein so großes Interesse. Hier will sich vielmehr eine opulente Sprache ins Werk setzen, die erst in einem zweiten Schritt nach den Sujets für ihr Sprechen sucht. Dazu passt, dass der Suizid der Großmutter vor allem deswegen in Erinnerung bleibt, weil die nächste Seite mit einem ungeheuer guten Bild aufwartet: Das Haus hat die Lebensmüde mit Post-Its zugeklebt, auf denen jeweils der Name derjenigen Person steht, die den Gegenstand erben soll – das tottraurige Testament als neongelber Blätterwald, durch den auch noch ein Luftzug gehen muss.

„Fasziniert vom großen Exzess“

Zum Ende dehnt sich der Horizont. Die Steppe, die „keine Formen kennt außer jener der Leere und jener der Weite“, wirft sich schier endlos auf, während der Zoom auf die einzelnen Figuren wieder zurückgefahren wird. Die Reise in den Osten ist doppelt motiviert: Friedrich soll für eine Zeitschrift verfallene Landstriche fotografieren. Nach dem Tod der Großeltern möchte Alma wiederum die Ruinen jenes Internierungslagers aufsuchen, das die großväterliche Biographie einst entzweigebrochen hatte.

Die Route führt durch Osteuropa hinein in die kasachische Steppe. Auch in diesen Passagen bleibt sich der Roman treu: Die politische Realität der durchkreuzten Länder kann ihm nicht wirklich in den Blick geraten – dafür sucht er zu sehr nach der sphärischen Resonanz, die ein Detail erklingen lassen könnte. In den Augen eines Roma-Kindes kann die Erzählerin nur ein magischeres, kein schlechteres Leben erblicken.

In dieser Hinsicht ist „Herzklappen von Johnson & Johnson“ einem Ästhetizismus verpflichtet, der sich sowohl bejubeln als auch bekritteln lässt: Einerseits wird das 20. Jahrhundert rhythmisiert, das doch auf grässliche Weise aus dem Takt geraten ist. Andererseits wird jedes Quäntchen Wirklichkeit einer Schönheitskur unterzogen, um schließlich in höherer Form als Metaphern- oder Syntaxkunstgebilde auf ebendiese Wirklichkeit zurückzuverweisen: „Die ganze Steppe war ein Knochenbaukasten, aus dem man sich magere Geister zusammenzimmern konnte, dürre, harte Geschöpfe mit den merkwürdigsten Formen, weißleuchtend, ein gespenstisches Wundervolk, wie gemacht für die leere Landschaft.“ Und wie gemacht für diese Literatur des Grandiosen.

Für den jungen Emil gerät die Reise zum Initiationsmoment. Zu Beginn war seine Mutter beschrieben worden, wie sie als Mädchen in Wahrnehmungsekstasen geriet, „fasziniert vom großen Exzess, der nackten, nervösen Existenz“. Nun ist er, der Schmerznaivling, der stets neu lernen muss, wie nah er die Wirklichkeit an sich heranlassen darf, an der Reihe, zwischen ihren vielgestaltigen Erscheinungen groß zu werden. Und er wird sich wie dieser Roman der Aufgabe stellen müssen, im richtigen Augenblick auf Abstand vor ihrer Wucht zu gehen.

Kulturkonsum 2/20

In der Rubrik “Kulturkonsum” stellen wir einmal im Monat gemeinsam mit ausgewählten Beiträger*innen in Kurzrezensionen vor, was wir in den letzten Wochen gelesen, gehört, gespielt oder geschaut haben. Ein Versuch in den dichten Wald aus Literatur, Musik, Filmen, Serien und Spielen eine kleine Schneise aus Empfehlungen und Warnungen zu schlagen.

 

Simon Sahner (@samsonshirne)

Als ich vor etwa zwei Jahren gesundheitlichen Gründen längere Zeit zuhause war, habe ich zwei Videospiele entdeckt, die mir damals sehr geholfen haben, innerlich zur Ruhe zu kommen und zu entspannen. Jetzt in diesen seltsamen und aufwühlenden Wochen, in denen viele Menschen mehr oder weniger in ihren Wohnungen festsitzen, habe ich mich wieder an die Spiele Journey und Flower erinnert, beide entworfen von dem Game-Künstler Jenova Chen.

Bei Journey reist man mit einer schwebenden Figur durch eine Wüstenlandschaft voller Ruinen und versucht einen Berg zu erreichen. Die traumartige Atmosphäre, die sanfte Musik und die weichen Bewegungen der Spielfigur, die durch Sanddünen gleitet, schwebt und kurze Strecken fliegt, machen das Spiel vor allem zu einer sinnlichen Erfahrung, bei der Wettbewerb oder Kampf keine Rolle spielen. Eine besondere Ebene des Spiels entsteht dadurch, dass es ein spezielle Form des Koop-Games ist. Manchmal erscheint mitten in all dem Sand eine zweite Figur, die von einer Person gespielt wird, die gerade irgendwo auf der Welt ebenfalls spielt – man erfährt nicht, wer da spielt, man kann nicht kommunizieren und streift einige Minuten gemeinsam durch die Spielwelt.

Flower ist noch einfacher gestaltet, aber auf seine Weise auch eine ungewöhnliche Spielerfahrung: Man spielt den Wind. Als Böe fliegt man durch Blumenwiesen und wirbelt Gräser, Blüten und andere Pflanzen auf, schlägt Loopings, fliegt scharfe Kurven und gleitet knapp über der Grasnarbe durch weite Landschaften. Das Besondere ist die Steuerung, die nicht wie sonst üblich durch die beiden Steuerknüppel geschieht, sondern durch das Neigen des Controllers in alle Richtungen. Das ist zudem eine amüsante Erfahrung, weil die Bewegungen, die man in anderen Spielen sinnloserweise macht, jetzt endlich eine Funktion haben.

(Beide Spiele sind für PS3 & 4, sowie für PC und Mac erhältlich)

 

Berit Glanz (@beritmiriam)

Ich versuche zu arbeiten, während ich drei Kinder zu betreue, Schulaufgaben abgleiche, mit dem Kindergartenkind Lego baue, aufpasse, dass wir nicht im Chaos versinken, Fristen einhalte (oder überschreite), zumindest manchmal meine Haare kämme und ich sehe Artikel mit Listen der extradicken Bücher, die man nun endlich mal lesen könne und ich kann nur müde grinsen, weil es mich ansonsten deprimieren würde. Der Arbeitstag verlagert sich in die Abend- und Nachtstunden und um Mitternacht bin ich dann so erschöpft, dass ich nicht weiterarbeiten kann, aber aus Trotz auch nicht schlafen will, immerhin ist das meine Zeit, in der keiner etwas von mir möchte – dann schaue ich Brooklyn Nine-Nine und fühle mich gut unterhalten. Außerdem habe ich angefangen Wordfeudeine Art Scrabble – zu spielen und ich bin wirklich erstaunlich schlecht darin. Ich spiele trotzdem mit Freunden, Bekannten und mit meiner Mama, über den Tag verteilt lege ich die Wörter, immer wenn es die Zeit zulässt. Mir gefällt es Menschen über den Tag hinweg so ein wenig nahe zu sein.

 

Marie Isabel Matthews-Schlinzig (@whatisaletter)

Seit einiger Zeit beschäftige ich mit dem Thema Identität sowie fiktionalen Werken, die sich diesem Thema auf formal spannende Weise widmen. Abgesehen von Filmen und Fernsehserien landen dabei zunehmend Publikationen von Autor:innen of Colour auf meinem nimmersatten Bücherstapel. Zwei davon sind gerade gelesen: Roger Robinson’s meisterhafter Gedichtband A Portable Paradise (T. S. Eliot Prize, 2020) versammelt wütend-anklagende, nachdenkliche, zartfühlende Verse. Ihre Energie und Humanität gehen unter die Haut. Identitäten und Alltag von Menschen of Colour spielen in den Gedichten immer wieder eine zentrale Rolle. Robinson thematisiert die sie prägenden historischen wie gegenwärtigen Bedrohungen ebenso wie ihre Kraft und Kreativität. Zu den berührendsten Gedichten des Bands gehören jene, die sich dem Brand des Grenfell Tower (eines Wohnhochhauses im Westen von London) widmen, bei dem 72 Menschen ums Leben kamen. Die poetischen Bilder, die Robinson für das Leid der Toten und ihrer Angehörigen findet, lassen die Schilderung intensiver und die nach wie vor unzureichende Entschädigung der Opfer umso skandalöser wirken. So heißt es von den Schatten der Verstorbenen, die zum Himmel aufstreben: „Amongst the cirrus clouds, floating like hair / they begin to look like a separate city.“

Das zweite gerade ausgelesene Buch, Olivia Wenzel’s Debütroman 1000 serpentinen angst ist an anderer Stelle bereits ausführlich besprochen worden, daher sei es hier nur kurz erwähnt: Die Geschichte einer jungen, ostdeutschen Frau of Colour besticht durch das inhaltlich wie formal entfaltete Prisma, das Facetten ihrer Identität hell ausleuchtet. Dabei geht das Narrativ, wie Robinsons Gedichte, mit schmerzhafter Ehrlichkeit immer wieder dahin, wo es weh tut. Etwa wenn die Erzählerin imaginiert: Weiße übernehmen Dienstleistungsjobs, Schwarze bekleiden gehobene berufliche Positionen. Solche Ideen sind auch in anderen Fiktionen gegenwärtig zentral. – Dazu zählt etwa die Serie Noughts and Crosses, die gerade im britischen Fernsehen läuft: Menschen afrikanischer Abstammung und dunkler Hautfarbe haben Europäer:innen unterworfen. Die Trennung zwischen beiden Gruppen ist strikt; schwarze Kultur prägt sämtliche Aspekte gesellschaftlichen Lebens. Die Adaption eines der gleichnamigen Bücher von Malorie Blackman zielt ins Herz der Vorurteile ihres Publikums und auf deren Überwindung. Für diesen Prozess sind die Begeisterung und die Irritationen, die sich bei unterschiedlichen Zuschauer:innengruppen angesichts der Umkehr der Macht- und Machtmissbrauchsstrukturen zwischen Schwarz und Weiß in Noughts and Crosses einstellen, ganz entscheidend.

 

Johannes Franzen (@johannes42)

Es ist ein Geständnis, das gerade wohl niemanden schockieren oder überraschen (oder interessieren) wird – aber ich lese zur Zeit nicht viel Belletristik, oder zumindest nicht schnell. Es mag zwar mehr Zeit da sein als sonst, aber man hat auch den Eindruck, dass diese Zeit schneller vergeht. Gerade habe ich mir den dritten und letzten Teil der Romanreihe von Hilary Mantel über Thomas Cromwell gekauft: The Mirror and the Light. Cromwell war einer wichtigsten Berater Heinrich des VIII (Der englische König mit den vielen Frauen, der aus The Tudors). Cromwell ist ein unplausibler Held für eine solche Reihe. Lange galt er als böser Geist, der dem König auf dem Weg in die geistige Verdunklung seines Tyrannentums als helfende Hand zur Seite stand. Mantel lässt Thomas Cromwell allerdings als modernen Menschen historisch auferstehen. Als genialen Planer und Politiker, als begabten Aufsteiger in einer Welt, in der nicht Kompetenz, sondern Vererbung über deinen Platz in der Gesellschaft entscheidet. Cromwell ist nicht immer gut, aber immer klug, und das macht ihn zum Sympathieträger der Erzählung. Mantels Bücher sind seit dem Erscheinen des ersten Teils 2009 eine Art von Phänomen geworden: massive Bestseller, die allerdings auch die höchsten ästhetischen Ansprüche der Kritiker*innen erfüllen konnten. Die ersten Teile haben beide den Booker Prize gewonnen.

Es handelt sich um einen Hype, dessen Berechtigung ich aus meiner eigenen Lektüreerfahrung bestätigen kann. Ich habe die ersten Bücher in wenigen Tagen gelesen. Jetzt ist es allerdings auch so, dass ich eine Schwäche für historische Romane habe, wahrscheinlich weil hier die meisten Reminiszenzen an das unschuldige, fieberhafte Lesen vor dem Deutschunterricht und dem Proseminar möglich sind. Aber bei Mantels Cromwell-Romanen verhält es sich noch einmal anders. Kein unmittelbares Eintauchen in eine angenehm distanzierte und gleichzeitig angenehm bekannte Welt; kein Spannungsaufbau durch Konflikte, die uns nicht mehr betreffen (Wird der Prior das Kloster auf Vordermann bringen? Schaffen es die Geschwister aus der brennenden Burg, bevor der schwarze Ritter etc.); stattdessen ein seltsam eliptischer Gedankenbericht, der sich wirklich wenig Mühe gibt, uns über die enorm komplexe politische Lage am englischen Königshof zu Beginn des 16. Jahrhunderts kohärent zu informieren. Um es deutlich zu sagen, ich weiß nicht, wie diese Romane funktionieren, und über weite Teile weiß ich auch nicht so recht, was gerade genau passiert. Wie zu Beginn des zweiten Teils habe ich auch zu Beginn des dritten Teils eigentlich alle Figuren, bis auf Cromwell und den König (Anne Boleyn ist da schon tot) vergessen (Wer ist Norfolk, wer ist Suffolk?) Trotzdem entwickeln diese Bücher einen heftigen Sog, eine Sucht danach, sich in ihrer Welt aufzuhalten. Aber ach, diesmal gibt es auch eine mentale Sperre. Seit zwei Wochen befindet sich das Buch nun auf meinem Lesegerät und ich bin immer noch nur bei 25 Prozent. Es ist, als wäre diese Zeit zwar stark auf Eskapismus angewiesen, macht uns aber (oder zumindest mich) auch eskapismusunfähig. Keine gute Konstellation. Keine gute Zeit für Romane.

 

Tilman Winterling (@fiftyfourbooks)

Ich habe mir bei den ersten Aufrufen der unabhängigen Buchhandlungen zur Unterstützung eine sehr große Zahl Bücher gekauft. Benjamin Maacks Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein habe ich ebenso wie Ich erwarte die Ankunft des Teufels von Mary MacLane mit Gewinn gelesen. Rivenports Freund von Damiano Femfert dagegen hat mich eher kalt gelassen, leider gilt das auch für Geschichten mit Marianne von Xaver Bayer, dessen Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich ich sehr liebte.

Trotz des weiterhin hohen Stapels habe ich nun aber noch M. Der Sohn des Jahrhunderts von Antonio Scurati mit immerhin knackigen 800 Seiten begonnen, nachdem ich letztes Jahr im Toskana Urlaub bei der Lektüre Francesca Melandris Alle, außer mir realisierte, wie wenig ich über italienische Geschichte im 20. Jahrhundert und den italienischen Faschismus weiß. Nach nur 150 Seiten erlaube ich mir noch kein Urteil, bin allerdings erstaunt wie geschickt der “Roman” in der Chronologie und zwischen den Charakteren springt. Dass ein solches Projekt wie M aber mit dem Feuer spielt, ist offensichtlich. Wie weit darf man das Menscheln eines Massenmörders darstellen (oder einen Massenmörder in der Darstellung menscheln lassen?), wie nah und sympathisch kommt mir Mussolini während der Lektüre? Bisher sehe ich es als weitere Anregung mich mit dem Themenkomplex auseinanderzusetzen und bleibe gespannt, wie sich die nächsten 670 Seiten entwickeln.

 

Immer im Lockdown – Warum Shirley Jackson die Autorin der Stunde ist

 von Till Raether

 

Als vor einigen Wochen das Literarische Quartett zum ersten Mal unter der Leitung von Thea Dorn ausgestrahlt wurde, empfahl sie den Roman Die Pest von Albert Camus als, uff, „Antihysterikum“ und passende Lektüre für die Corona-Ära. Das war nicht nur sehr naheliegend, sondern auch etwas seltsam. Camus benutzt in seinem Buch den Ausbruch einer Seuche als Metapher für die Absurdität des menschlichen Zusammenlebens, insbesondere unter dem Faschismus. Warum also den Menschen ein Buch empfehlen, in dem das, was derzeit das reale Erleben aller ist, nur metaphorisch auftaucht, um etwas ganz anderes zu erzählen? Eigentlich müsste man doch jetzt Bücher lesen, die nicht die Seuche als Metapher verwenden, sondern die unabhängig von der Krankheitsmetapher über Isolation, Rückzug und Möglichkeiten von Trost sprechen. Die US-amerikanische Kurzgeschichten-, Gruselroman- und Frauenzeitschriften-Autorin Shirley Jackson ist deshalb eher die Schriftstellerin der Stunde. Mit der Einschränkung, dass Trost in ihrem Werk Mangelware ist, versteckt an überraschenden Orten, aber darum umso kostbarer.

„Virginia Werewoolf“ hat ein früher Kritiker Jackson wegen ihrer anspruchsvollen Grusel-Romane genannt, in den Fünfzigern für viele ein Widerspruch in sich. Jacksons wichtigste Romane handeln davon, wie Menschen sich in einer feindlichen Umgebung hinter verschlossene Türen zurückziehen und dort versuchen, nach ihren eigenen Regeln zu leben. Wobei sie nicht merken oder es ihnen egal ist, dass sie in einer eigenen Gedankenwelt leben, die mit einer geteilten Realität nichts mehr zu tun hat, und die von außen vielleicht wie Wahnsinn aussieht.

In Der Spuk in Hill House zieht sich eine sozial isolierte Frau mit drei anderen Personen in ein düsteres Herrenhaus zurück, um unter Anleitung eines windigen Professors als parapsychologisches Versuchskaninchen zu wirken. Sie verspricht sich davon paradoxerweise eine Art Anschluss ans Leben und die Gemeinschaft anderer. Jackson stellt sie vor mit der bemerkenswert brutalen Satzreihung: „Eleanor Vance war 32 Jahre alt, als sie nach Hill House kam. Die einzige Person auf der Welt, die sie wahrlich hasste, war nun, seit dem Tod ihrer Mutter, ihre Schwester. Sie verabscheute auch ihren Schwager und ihre fünfjährige Nichte und hatte keine Freunde.“

Ähnlich desolat ist die Ausgangslage der Figuren in The Sundial, Jacksons Parodie einer Gesellschaftskomödie oder drawing room comedy, in der sich eine zusammengewürfelte Gruppe von Oberschicht-Angehörigen und solchen, die es gern wären, in ein Herrenhaus zurückziehen, um den Weltuntergang zu erwarten, komplett mit Nudel- und Toilettenpapiervorräten. Gleich auf der ersten Seite sinnieren ein Schulkind und seine Mutter darüber, dass die Großmutter, Herrin des Hauses, ja wohl den gerade zu Grabe getragenen Vater und Ehemann die Treppe hinuntergestoßen und getötet habe, was schon wenige Absätze später von der gleichen Großmutter kaum bestritten wird. Und in Wir haben schon immer im Schloss gelebt haben sich zwei Schwestern nach dem Tod ihrer gesamten Familie in ihr, ja, Herrenhaus zurückgezogen, um sich freiwillig von der Außenwelt abzuschotten, was diese Außenwelt aber nicht zulassen kann. Die Art, wie die jüngere Schwester Merricat einmal in der Woche ins Dorf huscht, um möglichst schnell und mit möglichst wenig Kontakt einzukaufen, gleicht gerade unheimlich dem aktuellen Einkaufsverhalten der ganzen Welt.

Kontaktsperre mit der Realität

„Kein lebender Organismus wird lange gedeihen“, beginnt Jackson Spuk in Hill House, „wenn er sich immer nur in der reinen Wirklichkeit aufhalten muss. Sogar Lerchen und Heuschrecken wird von manchen nachgesagt, dass sie träumen.“ Diese in parodistisch professoralem Ton vorgetragene Weisheit ist so etwas wie die Vertragsvorlage von Jackson an ihre Leser*innen: Kommt rein, aber erwartet hier keinen Realismus, sondern träumt wie die Lerchen und die Heuschrecken. Diese Erlaubnis und diese Einsicht in die Notwendigkeit, sich auf die Dauer nicht nur in der so genannten Wirklichkeit aufhalten zu können, macht Jackson zur womöglich idealen Begleiterin in Lockdown-Tagen, während derer man hin und wieder eine Kontaktsperre mit der Realität braucht. Ein solche situative Leseempfehlung bedeutet aber natürlich auch, Shirley Jackson auf die Brauchbarkeit für eine Gegenwart und auf ein paar wenige Aspekte ihres Werkes zu reduzieren. In Wahrheit ist sie immer die richtige Autorin, für jede Gegenwart, mit oder oder Corona. Das liegt daran, dass in Jacksons Texten immer Lockdown ist, für sie ist social distancing die einzige Verhaltensweise, um in einem feindlichen Universum zu überleben und zu navigieren. Das Bedürfnis nach Selbst-Isolation ist die Default-Einstellung ihrer Figuren.

Shirley Jackson (1916 bis 1965) stammte aus einer wohlhabenden kalifornischen Familie, wurde ihr Leben lang von ihrer lieblosen Mutter geplagt, führte eine unglückliche Ehe und starb jung, als sie gerade angefangen hatte, ihren ersten heiteren und optimistischen Roman zu schreiben. Ihre Biografie muss wegen dieser psychologischen Eckdaten immer wieder als Interpretationsrahmen ihrer Texte herhalten, sicher auch angeregt dadurch, dass Jackson den Großteil des Familieneinkommens damit verdiente, für Frauenzeitschriften sarkastische Texte über ihr Alltagsleben mit vier Kindern und einem eher unnützen Mann zu schreiben, dem damals ebenso bedeutenden wie heute vergessenen Literaturwissenschaftler Stanley Edgar Hyman. Sie ließ selbst keine Gelegenheit aus, ihre Biografie entlang der Motive ihrer Prosa zu mythologisieren, etwa, wenn sie über den Ursprung ihrer Familie schreibt und man unwillkürlich an die verfallenden Herrenhäuser ihrer Romane denkt: „Mein Großvater war ein Architekt, und sein Vater, und dessen Vater. Einer von ihnen baute Häuser ausschließlich für Millionäre in Kalifornien, und daher kam das Vermögen der Familie. Einer von ihnen war überzeugt, man könnte Häuser auf den Sanddünen von San Francisco errichten, und dorthin verschwand das Vermögen der Familie.“ Auch die Legende, sie habe wie manche ihrer Protagonistinnen Hexerei praktiziert, beruht auf der von ihr sorgsam verbreiteten Selbststilisierung.

Steinigung vorm Mittagessen

Zwischen dem Ende der 1940er und dem Anfang der 1960er Jahre schrieb Jackson eine Reihe recht erfolgreicher psychologischer Schauerromane und eine große Zahl Kurzgeschichten. Eine davon, The Lottery, veröffentlicht im Sommer 1948, ist vermutlich die Kurzgeschichte der US-Geschichte, die am meisten Aufsehen erregte, jedenfalls hat der New Yorker bis zu Cat Person von Kristen Roupenian nie mehr Reaktionen auf einen fiktionalen Text bekommen. The Lottery beschreibt ein bräsig-betulich abgewickeltes Steinigungs-Ritual in einem Dorf in Neu-England , von der umständlichen Auslosung bis zur Tötung der ausgelosten Dorfbewohnerin. Der Erzählton verstörte hunderte Lerserbriefschreiber*innen, weil er die finale Grausamkeit des Steinigungsrituals vorbereitet als Schilderung einer amerikanischen Kleinstadt-Idylls im Stile von Thornton Wilder oder Louisa May Alcott. Die Auslosung auf dem Dorfplatz, deren Sinn einem beim Lesen erst am Ende der Geschichte klar wird, soll „weniger als zwei Stunden dauern, damit sie um zehn Uhr morgens beginnen und so zeitig vorüber sein konnte, dass die Dorfbewohnern noch Gelegenheit hatten, rechtzeitig zum Mittagessen wieder zu Hause zu sein … Die Lotterie wurde – wie die Square-Dances, der Teenager-Club und die Halloween-Feier – von Mr. Summers betreut, der die Zeit und die Nerven hatte, sich bürgerlichem Engagement zu widmen. Er war ein rundgesichtiger, jovialer Mann, der örtliche Kohlenhändler, der den Menschen leid tat, weil er keine Kinder hatte und seine Frau eine Nörglerin war.“

Es ist dieser so vertraute unterhaltungsliterarische Realismus, der die Geschichte zu einem elementar erschütternden Text macht: Was wir bestenfalls für eine Idylle und schlimmstenfalls für öden Alltag halten, ist eine Illusion, die durch ritualisierte Gewalt ermöglicht wird, und der einzige Verfremdungseffekt, den Jackson hier und anderswo einsetzt, ist, dass sie diese Gewalt hinter den Kulissen hervorzieht und bei strahlendem Sonnenlicht auf dem Dorfplatz zur Schau stellt.

Seit ihrem 100. Geburtstag 2016 erlebt Jackson eine gewisse Renaissance: Netflix hat Der Spuk von Hill House als beliebte Mini-Serie verfilmen lassen, es gibt eine von Michael Douglas produzierte Hollywood-Adaption von Wir haben schon immer im Schloss gelebt, Jacksons Hauptwerk, und beide Romane liegen seit 2019 in neuen Übersetzungen im Leipziger Festa Verlag vor. Shirley, ein leider sehr schematischer und flacher Schauerroman über Jacksons häusliches Leben und ihre hexerischen Neigungen, von Susan Scarf Merrell, ist gerade mit Elisabeth Moss in der Rolle von Jackson verfilmt worden. Eine viel besprochene Biographie von Ruth Franklin, A Rather Haunted Life (2016), unternimmt den aufwendigen Versuch, Jacksons Leben und ihr Werk im Kontext der ersten Welle des US-Feminismus zu kanonisieren. Jacksons Romane, so Franklin mit dubioser Bestimmtheit, würden  „ganz genau“ davon handeln, was Betty Friedan in The Feminine Mystique die „schizophrene Spaltung“ der amerikanischen Frau zwischen der weiblichen Rolle der Hausfrau und der eher männlichen Karriere-Option nannte: also von Frauen, die buchstäblich verrückt werden, weil sie im Patriarchat nicht damit zurechtkommen, die ihnen zugewiesenen und einander widersprechenden Rollen zu erfüllen.

Das Ende des Storytellings

Tatsächlich lassen sich zwei Romane Jacksons als Geschichten pathologisch gespaltener Persönlichkeiten lesen, Hangsaman (Der Gehängte) und The Bird’s Nest. Und auch ihre Isolations-Romane Spuk in Hill House und Wir haben immer im Schloss gelebt lassen sich als Abstieg in eine Art Wahnsinn oder ein sich damit Arrangieren lesen. Wie immer aber macht es wenig Sinn und wenig Freude, Texte über Menschen und insbesondere Frauen, die sich außerhalb der Norm bewegen, und die außerhalb der Norm denken und empfinden, als Metaphern für mental health issues zu lesen. Oder, fast noch reduzierender: Krankheit als Metapher für gesellschaftliche Strukturen und ihre Auswirkungen zu vermuten in Texten, in denen die Menschen einander oder sich selbst für verrückt erklären. Krankheit als Metapher hat Jackson nie interessiert; wenn überhaupt, dann Metapher als Krankheit, die einen scheinbar genrekonformen Text befällt und am Ende sozusagen dahinrafft.

Der Zürcher Diogenes-Verlag hat eine Weile versucht, Jackson im deutschsprachigen Raum als gehobene Unterhaltungsautorin durchzusetzen, aber sie hat nie auch nur entfernt einen Status erlangt wie andere, mit ihr thematisch und stilistisch vergleichbare Diogenes-Hausautorinnen, Muriel Spark und Patricia Highsmith. Obwohl ihre Texte nach einem ähnlich eigenwilligen Prinzip funktionieren wie die von Spark und Highsmith: relativ statische Figuren, die sich durch eine quasi linksgedrehte Genre-Simulation hangeln, ohne Erlösung, Strafe oder auch nur Entwicklung zu erfahren. Offenbar funktionierte dies bei Spark und Highsmith, Jacksons Schwestern im Geiste und im Stil, bei deutschsprachigen Leser*innen besser, weil Spark und Highsmith an in Europa vertraute Traditionen anknüpfen (oder sie auf den Kopf stellen). Spark an die der britischen Schul-, Universitäts- oder Adels-Komödie, Highsmith an das klassische Whodunit, aus dem sie einfach aber genial ein Hedunitsowhat machte.

Jackson hingegen kommt aus einer singulär US-amerikanischen Tradition. Ihre Vorfahren sind die Autor*innen der amerikanischen Gothik. Einerseits der (hierzulande ebenfalls eine zeitlang von Diogenes gepushte) Charles Brockden Brown, der so genannte erste Romancier der USA, der im späten 18. Jahrhundert an den Grenzen der damals als solche empfundenen Zivilisation Protagonist*innen in unheimlichen Herrenhäusern an die Grenze der Realität führte und dazu brachte, an ihren Sinnen zu zweifeln – oft als metaphorische Auseinandersetzung mit der unbegreiflichen Frontier-Erfahrung. Und natürlich Edgar Allan Poe, dessen Werk immer von der unheimlichen Konfrontation mit dem Innenleben angstgeplagter Protagonisten in engen Räumen erzählt. Herrenhäuser, auch hier, bei Poe etwa das metonymische House of Usher, Gebäude und Familie zugleich.

Die andere Herkunftslinie Shirley Jacksons führt zu Emily Dickinson, die hölderlinähnlich 18 Jahre ihr Zimmer und ihr weißes Gewand nicht verließ und dabei hinter verschlossener Tür in 1800 Gedichten eine lyrische Freiheit und Unbegrenztheit in den starren Konventionen des 19. Jahrhunderts suchte. Zwar wird der Rückzug von Jacksons Figuren aus feindlichen Umständen in die Isolation (etwa von ihrer Biographin Ruth Franklin) mitunter als Beschreibung Jacksons eigener Unfähigkeit gesehen, ihrer unglücklichen Ehe nicht entfliehen zu können. Tatsächlich aber finden Jacksons Figuren wie Dickinson in der häuslichen Abgeschiedenheit eine Freiheit, die es für sie in der Außenwelt nicht gibt.

Zwar gibt es diese Traditionen in verwandter Form auch in deutscher Sprache (das räumlich Klaustrophobische verwoben mit dem poetisch Entgrenzten, bei Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann, Marieluise Kaschnitz, Christine Nöstlinger?) – aber Jackson hat eine Eigenart, die sie auf Anhieb etwas schwerer zugänglich macht. Jackson verweigert sich komplett dem Erfolgsmodell jeden aktuellen Storytellings: Sie interessiert sich nicht für die psychologische Entwicklung ihrer geradezu archaischen, typenhaften Figuren.

Dieses statische Form der Charakterisierung signalisiert Jackson gleich zu Beginn von Wir haben schon immer im Schloss gelebt, wenn sie schreibt: „Ich heiße Mary Katherine Blackwood. Ich bin 18 Jahre alt und lebe mit meiner Schwester Constance zusammen. Ich habe oft gedacht, dass ich mit ein wenig Glück als Werwolf hätte auf die Welt kommen können, denn meine Mittel- und Ringfinger sind an beiden Händen gleich lang, aber ich muss mich damit zufriedengeben, was ich nun einmal bin. Ich wasche mich nur ungern, ich mag weder Hunde noch Lärm. Ich mag meine Schwester Constance, Richard Plantagenet und Amita phalloides, den Grünen Knollenblätterpilz. Alle anderen in meiner Familie sind tot.“

Das Buch könnte, nach kurzen 224 Seiten, auch mit diesen Worten wieder aufhören. Nichts bei Jackson folgt der erfolgversprechenden Richtlinie, dass Figuren sich über die Laufzeit eines literarisch anspruchsvollen Unterhaltungsromans entwickeln müssen. Zwei oder drei einschlägige Fragen liegen heute der Figurenentwicklung und damit der Plotstruktur fast jeden US-amerikanischen Erfolgsromans zugrunde: Was wollen die Figuren und was brauchen sie (und das ist nie dasselbe), und was lernen sie? Nämlich, tja: dass sie am Ende etwas anderes brauchen, als sie anfangs wollten. Eine grausame Folie der figurengetriebenen narrativen Dynamik, die auf die Dauer in ihrer Gleichförmigkeit selbst klaustrophobisch wird, und durch deren Verweigerung Jackson ihren Figuren und ihren Leser*innen neue Freiräume verschafft.

Freiheit durch Stillstand

Zum Beispiel Mary Katherine Blackwood, genannt Merricat, in Wir haben schon immer im Schloss gelebt. Sie will mit ihrer Schwester nach dem Tod ihrer Familie unbehelligt in ihrem herrschaftlichen Elternhaus leben, und genau das braucht sie auch. Ähnlich geht es allen Protagonist*innen in den drei Isolations-Romanen von Shirley Jackson: Keine hat am Ende der jeweiligen Erzählung über sich und die Welt etwas gelernt, was sie nicht schon vorher wusste. Wir haben schon immer im Schloss gelebt  ist dabei eine mitreißende Geschichte darüber, wie das Alltagsleben der verwaisten Schwestern Merricat und Constance von außen bedroht wird: durch ein paar, die ihnen Gutes tun wollen, durch andere, die sich an ihnen bereichern wollen, und durch jene, die sie im Kontrast zu ihrer dörflichen Gemeinschaft als „das Andere“ definieren und ablehnen, weil der begründete Verdacht besteht, Constance oder Merricat hätten ihre gesamte Familie getötet. 

Zwar nutzt Jackson die Bedrohung von außen, um den Plot voranzutreiben, und die brutalen Angriffe auf das „Schloss“ der Schwestern beschreibt Jackson mit düsterem Gusto – ihr eigentliches Interesse aber gilt offenbar der Nähe und Zärtlichkeit zwischen den Schwestern. In Merricat, der ungewaschenen Ich-Erzählerin, und Constance, der gepflegten älteren Schwester, macht Jackson zwei Archetypen des Weiblichen zu ihren Heldinnen. Die eine, Merricat, ist die Hexe, die den Bannkreis ihres Anwesens mit zauberischen Ritualen und Totems beschützt; die andere, Constance, ist die Hausmutter, die kocht, bäckt, einweckt und putzt. 

Jacksons rebelliert gegen das Diktat der Figurenentwicklung, indem sie diese beiden Spielarten des fiktionalen Weiblichen nicht als defizitär beschreibt, sie aber auch nicht als heroisiert. Stattdessen erlaubt sie sich, beide Archetypen zu unveränderlichen Charaktermerkmalen ihrer Heldinnen zu machen, an denen alle patriarchalischen Angriffe von außen abprallen. Und zwar gerade dadurch, dass beide Frauen ihre Rollen nicht als Mangel empfinden. Constance wehrt sich lächelnd gegen alle Aufforderungen, doch wieder das Haus zu verlassen und unter Leute zu gehen, und kocht lieber weiter Marmelade; Merricat lässt alle Vorwürfe, sie sei ungezogen und dreckig, mit finsterer Miene über sich ergehen und vergräbt danach Rachetotems im Wald. 

Tatsächlich ist dies gerade vor dem Hintergrund eines gewissen Selbstverbesserungs-Sounds, der die Corona-Krise begleitet, eine erleichternde Lese-Erfahrung. Man muss die Krise nicht als Chance und die Isolation nicht nur als Aufforderung zum persönlichen Wachstum begreifen und sich damit am Ende womöglich selbst enttäuschen; man kann sich auch einfach damit abfinden, dass man an und in der Krise nicht wachsen, sondern mehr oder weniger so bleiben wird, wie man vorher schon war.

Während in Wir haben schon immer im Schloss gelebt ein gewisser Trost gerade durch die Sturheit und Stagnation der Figuren entsteht, findet man Trost in The Sundial und Der Spuk von Hill House nur noch in den Begleitumständen des menschlichen Zusammenlebens: in der Qualität geteilter Mahlzeiten, in zufällig im Gespräch entstehender, aber flüchtiger Nähe, durch die Fähigkeit, sich selbst von außen und mit einem gewissen Humor zu betrachten. Die Figuren in The Sundial etwa finden darin Trost, dass sie eine in ihrem Empfinden große Unwägbarkeit (die Fährnisse des alltäglichen, aber in seiner Banalität zerstörerischen Lebens) durch eine etwas kleinere ersetzen (die Apokalypse des heraufziehenden Weltuntergangs bzw. die Apokalypse seines Ausbleibens).

Jacksons Protagonistinnen finden also, und sei es noch so flüchtig, Freiheit und Trost in bedrohlichen, ausladenden Häusern, die von Patriarchen für ihre Familien gebaut wurden, oft gegen deren Willen: die Gebäude sind zu kompliziert, zu reich, zu groß, zu abgeschieden. Gerade in diesem Widerspruch aber werden Jacksons Romane lebendig. Ihr Unterhaltungswert entsteht durch den gleichförmigen, absurden, vergeblichen Kampf der Protagonist*innen, das Leben ohne großen Willen zur Verbesserung auf bestmögliche Weise durchzustehen. Die Autorin hat damit, in ihrer Schaffenszeit, eine gewisse Nähe vielleicht zu Albert Camus’ Sysiphos und Samuel Becketts im Kreis laufenden Helden, und sie nimmt eine Gegenposition ein etwa zum psychologischen Fotorealismus ihres Zeitgenossen John Updike und zum scheinbar organischen, ungezwungenen Schreiben und Erzählen der Beat-Poeten. Sie reduziert und stilisiert psychologische Impulse, statt sie zu beschreiben, zu erforschen oder zu überhöhen.

Natürlich fehlt dadurch auch immer etwas in ihren Büchern. Zum einen die gängige Palette von Deutungsmöglichkeiten, die der literarische Unterhaltungsroman und die Genre-Literatur ihren Leser*innen normalerweise anbieten: Du kannst dies hier wegen des Plots und der Figuren lesen, aber auch als Kommentar über die Gesellschaft (Krimi) oder die menschliche Verfasstheit an sich (Horror). Zum anderen die Identifikationsangebote, die viele Leser*innen in Romanen suchen, die durch Genre- oder Vermarktungskonventionen eine gewisse Zugänglichkeit signalisieren. 

Durch diesen Mangel aber entstehen in Jacksons klaustrophobischen Welten Freiräume. Niemand weiß in ihrem Roman The Sundial, warum die kostbare, aber unansehnliche Sonnenuhr, die mitten auf dem Rasen des Anwesens steht, ein vom Steinmetz willkürlich ausgesuchtes Chaucer-Fragment trägt: „WHAT IS THIS WORLD?“ Es ist eine Frage, die sich nicht beantworten lässt, erst recht nicht, wenn man, wie die Protagonist*innen, das Ende eben jener Welt erwartet. Alles fängt an und endet mit Ratlosigkeit. Bei Jackson aber ist diese Ratlosigkeit nicht bedrohlich, sondern entlastend, sie ist das positive Gegenbild dazu, was sonst den Protagonist*innen blüht: „Ich möchte doch nur wertgeschätzt werden“, denkt Eleanor Vance in Der Spuk von Hill House, „aber stattdessen sitze ich hier und rede Unfug mit einem egoistischen Mann.“

 

Die deutschen Zitate aus „Spuk in Hill House“ (The Haunting Of Hill House) und „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ (We Have Always Lived In the Castle) stammen aus den schönen Übersetzungen von Eva Brunner oder lehnen sich daran an; die anderen Zitate wurden für diesen Text übersetzt.

 

Photo by Carlos de Miguel on Unsplash

Soziale Distanz – Ein Tagebuch (7)

Dies ist der siebte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6)

Das mittlerweile über 102 Seiten umfassende kollektive Tagebuch “Soziale Distanz – Ein Tagebuch” gibt es auch als vollständige Leseversion in Google Docs.

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Janine, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Robert Heinze: @rob_heinze, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

2.4.2020

 

Nabard, Bonn

Die zweite Woche in Quarantäne und so langsam bessern sich die Symptome. Als hätte man eine fiese Grippe durchgemacht. Abgeschottet von meiner Familie und Freunden, waren die letzten Tage von einer Monotonie geprägt, die mich viel hat nachdenken lassen. Heute sitze ich ohne Kopfschmerzen im Garten und kann etwas Sonne tanken. Gleichzeitig lassen mich meine Eltern wissen, dass sie nach anfänglichem Fieber und Übelkeit beide wohlauf sind.

Wir meinen immer, zu allen Erkrankungen ein passendes Heilmittel zu haben, zumindest ein Weg, damit umzugehen. Jetzt stehen wir vor einem Virus, der uns gänzlich unbekannt ist. Diese Angst und Ohnmacht kein Mittel dagegen zu haben, keine Virostatika, keine Impfung, als Mediziner fühlst du dich wehrlos. Wir sind doch die “Superhelden im weißen Kittel” und plötzlich stehen wir da und müssen mit den Achseln zucken. Eine tragische Art der Natur uns Demut zu lehren.

Nächste Woche kann ich wieder ins Krankenhaus. Einerseits freu ich mich, andererseits bin ich angespannt, was erwartet mich und kann ich meinen Beitrag dazu leisten um zu helfen? Krank werden kann ich ja jetzt nicht mehr.

 

Slata, München

Eines der wenigen Bücher, die ich während der Quarantänewochen las (denn ich lese viel lieber russische Frauenforen oder Werbeprospekte) war Don Quijote, ich las ihn so aufrichtig und genussvoll, dass ich manche Abende früher ins Bett ging, um ihn dann, endlich, herauszuholen, manche Abende nicht zum dreißigsten Mal Emails abrief in der Hoffnung, dass eine Agentur sich gemeldet, ein Verlag sich begeistert gezeigt hätte, brauchte auch kein Glas Wein vor dem Einschlafen, und dann, nach Don Quijotes Tod, verspürte ich eine ernsthafte Traurigkeit, warf das Buch ins Regal und schaute es nicht mehr an, wurde das Gefühl nicht los, jemanden verloren zu haben, um etwas betrogen worden zu sein.

Sandra, Berlin

April, April, seit gestern sind die meisten Verlage in Kurzarbeit. Leider kein Scherz. Amazon lässt die Verlage hängen, Bücher sind nicht system- äh umsatzrelevant und werden derzeit nicht eingekauft. Meine Lektorin berichtet mir, ich höre die Neuigkeiten zähneknirschend. Immerhin wird mein Titel, der im Herbst kommen soll, nicht verschoben. Ist das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht? Ich bin mir nicht mehr sicher. Ist mein Text überhaupt systemrelevant? Ich, die Autorin, bin es, der neuen Krisenordnung der Dinge nach, ja nicht. Auch das Börsenblatt berichtet über die Situation der Verlage – und der Artikel zeigt darüber hinaus mal wieder den Überhang männlicher CEOs und Verlagsleiter … Ah, was bin ich müde.

https://www.boersenblatt.net/2020-03-31-artikel-titelverschiebungen__kurzarbeit_und_eine_portion_optimismus-umsatzeinbruch_um_bis_zu_80_prozent.1840504.html?nl=newsletter20200331&nla=artikel1840504&etcc_newsletter=1

O.K. Und jetzt?

Um den Kopf frei zu bekommen spaziere ich ein paar Stunden SocialDistancing-Abstandskonform mit einer Freundin über das Tempelhofer Feld, wir reden und schweigen, das Kind freut sich unbändig über ein Flugzeug, die BMX-Bahn, einen besonders schönen Ast, eigentlich über alles, was es sieht. Woher nehmen kleine Kinder eigentlich diesen Optimismus? Gut, andererseits dürfen sie sich auch schreiend auf den Boden werfen. Ich stelle mir vor, dass ich nach dem Spaziergang nach Hause komme, das Kind meinem Partner in die Arme drücken, die Fenster öffne und alles, was sich die letzten Tage und Wochen angesammelt hat, hinaus schreie.

Aber stattdessen kommen wir heim, ich mache Tee, setze mich an meine Arbeit, schreibe weiter

https://other-writers.de/2020/04/02/wir-sitzen-hier/

 

Janine, Flensburg

Ich kann bis heute keine Notarztsirene hören, ohne aus der Gegenwart gerissen zu werden. Meiner Bekannten M. geht es so beim Geruch von Einweghandschuhen und dem Anblick von medizinischen Gesichtsmasken.

 

Fabian, München

Jemand denkt oder irrlichtert, ob es nicht besser wäre, wenn die Krise andauerte, allein ob der Aufschiebung diese gut geschmierten Status quos, irrlichtert, meint die Chatpartnerin, dass man sich keine Hoffnung zu machen brauche, da alles weiterginge, wie bisher, jagut, nein, Ungarn macht’s vor, wie man grade die Krise nutzt, um die totalitäten Umbauten bloß zu akzelerieren, Stichwort, auch Polen, fragt man (sich), des Vatervaterstaats – oder habe ich etwa etwas verpasst? Trump in dreißig Zutaten zur Krise, im Wesentlichen machen er (wir) einen fantastischen, fantastischen Job, irrlichternd, was hätte er nicht Arzt werden sollen, meine Güte, ein wenig amüsant ist das ja doch. Endlich einmal Andrić lesen, zusammen kochen wir Kasnock’n, leider kein Schnittlauch im Haus, zum ersten Mal trinke ich über Zimtholz geräucherten Lapsang Souchon aus Ceylon, zum ersten Mal chinesischen Schattentee nach südjapanischer Art. Das Leben ist ruhig hier. Einmal am Tag Fallzahlen checken, der Rest bleibt draußen, im Grunde, inzwischen, wie so oft lässt man hier, an diesem Punkt das Bedürfnis, informiert zu sein, vor der eigenen Ohnmacht kapitulieren und wann kommt eigentlich die deutschlandweite Mundschutzpflicht, oder woher sonst der Eindruck, die Bundesrepublik hinke den österreichischen Maßnahmen, aber immerhin konsequent, ein paar Tage hinterher.

 

Nefeli, Berlin/Hamburg

Ich möchte jetzt auch etwas in der Quarantäne lernen. Gestern habe ich zwei Dinge geübt: freihändig Fahrradfahren und Kopfstand. Das mit dem Fahrradfahren ging besser, S. kann sogar freihändig Kurven fahren, ich war froh, wenn ich bis drei zählen konnte, bis ich wieder rasch den Lenker griff. 1. 2. 3. Kopfstand war eher nervig und entstand aus einer verlorenen Wette mit S. heraus. Die Wette habe ich vergessen. Abends konnte ich dann nicht schlafen. Habe “Das Adressbuch” von Sophie Calle gelesen, habe mir gewünscht, Sophie Calle würde auch mich verfolgen, aber ich besitze ja noch nicht einmal ein Adressbuch und jetzt in Quarantäne führe ich eh ein sehr langweiliges Leben. Ständig das Gefühl der Unter- und Überforderung zugleich.

Zudem beginnt jetzt das neue Semester. Da ich eh ungern nach Lüneburg pendelte, finde ich es ganz gut, die Seminare am Küchentisch mit Schlafanzug und Kaffee zu erleben. Zugleich frage ich mich: wann werde ich eigentlich wieder eine Tagesstruktur haben? Ich bin nachts meist bis zwischen 2 und 3 wach, ich schlafe lang, ich habe das Gefühl, das Leben nicht im Griff zu haben.

Das Highlight heute: Frühlingsputz und auf S’s Kleiderschrank im Staub seinen Namen mit dem Finger schreiben bevor ich alles sauber wische.

 

Emily, Rostock

Ich rechne aus, wieviele bußgeldpflichtige Vergehen ich bei meinem derzeitigen Kontostand begehen könnte. Zweimal Picknicken mit Freund*innen im Park ist gleich meine Miete. Einmal den Mindestabstand nicht einhalten, gleicht einem halben Jahr Mitgliedsbeiträgen im  Fitnessstudio.

Am Dienstag habe ich den ersten Geburtstag digital gefeiert und während wir im Kanon (anders ist es kaum möglich) Lieder anstimmen, schreibt N mir, dass ich schlecht aussehe und mich melden soll. Zwei Stunden lang versuche ich möglichst viel zu lächeln, gehe zwischendrin sogar ins Bad, um mir mit Rouge Akzente auf die Wangen zu setzen. Gestern habe ich dann Erich Kästner Gedichte auf das Briefpapier geschrieben, das mir L einmal für besondere Anlässe geschenkt hat. Positive Gedanken für die Menschen im Altenheim. Beinahe manisch suche ich nach Dingen, die ich für andere tun kann, um das Gefühl zu haben, überhaupt noch nützlich zu sein. Als mir gesagt wurde, ich wüsste nichts mit mir anzufangen, habe ich gedacht, dass es stimmt und war verletzt. Jetzt fällt mir auf, ich möchte einfach keine Zeit verschwenden, die drei Wochen sind so rasend schnell vergangen. Am liebsten 24 Stunden Produktivität. Es gibt kein Wochenende mehr. Keine Ruhephasen. Ich habe meine Schlafzeit auf die Hälfte reduziert.

Aus meinem Fenster muss ich beobachten wie Notarzt, Feuerwehr und Polizei vor meiner Haustür halten. Während sie auf Tragen zwei Menschen in das vordere Auto bugsieren, diskutiert der Videochat darüber, worauf sie sich nach der Krise am meisten freuen. Ich sage, darauf wieder essen bestellen zu können und nicht darauf, dass ich so etwas nicht mehr sehen muss. Die beste Antwort auf die Frage kommt aus Berlin. Endlich wieder U-Bahn fahren. Mehr Normalität gibt es nicht, ich kann es so gut verstehen.

 

Simon, Vorort von Freiburg

So langsam kann ich Phasen erkennen, die ich bei mir selbst in dieser Isolationssituation feststelle. Angefangen hat es so ab dem 12. März mit extremer Anspannung, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Das Gefühl überhaupt nicht greifen zu können, was gerade passiert und das, was man direkt vor Augen hat, die Welt um einen herum, nicht zu dem in Beziehung setzen zu können, was man in den Medien liest und von anderen hört. Je weiter der März seinem Ende zuging, beruhigte ich mich innerlich, immer noch irritiert und besorgt und aus dem Alltag geworfen, empfand ich Momente der Entspannung, der Regelmäßigkeit und der Ablenkung. Das war wiederum ein Gefühl, das sich angesichts dessen, was ich las und hörte, falsch anfühlte: Wie konnte ich Momente in dieser Situation relativ sorglos genießen, wenn draußen alles gefühlt zusammenbricht? Gleichzeitig merkte ich, dass ich diese Routine in der Ausnahmesituation brauchte und dass sie mir gut tat.

Jetzt, wo wir in den April kommen, merke ich Unruhe, Rastlosigkeit und Hilflosigkeit. Die Psyche, die sich auf den neuen Alltag einrichten wollte, fühlt sich jetzt doch eingeengt. Ich habe normalerweise kein Problem damit zuhause zu sein, niemanden zu sehen, allein zu sein. Aber jetzt geht es nicht mehr um freiwilliges Alleinsein, um selbstgewählten Rückzug, sondern jetzt heißt es nicht nur Isolation, es fühlt sich auch so an.

Und auch wenn es überall zurecht heißt, dass man sich selbst nicht unter Druck setzen sollte, weil man gerade viel verarbeiten muss und es in Ordnung ist, wenn man sich nur selten gut konzentrieren kann, wünschte ich, ich könnte diese Wochen doch besser nutzen. Auch weil ich in so einer privilegierten Situation bin, gerade weil ich mir relativ wenig Sorgen machen muss, sollte ich doch in der Lage sein, Dinge zu erledigen, kreativ zu sein, “etwas” zu schaffen. Und manches schaffe ich auch, aber es fühlt sich unzureichend an. Die Tage fliegen so dahin mit ihrer Leere. Ich höre von manchen, dass sie es ebenso empfinden, andere berichten vom Gefühl sich ziehender langer Tage. Mich macht vor allem unruhig, wie die Zeit in meiner Wahrnehmung rast.

 

3.4.2020

 

Rike, Köln

Ich laufe einer Frau hinterher, die einer Weinbergschnecke gleichend mit einem geschützten Gesicht hinter einem Rollator tapst, ich überhole sie 2x. Sie biegt in Zeitlupe um die Ecke und ich lasse sie noch einmal vorbeiziehen, bevor ich sie frage, ob sie Hilfe zum Einkaufen braucht, sie sagt nein, erst mal nicht, Pflegedienst pipapo, aber ich könnte ihr gerne meine Nummer geben. Ich date jetzt meine +- 85jährige Nachbarin statt irgendwelcher Dudes. Ich warte immer noch auf ihren Anruf. Ich weiß nicht, ob in diesem Kontext die 3-Tage-Regel auch gilt.

Neue Reizwörter: Atemschutzmaske, Klopapier, Risikogruppe, soziale Distanz, das C-Wort. Es ist so, wenn ich das Wort höre, werde ich ganz müde.

Wortermüdungserscheinungen.

Neues Wort: Balkonkäfig

 

Slata, München

Gewächshausexperimente sind das, uns, drei unterschiedlichste Menschen, körperlich und gefühlsmäßig zwar verbunden miteinander, aber drei einzelne Organismen, in einen geschlossenen Raum zu setzen, zu schauen, was da alles passieren mag, Protokoll führen.  Wenn wir das überleben, fünf Wochen ununterbrochen zusammen, ich meine, auch mehr vielleicht, bestimmt hört es nicht pünktlich auf wie versprochen, sondern dehnt sich aus auf weitere Wochen, wenn wir uns danach oder mittendrin nicht für immer zerstreiten, trennen vielleicht, wenn unser Kind keine unangenehmen Erinnerungen, keine verborgenen Traumata entwickelt, können wir stolz auf uns sein, ich meine es ernst, findest du nicht.

 

Marie Isabel, Dunfermline

1. Krisen verwirren, lösen Angst aus, Panik. Sie fokussieren aber auch das Wahrnehmungsvermögen. Prioritäten schieben sich zurecht. Das, was frau landläufig das ‘wirklich Wichtige’ nennt, nimmt vor ihr Aufstellung und stellt mit seinen schönen breiten Schultern viel Unwichtiges, sonst so laut Zeterndes, in den Schatten. Zu erkennen, was einem in Momenten existenzieller Bedrohung gut tut, und welche Zustände bzw. Gewohnheiten dringend zu ändern sind, weil letztlich das eigene Überleben (und vielleicht sogar das aller anderen auch) davon abhängt, ist das eine. Diese Erkenntnisse in die Zeit der zurückkehrenden ‘Normalität’ hinüber zu retten – so sie einem denn beschert ist – wird  eine große Herausforderung. Das gilt für Einzelne genauso wie für Gemeinschaften.
2. Hier wie andernorts begegnet mir das Wort ‘Experiment’ zur Zeit immer wieder. Ich muss an Heinrich von Kleist denken, dessen fiktive Welten ein einziges Menschenexperiment sind und daran, wie katastrophal, auf die eine oder andere Weise, seine Texte enden. Sage noch einmal einer, Literatur sei nicht systemrelevant. Zudem denke ich Isolation weiter und lande zwangsläufig bei Einzelhaft, und bei Foltermethoden. Bei Säuglingen, die man mit Stille umgab, um herauszufinden, welche Sprache sie aus sich heraus schöpfen würden, und die daraufhin starben. Wir haben das Glück, in einer digitalisierten Welt zu leben, in der es von Kommunikationsmedien nur so wimmelt. Dennoch und vielleicht genau deshalb wird nun deutlich, dass direkte Ansprache, Gespräche, Umarmungen, das Beisammensein mit Anderen, Fremden wie Freunden, die Berührungen durch andere atmende Körper, Laute, Worte, Gerüche, Bewegungen durch keine noch so ausgeklügelte Technik zu ersetzen sind.

 

Nabard, Bonn

Ja es ist so banal diese Monotonie. Man steht auf, macht sich fertig fragt sich, was man heute machen würde, macht nichts davon, putzt, meldet sich bei Menschen, von denen man dann keine Antwort erhält, fühlt sich allein, schaut in digitale Plattformen, sie signieren das man es nicht ist. Was fehlt ist die Umarmung und soziale Interaktion. Real. Was macht diese Isolation mit uns?

 

Robert, Warschau

Ich entwickele eine Obsession mit Karten. Ich mochte Karten schon immer, aber die Ausgangsbegrenzung führt kontraintuitiv dazu, dass ich noch viel mehr und aufmerksamer Karten studiere als sonst. Karten werden zur Repräsentation des Kontrollverlusts und zum Medium ihrer Wiedererlangung – im geographischen wie im virtuellen Raum.

Immer wieder aktualisierte Karten von weltweit auftretenden Fallzahlen, von Reise- und damit Ansteckungsrouten zeigen mir den Kontrollverlust auf. Sie ähneln in ihrer Ästhetik verblüffend der Karte des inzwischen zu trauriger Berühmtheit gelangten Spiels Plague Inc. – eine Ästhetik roter Punkte, sich ausbreitender roter Flecken und lang gebogener Fluglinien, an deren Ende neue Punkte aufscheinen.

Diese Karten bilden mehr oder weniger unbewusst auch die in Krisenzeiten weiterhin bestehenden oder sogar verschärften sozialen Spaltungen und rassistischen Dispositive ab. Warum sieht die rot eingefärbte Karte Afrikas – immer noch relativ wenige Fälle – so viel bedrohlicher aus als die detailliertere, mit helleren Rottönen versehene Karte der USA, wo die Fallzahl längst die Chinas überholt hat?

Diesem massenmedial repräsentierten Kontrollverlust setze ich die obsessive Kontrolle meines weiter schrumpfenden Raums entgegen, auch mit Hilfe von Karten. Weil die Parks in Polen geschlossen sind, sitzen wir über Spacerowniks (Spazierführern) und Karten unseres Warschauer Viertels, um unsere Spaziergänge minutiös so zu planen, dass wir um die Parks herumschleichen, evtl. architektonisch oder historisch interessante Orte mitnehmen und trotzdem die Regeln einhalten können, um nicht von den paarweise auftretenden Patrouillen von Armee und Polizei gestoppt zu werden. Ein Buch, das ich gerade lese – Miron Białoszewskis Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand – beinhaltet eine Strassenkarte Warschaus, zur Orientierung über die hektischen Geschehnisse des Aufstands. Das Strategiespiel “Warsaw” repräsentiert die gleichen Strassen als Karte, auf der sich die eigenen Avatare bewegen, immer in Gefahr, ins Sichtfeld eines Trupps deutscher Soldaten zu geraten. Verstecke, Zusammenstösse zwischen Partisanen der Armia Krajowa (AK) und der Wehrmacht, Versorgungs- und Schleichrouten, alles in der scheinbaren Ordnung einer Vogelperspektive repräsentiert, den Lesenden und Spielenden ein beruhigendes Gefühl der Orientierung inmitten chaotischer Ereignisse vermittelnd. Unser Wohnblock selbst war ein Stützpunkt der AK während des Aufstands. Diese Erinnerungen lege ich über unsere Spaziergänge, sie sind auch in den Spacerowniks präsent. Warschau ist ein historisches Palimpsest. So stelle ich Distanz her – den historischen Blick bin ich gewöhnt, er gibt mir eine Normalität zurück in der Art, wie ich den städtischen Raum erfasse. Meine Partnerin tut dasselbe mit einem ästhetischen Blick: Warschau ist auch ein architektonisches und künstlerisches Palimpsest, das sie mit der Kamera erkundet.

Karten dienen auch dem Eskapismus, die Karte von Gliese 667Cc zum Beispiel, die ich seit gestern aufmerksam studiere, um spielerisch ausserirdische Flora und Fauna zu erforschen. Eine ganz eigene Welt, die sich mir nur über eine topographische Karte, ein minimalistisches Display und die Beschreibungen einer Biologin, deren Anzug ich als KI steuere, erschliesst. Über In Other Waters, das Spiel, in dem ich Gliese 667Cc erkunde, schreibt eine Rezensentin: “In Other Waters remains calming and lovely throughout because the terrible secret already happened decades ago, and the planet survived. Life adapted, changed, and eventually thrived again. […]You can’t change the past in In Other Waters, you can just be a witness to it.”

 

Shida

Manche mögen da ja, solche Spaziergänge draußen, in der Natur, auf Feldwegen, an der frischen Luft, die Sonne scheint, die Grillen zirpen. Ich gehöre leider nicht dazu. Mich erinnert das an Pubertät und Langeweile, ich höre ein Hörbuch und zwinge mich weiterhin zu Spaziergängen wegen der Luft und der Bewegung und so. Das sind die 30 Minuten am Tag, in denen ich dann endlich was für mich mache – und dabei mag ich es nicht mal.

Bei jeder Überwindung und bei jedem Naserümpfen ob des Geruchs nach Kuhscheiße ist da dieses fette, neue Gefühl, um das ich immer gebeten hatte und nie für möglich gehalten hätte, es zu bekommen: Teil der privilegierten Gruppe zu sein. Entscheiden zu können, die Isolationszeit auf dem Land statt in der Stadt zu verbringen, zum Beispiel. Und die eintausend anderen akuten guten Bedingungen, die ich aufzählen könnte aber das ist superlangweilig, genau, wie an dieser Stelle aufzuzählen, welche Einbußungen und Einschnitte ich natürlich trotzdem auch habe. Dominant ist die Einsicht, dass so eine Pandemie mich in einem status quo getroffen hat und dass es ihr egal ist, ob ich es schwerer hatte als andere, an diesen status quo zu gelangen oder nicht und ob es vielleicht einfach jede Menge Glück war, das mich zu diesem status quo geführt hat. Das alles ist dem Virus egal. Er ist in unser aller Biografien eingetreten, hat uns da getroffen, wo wir gerade stehen und siehe da, bäm, ich gehöre zur Gruppe derer, die zwar gerne jammern würden, sich aber einfach eingestehen müssen, wie verflucht gut sie es haben. Ich hatte immer gedacht, dass Privilegien zu haben ein prima feeling machen würde, dass man immer Sonnenschein auspustet und Lavendelduft einatmet aber in Wirklichkeit fühle ich mich, als würde die Galle aller anderen an mir kleben und ich werde sie nicht mehr los. Perspektivwechsel der merkwürdigen Art. Deswegen verkneife ich mir meinen Vorwurf an all die Leute, die sich nicht an Regeln halten und wie ungeduldige Kinder fragen: „Wann hört das auf wann hört das auf wann sind wir da ich mag nicht mehr wann sind wir da“ Ich will brüllen, „Kommt halt klar, PANDEMIE, man, PANDEMIE, keiner hat gesagt, dass das Spaß macht und schnell vorbei ist.“. Aber das ist das, was die privilegierte Gruppe immer ruft. Sie ruft immer: „Stellt euch nicht so an“ und geht dann meditierend in der frischen Landluft spazieren.

 

Andrea, Tübingen

Müde. Ich bin so müde. Ja, das ist auch eine Metapher, wenn ich mir ansehe, wie Debatten immer wieder ein Mindestniveau unterschreiten: Nein, Kritik ist keine Zensur, Ja, wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Zynismus ist keine Haltung, die mir sympathisch ist, aber oft durchaus naheliegend. Müdigkeit überfällt mir auch angesichts von zeitdiagnostischen Apokalyptikern und philosophischen Hottakes wie “metaphysische Pandemie”. All diesen übersteigerten Corona-Zeitdiagnostiken durfte ich einen kurzen Text im Philosophie Magazin entgegenstellen, und das hat gut getan.

Ich bin auch tatsächlich müde. Ich habe in den letzten 14 Tagen gefühlt auf Skype & Zoom gelebt, für & mit vor allem germanistischen Kolleg*innen einiges für die digitale Lehre im Sommersemester vorbereitet, dazu viele Texte auf Anfrage über das #NichtSemester geschrieben, Interviews gegeben – das meiste in unserem #NichtSemester-Team, was wunderbar funktioniert hat -, und vor allem auf Twitter darüber diskutiert. Vieles war hinterherarbeiten, bewältigen, aber ich habe ajuch versucht, zu gestalten, nicht nur nachzuarbeiten. Der für mich wirklich ungewöhnliche Aktivismus hat mich gerade nicht von der Krise abgelenkt, sondern mir geholfen, mit der Unwägbarkeit der nächsten Wochen (?) umzugehen. Denn alles, was wir tun, hat damit zu tun: Was erwartet uns bis zum Semesterende? Lehre vorbereiten, Workload, Kommunikationsformen und Arbeitsweisen zu planen, ist davon gerahmt, und es ist mir wichtig, das anzuerkennen. Wenn jemand erklärt, das seien paradiesische Zustände zum wissenschaftlichen Arbeiten, frage ich mich schon, wie man sich so abkoppeln kann von den Verhältnissen. MIr gehen die Bilder von Menschen, die  beatmet werden, nach.

Was mir am meisten fehlt: Endlich wieder in Ruhe lesen, nur für mich. Und auch endlich andere Dinge abarbeiten, die zu kurz kamen, aber auch längst erledigt werden sollten. Wieder eine Balance der vielen Aufgaben finden.

Worüber ich froh bin: Spaziergänge. Heute wieder mit Schwänen in der Nachbarschaft. Hört mal hin:

 

Emily, Rostock

Seit dieser Woche soll die Polizei in Mecklenburg-Vorpommern die Daten von Infizierten erhalten. Die ärztliche Schweigepflicht wird klammheimlich ausgesetzt, aber für einen Aufschrei fehlen alle Ressourcen abseits der Zeit. Wie virtuelle Demonstrationen funktionieren, habe ich auch in Woche 3 noch nicht begriffen. Ich habe den Überblick über die Hashtags verloren, die Prioritäten und Artikel, ich spende Geld und teile Beiträge und bin neidisch auf Menschen, die eine Obsession für Online-Rollenspiele entwickeln können. Es gibt so viel, um das ich mich kümmern möchte und immer gilt es Alternativen zu finden, um aus dem Wohnzimmer aktiv zu werden. Immer rückt das Persönliche in den Vordergrund. N fragt am Telefon, ob man überhaupt an einem Corona-Tagebuch mitarbeiten kann, ohne am Ende doch nur über den eigenen Liebeskummer zu schreiben.

Es bleibt die Frage danach hängen, wie sinnvoll es ist, die entstandene Lücke mit Kultur zu füllen. Wäre es vielleicht besser, wenn wir alle diese Lücke, diese entsetzliche Lücke erst einmal fühlen würden?

 

4.04.2020

 

Janine, Flensburg

Ich gucke auf YouTube Literaturverfilmungen der BBC wie vor elf Jahren. Damals hieß das Virus der Stunde Schweinegrippe (H1N1), aber es war noch nicht sehr weit verbreitet, jedenfalls nicht so sehr, dass Vorsorgemaßnahmen im öffentlichen Leben Thema gewesen wären. Dennoch war ich besorgt, so wie einige Jahre zuvor während des Ausbruchs der Vogelgrippe (H5N1). Ich hatte kurz zuvor die Idee gehabt, meiner Mutter ein Paar Wellensittiche zu schenken, den Käfig ins Wohnzimmerfenster zu stellen, damit sie von ihrem Bett noch etwas anderes als den Fernseher zur Unterhaltung hätte. Ich sah davon ab. Wer wusste schon, ob diese Vögel nicht durch einen dummen Zufall das Virus aufschnappen und es weitergeben würden? Es war mir zu riskant.

Im Herbst 2009 besuchte ich Freunde in London. Wir saßen in der WG-Küche in Shoreditch, die vom Vermieter streng verbotenen Katzen liefen über den Tisch, vier Stück, zwei ausgewachsene und zwei kleine.

„Wo ist D.?“ fragte jemand.

„D. liegt oben in seinem Zimmer mit Schweinegrippe“, sagte meine Freundin, die das Ganze mit Humor nahm.

Es war einfach witzig. Schweinegrippe, really?

Auf der Toilette verbrauchte ich anschließend ein Viertel der Handseife, bemühte mich, bis zum Verlassen des Hauses bloß nichts mehr anzufassen.

Zurück in München ließ ich mich mit Pandemrix impfen, aus Sorge, ich könnte mich oder jemand anderen anstecken, vor allem meine Mutter. Wenige, die ich kannte, taten das, und ich bereute es sofort, weil es mir nach der Impfung so dreckig ging, einen Abend lang Fieber und Gliederschmerzen, Schüttelfrost auch, wenn ich mich recht erinnere.

Ich wollte einfach nur alles richtig machen.

Wie ich heute weiß, nahm ich damals an einer Art Massenexperiment mit einem zu dem Zeitpunkt nicht ausreichend getesteten Wirkstoff teil, der inzwischen keine Zulassung mehr hat.

Ich bin mir sicher, dass es im Laufe dieses, spätestens mit Beginn des kommenden Jahres, einen ersten Impfstoff gegen SARS-CoV-2 geben wird. Das Virus wird nach und nach hoffentlich dorthin gehen, wo auch H1N1 und H5N1 sind, ins Viren-Exil. Aber wo ist das?

 

Fabian, München

Das Private und das Politische sind noch nicht recht abgestimmt. Ein paar Wochen lang entsprach dieses kein Bedürfnis nach Berührung, intim, undsoweiter, den Anforderungen der Verwalter der Krise an die Körper ihrer Gesellschaften; und das ist nun ein schwacher Trost für die nicht gerade sich häufenden Momente, die diesen Anforderungen gerade nicht entsprechen wollen, ohne auch nur die Kraft zu haben, oder jede Gelegenheit, sich über die Rahmungen der Verordnungen hinwegzusetzen. Gequirlte SCheiße, dann stellt er sich vor, diese Verkörperung seiner Bedürfgnisse, jemanden zu umarmen, jemandes Haut zu spüren, jemandes Atem, es fragt ja keines dieser Bedürfnisse, elementar, nach seinen Umständen, das ist okay. Andrerseits ohnehin in der Möglichkeit der Wirkung auf den Körper so idealisiert bloß, wie man sich’s nur vorstellen kann, solange das Virus noch nichts von der unmittelbaren Bedrohlichkeit erhält, die über die Schreckensnachrichten hinaus, und die Anordnungen, ins Privatleben hätte sickern können, mehr Simulakrum als, der alternative, invasive Ansatz der Umschreibung doch recht festgefahrener Realitätenbündel eines kollektiven Bewusstseins, das hinausginge, über die zahllosen persönlichen, emotionalen, ökonomischen Prekariate seiner Elemente. Schwierig, die Gedanken oder dazu mit nicht total vorhersehbaren Dynamiken zu verstehen, tradierten Krisensymptomen so vieler Filme und Romane und Zombieapokalypsen; plötzlich der großartige Witz in “Juan of the dead”, der Infizierten gemäß öffentlicher Verlautbarungen als Dissidenten wider den kubanischen Sozialismus.

 

Birte, Darmstadt

Als Weihnachten 2004 der Tsunami die Küsten entlang des Indischen Ozeans verwüstete, lag mein damals 18 Monate alter Sohn auf der Intensivstation des Kölner Kinderkrankenhauses. Wegen einer schweren Lungenentzündung rang er nach zwei Thoraxdrainagen nicht nur nach Luft, zeitweilig wurde er beatmet.

Ich habe keine visuelle Erinnerung an die Tsunami-Katastrophe, weil ich das Medienereignis nicht mitbekommen habe, als es passierte. An der kollektiven Schockerfahrung habe ich nicht teilgenommen. Aber an das Intensivzimmer erinnere ich mich sehr gut. Do not go gentle into that good night.

 

5.04.2020

 

Viktor, Frankfurt 

13 Jahre Leben passen in einen Kofferraum (Kleidersammlung, Wertstoffhof) und paar Mülltonnen (Papier, Kunststoff, Restmüll). Ich habe den Keller ausgemistet. Ich habe mich dabei von Dingen getrennt, die mich mit drei Generationen verbinden verbanden. (Ich habe jeweils ein, zwei Sachen aufgehoben, Dinge, von denen ich hoffe, dass ich sie eines Tages der übernächsten Generation übergeben kann.) Ich habe manchmal mit mir gerungen, ich musste manchmal Pause machen, abends war ich im Wald und fühlte mich Hunderte Kilo leichter.

 

Birte, Darmstadt

Große Liebe für alle, die gerade nicht schon alles wissen, keine Tips geben, die nicht das Banalste zur Weisheit erklären oder wissen, wie man durchkommt. Werde ich dabei noch plump-vertraulich geduzt, stellen sich mir alle Nackenhaare auf. Tagebuchschreiben ist eine Form der Sinnstiftung, ich hab aber gerade keinen parat. Die Tage sind gleichförmig, auf den Markt zu gehen, mit Kolleginnen zu telefonieren, ein Ereignis. Ich bin doch keine Buribunkin.

Ich mach jetzt das, was ich immer tue, wenn ich der Aufmunterung bedarf: Jovanotti ganz laut aufdrehen. Sich den Sommer überwerfen und für den Moment ist alles gut.

https://www.youtube.com/watch?v=VHcAusNO3L4

 

Nefeli, Berlin / Hamburg

The perks of being someone’s Kontaktperson. Es bleibt dabei, dass ich mich dafür dankbar schätze, nicht allein zu sein. Ich würde wohl nie rausgehen. Stattdessen habe ich gestern ein paar Sommersprossen bekommen. Wir waren im Gleisdreieck-Park. Das schaffte Normalität. Ein Stand verkaufte sogar Kuchen und S. und ich konnten das tun, worin wir vermeintlich am Besten sind: Süßes naschen, dabei Kaffee trinken.

Am Tag zuvor hatten wir beide einen sozialen Tag. Ich traf Hannah, sie erzählte mir davon, dass sie einen neuen Job hat, sie näht nun Gesichtsmasken. Ich habe direkt ein paar bestellt. Wir liefen ewig die Straße auf und ab, teilten uns irgendwann ein Stück Pizza. Auch das schien fast normal, bis auf die Tatsache, dass ich sie nicht umarmen konnte. Das wird mit das Krasseste sein, endlich alle, die ich mag, umarmen zu dürfen.

Abends dann eine WebCam/Zoom-Party. Es gab Schnaps und ein Würfelspiel. Beim Abräumen zerbrach mir ein Glas in der Spülmaschine, just in der Sekunde, als S. im Wohnzimmer zwei Gläser umkippte und ebenso zerbrach.

Und wie viele Scherben braucht es, bis wir uns alle wieder normal fühlen? Ich fordere ja noch nicht einmal das Glück heraus. Ich muss gar nicht glücklich sein. Aber mich stabil zu fühlen, das wäre doch schon etwas.

 

Slata, München

Es wird warm, keiner hält sich mehr an die Regeln, die Leute stürzen sich auf Topfblumen draußen vor dem Discounter, atmen in der Kassenschlange einander ins Genick. Auf dem Balkon hinzugekommen sind

drei Lavendelsträucher

fünf lila Primeln

zwei Kürbisembryonen

eine gelbe Rose.

Wenn das Ganze irgendwann vorbei ist, denn irgendwann muss es ja vorbei sein, wird alles wieder verdorren, in sich zusammenfallen, erfrieren, und so säen wir Sonnenblumen, Pfefferminze und Dill, gießen sie aufmerksam, jeden Tag, befühlen die Erde mit den Fingerspitzen, stellen sie morgens raus in die Sonne, tragen sie abends behutsam ins Wohnzimmer rein.

 

Nabard, Bonn

Eine Amsel sammelt Holz für ihr Nest. Eine Hummel fliegt zur Tulpe. Vögel zwitschern während die Sonne mein Gesicht und meine Brust wärmt. Ich weiß nicht was für einen Tag wir heute haben. Es interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur dass wir leben und die Natur um uns auch. Ein Windstoß pfeift mir meine Locken ins Gesicht, ich muss unbedingt einen Friseur ausfindig machen.

 

Marie Isabel, Dunfermline 

An Liefertermine von Supermärkten ist momentan kaum mehr heranzukommen. Einige Ketten räumen besonders Gefährdeten Priorität ein. Theoretisch kein schlechtes Prinzip. Wie genau sie an die persönlichen Daten der Kund*innen gelangt sind, frage ich mich. Andere Supermärkte bzw. Obst-/Gemüseboxen-Lieferdienste (etc.) nehmen keine Bestellungen von Neukund*innen mehr an. Die kreativsten und kundenfreundlichsten Lösungen finden kleinere, familiengeführte Unternehmen. Wie der Fleischerladen, der jetzt auch telefonisch aufgenommene Bestellungen zustellt, oder der Bauernhof (mit angeschlossener Bäckerei und Kaffeerösterei), der kurzerhand einen Online-Shop mit reduziertem Angebot (verschiedene Sorten Brot, Scones, Eier, Kaffeebohnen) eingerichtet hat. Kund*innen bekommen ein Tagesfenster, in dem sie die eigens für sie verpackte Ware abholen können. So machen sich mein Mann und ich (da wir autolos sind zu Fuß) auf den sechs-Meilen-Weg querfeldein und an (ansonsten dicht befahrener) Landstraße entlang. Mit Broten und Eiern (und zwei Scones) in Rucksack und Schultertasche kehren wir glücklich nach Hause zurück. Was für ein Luxus.

Statt, wie ansonsten jedes Wochenende in letzter Zeit, selbst den Backofen anzuwerfen, zeichne und aquarelliere ich Osterkarten. Für die engste Verwandschaft in Irland, Schottland, England, Deutschland. Kleine Farbtupfer der Zuneigung per Post als wiederkehrende Idee. Gleichzeitig bin ich zum Telefonieren nur bedingt aufgelegt, beantworte manche Emails erst nach Tagen, wähle sehr genau aus, wann ich wie mit wem kommuniziere. Obwohl mir Sozialkontakte fehlen. Das Paradox aufzulösen vermag ich nicht, aber vertraut ist es mir, aus meiner Chemotherapie-Zeit.

Die britische Regierung überlegt seit heute, auch sportliche Aktivitäten außer Haus zu verbieten

 

Weil es Menschen, verständlicherweise, im Frühlingssonnenschein vermehrt nach draußen zieht. Auf Twitter braut sich ein Sturm zusammen gegen die neue Beschränkungs-Idee. Sorgen um körperliche wie psychische Gesundheit werden laut. Ebenso die Frage, warum es schädlicher sein soll, Andere in frischer Luft zu umrunden als im Supermarkt. Mancher begreift diese Aufregung dagegen nicht, besonders Menschen in Italien, Spanien, Frankreich, wo die Regelungen bereits jetzt strikter sind. Wo hört, fragt eine unreflektierte Stimme in meinem Kopf, eigentlich Solidarität auf und fängt Kollektivhaftung an?

 

Fabian, München

Es ist ja nichts grade Neues, dass sich auch in der Zeit der Krise auf die durch die Gegebenheiten zwar Involvierten, aber nicht Betroffenen die psychischen Symptome nur genau so vorübergehend manifestieren oder zeigen, wie sich die Bereitschaft hält, mehr als nur die spannendsten Schlagzeilen mehr als bloß zu überfliegen, um sich so und ohne Rücksicht auf die diskursiven Folgen eine felsenfeste Meinung schon festgelegt zu haben, bevor überhaupt Zeit war, auf den Kommentarbereich zu klicken und sie abzuladen. Das wirkt so tautologisch, wie’s klingt, meistens; ein paar der Pappenheimer, oder genügend, wobei vielleicht das schon eine den Tatsachen nicht unbedingt genügende Wertung darstellt, kennt man ja schon, die da so, gefühlt, reflexhaft, die immergleichen ideologischen Fragmenthaftigkeiten in die Tasten hauen und in den immergleichen Grabenkämpfen ausufern lassen. Doch eine Form von guilty pleasure, dass es manchmal schon spannender ist, vor der Lektüre des jeweiligen Artikels in den Leserkommentaren abzutauchen. Nicht, weil’s sich besonders gut anfühlt, dass man in jeder möglichen Stellungnahme zu jeder möglichen mehr oder weniger historisierbaren Situation  die selben, oft stupenden Argumentationsmuster wiederfindet. Man kann sich ja nicht ernsthaft über die ganzen Menschen dahinter, und schon gar nicht konsequent, erhöhen, bloß weil die jeweiligen Reflexe vielen von ihnen ernsthaft dumm erscheinen lassen, und nicht ‘mal vor sich selber genügt zur Beruhigung des Unbehagens darüber die Feststellung der Invalidität jedes möglichen oder instinktiven Urteils über die Urteile der anderen, deren Erfahrungs- und Lebenswelten man nicht teilt und meistens nicht ‘mal tariert mit dem instinktiven Bewusstsein für die eigene, und dezidiert unter Anführungszeichen gedachte Fähigkeit, die, dezidiert unter Anführungszeichen, einfachen Muster zu durchschauen.

 

Sarah, München

Die Krise taugt nicht dazu, uns zu bessern. So heißt es in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung. Ja, vielleicht ist das so. Wir werden keine anderen. Und Angst lässt die viele Menschen sich ducken und nicht über sich hinauswachsen. Wie die Verteilungskämpfe um Klopapier und Schutzmasken eindrucksvoll belegen.

Und trotzdem kann ich es nicht lassen von der Revolution zu träumen. Denn Corona legt so vieles offen. Entblößt die Schwachstellen unserer Gesellschaftsordnung endlich auch für jene, die die Betroffenen und Mahner als ein bisschen überspannt dargestellt haben. Nun muss doch jeder sehen, dass die Betreuung von Kranken kein Geschäft sein sollte. Dass Alleinerziehende jede Unterstützung verdient haben. Dass Care-Arbeit ARBEIT ist. Und zwar von der härteren Sorte. Vielleicht auch, dass unser Tempo ein bisschen irre ist. In all dem Chaos, der wirtschaftlichen Probleme atmen erschütternd viele Menschen auf. Wie @mamaarbeitet.

Werden wir uns das merken? Und noch wichtiger: Werden wir uns wehren? Werden wir aufhören auf die Menschen herabzublicken, die aus Osteuropa kommen, um unsere Erdbeeren und unseren Spargel zu ernten, damit ihre Körper schinden (wer mal ein paar Stunden irgendwas geerntet hat, braucht keine weitere Erklärung), nur damit Obst und Gemüse für uns angenehm günstig bleiben? Ich hoffe es sehr. Mein Mann sagt, ich soll nicht von sowas träumen. Die Welt bleibt die Welt. Vielleicht. Aber irgendwann gab es ja auch Könige, die den Segen Gottes hatten.

Woche 5: 6. April bis 12. April

 

6.04.2020

 

Slata, München

Ich pflege feste Vorstellungen davon, was und wie Kinder nötig haben, was man ihnen anbieten, wie man ihren Tag regeln muss, Spiele im Freien, Felder, Gärten, Spielplätze, sowas, regelmäßige Projekte Wir legen ein Kräuterbeet an oder Bunte Ostereier aus Filz gestalten, ab und zu eine Waldwanderung oder ein Besuch beim Imker nebenan, viele gut gemachte Bücher, und andere Kinder natürlich. Jetzt sitzt Emil die meiste Zeit zuhause, im kleinen Zimmer mit Dachgeschossbalken, Hörbücher non stop, oder läuft im Flur mit einem Ball herum, es macht mich wahnsinnig, ab und zu gehen wir raus natürlich, solange es erlaubt ist ohne Gesichtsmaske, denn so ein Teil wird sich Emil garantiert nicht aufsetzen, aber es ist alles nicht wirklich gut, nicht zufriedenstellend, gar nicht. Auch, weil ich für mich selbst ganz andere Sachen will, als Spiele im Freien, Felder, Gärten, und Ostereier aus Filz. Kompromisse sind ätzend, sie machen mich nervös, und ich gehe den Tag lang genervt, mal verängstigt (wo enden wir nur), mal wütend (das ist doch einfach unerträglich) mit verschränkten Armen hin und her (wie Napoleon, bilde ich mir ein), merke, dass das Einzige, was ich gerade will, ein Mittagsschlaf auf dem Sofa ist.

 

Viktor, Frankfurt

Meine Mutter hatte mir vor einigen Jahren ein Kochbuch gemacht mit ihrem Essen, das mir schmeckt. Dass sie nach dem Geschenk nur noch ein paar Jahre zu leben hatte, wusste damals niemand. Ich habe seitdem ein Dutzend Mal die Bliny versucht zu machen, wie sie das für mich aufgeschrieben hatte. Der Teig war entweder zu dick oder zu dünn, er riss in der Pfanne, verbrannte an einer Stelle und war an der anderen noch roh, er schmeckte manchmal zu sehr nach Eiern und ein ander‘ mal waren die zerrissenen, halb verbrannten Bliny zu ölig.

Eigentlich sind sie nicht kompliziert zu machen. Die Pfanne darf nicht zu heiß, der Teig will immer wieder umgerührt sein, zwischen den Bliny ein Klecks Öl in die Pfanne, daneben stehen bleiben, wenn die Bläschen im Teig aufsteigen und platzen, umdrehen.

In den letzten zwei Wochen sind mir die Bliny immer gelungen.

Im Wald sehe ich Menschen, die sich offensichtlich selten in den Wald verirren. Es sind so viele, wie ich das hier noch nie erlebt habe. Die neuen Waldbesucher sind so angezogen, dass sie ständig aufpassen, nicht “dreckig” zu werden. Ein Mann hilft einem Mädchen auf eine Wurzel zu klettern, die Wurzel ist größer als das Mädchen, noch voller dunkler Erde, der Baum fiel erst vor gar nicht so langer Zeit um. Die Waldbesucher laufen auf allen möglichen Pfaden, um Distanz zu halten. Ob das dem Wald gefällt?

 

Rike, Köln

Die Soundkulisse von Deutschland hat sich verändert. Mutmaßung: überall in Deutschland hört man es jetzt vermehrt Akkubohren, Dübelbohren, Rasenmähen, Staubsaugen, feine Geräusche von Fensterputzen, das Quietschen von Gummischwamm auf doppelverglastem Veluxfenster, wenn man genau hinhorcht. Weniger Autobahnbefahrgeräusch, weniger Menschengruppendurcheinanderredegeräusch, weniger Bierglasgegeneinanderschlag oder Porzellangeschepper, keine Demogeräusche von Leuten, die die selbe Sache sagen, dafür Straßenkreidekratzen oder die schnarrenden Geräusche von Polizistenmenschen, die die Personalien von Menschen aufnehmen, die Pappschilder leise mit Thesa an Straßenzäune kleben (das Geräusch, wenn Thesa von Rolle abgezogen wird, vermehrt): „Wir hinterlassen Spuren. Evakuieren statt Ignorieren.“ Die daraus resultierenden Auseinandersetzungen – hört die irgendwer?

 

Sandra, Berlin

Ich wache in meinem schuhschachtelgroßen Arbeitszimmer auf, draußen die Stimmen von Mann und Kind, sie spielen, es ist kurz nach 7 Uhr morgens, heute wird das Kind 17 Monate alt, ich mache die Augen noch einen Moment zu. Die letzten Wochen habe ich immer wieder hier geschlafen, nach meinen Schreibnachtschichten, um mich nicht zu weit vom Text zu entfernen, die Ruhe zu halten, das Geschriebene im Kopf nachklingen zu lassen und mein Hirn nicht sofort wieder in den Mamamodus zu schalten. Auf meinem Tisch stapeln sich Notizen, auf dem Boden ein Hindernisparcours aus Büchertürmen, dazwischen das Schlafsofa. Es fühlt sich an wie Ferien.

Es ist schön, nicht allein zu leben, zu sein, in diesen Tagen, gleichzeitig ist es manchmal schwer, nicht allein zu leben. Ich bin ziemlich gut für mich allein.

Die Tage werden von den Nachrichtenmeldungen getaktet, den Essenszeiten des Kindes, den Arbeitseinheiten, den Spaziergängen und Zeiten, in denen ich mit dem Kind spiele, in denen es für sich spielt. Das Kind brabbelt in seinem hochsympathischen Alienkauderwelsch, das manchmal ein bisschen nach Hebräisch klingt, dann nach Klingonisch, dazwischen droppt es neue Worte in unserer Sprache, die wir auch verstehen, kommuniziert immer klarer, freut sich unbändig, wenn wir (wahrscheinlich denkt es: endlich!) verstehen und überhaupt freut es sich die meiste Zeit über alles mögliche, um im nächsten Moment einen Wutanfall zu bekommen, der in Sekunden wieder verfliegt. Meine Grundstimmung ist ähnlich: aufgekratzt, aufgeladen, wegen Nichtigkeiten werde ich aufgebracht.

Ich nehme meine Gedichte auf für einen Podcast, ich mache meine erste online-Lesung, beides macht mir mehr Spaß als erwartet. Ich schreibe to-do-Listen, deren to-do’s ich immer wieder neu übertragen muss, auf die nächste Liste. Für alles ist zu wenig Zeit. Die Müdigkeit, die ich seit Wochen nicht loswerde, tut ihr Übriges. Draußen tobt allem zum Trotz das Frühlingserwachen, und mir ist nach Winterschlaf. Im Rauschen der Nachrichtenmeldungen die Augen zumachen, wegdösen, nicht mehr denken, nur schlafen. Aber ich bin wacher, als mir lieb ist. Im Radio sagen Zukunftsforscher_innen, nach Corona soll es eine „neue Normalität“ geben. Wie wird diese aussehen?

Weiter als eine Woche in die Zukunft zu denken fällt mir schwer. Alles schwebt, die gemachten Pläne, die Möglichkeiten, die Ideen. Die Zeit dehnt sich, um im nächsten Moment weiter zu rasen. Ein Tagebuch sollte wohl täglich geführt werden, aber das klappt nicht, allein schon, weil manche Tage miteinander verschmelzen. Der März war lang und irre kurz. Nicht? Kommendes Wochenende ist Ostern, whatever, Feiertage waren mir immer schon egal. Ich frage mich: Wie lange wird dieser April dauern? Was davon wird uns in Erinnerung bleiben?

 

Shida

Am Telefon klingen meine Freund:innen überhaupt nicht traurig, während sie davon erzählen, dass sie gerade so oft traurig sind. Sie klingen so wie immer. Ich erzähle auch, dass es mir gerade oft nicht gut geht und klinge dabei, als würde ich von etwas Schönem erzählen. Dann sind wir uns gemeinsam einig, dass es uns ja im Vergleich auch gut geht. Heute sagt eine Freundin: „Ja. Man darf aber trotzdem traurig sein.“ und hat wie immer Recht mit allem.

Ich bin traurig. Es hat drei Wochen gedauert, bis sich dieses Gefühl breit gemacht hat, aber es ließ sich wohl nicht mehr länger hinauszögern. Wenn Menschen sich bei mir melden, bin ich traurig, wenn sie sich nicht melden, bin ich traurig, wenn sie mir nicht direkt antworten bin ich traurig und ich bin vor allen Dingen traurig, wenn ich selbst tagelang nicht antworte (was öfter vorkommt als dass man mir nicht antwortet). Ich bin traurig, wenn ich ihre schönen Gesichter in kleine Fenster gepresst in meinem Computer sehe und ich bin traurig, wenn mir Menschen erzählen, dass man die Kunst ganz toll online verfolgen kann: Lesungen, Ausstellungen, Konzerte, alles online. Ich möchte weinen, bei der Vorstellung. Nicht, weil ich das schlecht finde oder so, schön für alle Beteiligten, wirklich! Aber mir tun alle so leid, dabei. Mein dominantes Gefühl bei all diesen Lösungen per Wlan ist Mitleid.

Das Haus, in dem wir die Isolation verbringen, ist das gleiche Haus, in dem wir Silvester gefeiert haben. In einem Anflug von betrunkener Panik hat ein Freund am frühen Morgen des 1.Januars 2020 die angebrochene Torte als komplettes Stück in den Gefrierschrank gestellt, weil er der Meinung war, man müsse sie vor irgendwas retten. Wir haben ihn ausgelacht, dafür, nicht zu knapp. Wir haben den 1.Januar hinweg über Optionen, was man mit der Torte machen kann, diskutiert, weil keiner die vielen Kilometer mit einer angebrochenen, tief gefrorenen Torte zurück ins echte Leben fahren wollte. Es gab die Stimmen, die die Torte wegschmeißen wollten, was ich schrecklich fand und es gab die Stimmen, die eine besser Idee verlangten, was ich mit Schweigen beantwortete. Am Ende haben wir sie im Gefrierschrank vergessen und sind ohne sie in unser noch unschuldig lächelndes Jahr 2020 gefahren.

Ich habe die Torte heute Mittag aus dem Gefrierschrank geholt und auftauen lassen. Ich habe dabei an Frederick gedacht, die Maus, die weise nicht mitmacht, als alle anderen Mäuse Vorräte in Form von Essen sammeln, weil sie Farben sammelt, um später Geschichten zu erzählen, wenn es Winter wird. Die Torte war auch an Silvester keine besonders gute Torte, aber sie ist ein Relikt aus der Vergangenheit, eine Erinnerung an sorglose Abende mit Freund:innen.

Stunden später, am Abend, tröstet mich die Torte, obwohl ich mir unsicher bin, ob sie noch so schmeckt, wie sie schmecken sollte, aber sie harmoniert mit den drei Gläsern Rotwein, die ich in mich reinschütte, als wäre es wieder Anfang des Jahres und ich lese endlich Ocean Vuongs Roman zu Ende und als meine Lieblingsfigur stirbt (es sind immer die Lieblingsfiguren, die sterben), heule ich endlich Rotz und Wasser und bin so froh, dass ich endlich heule, es tut so verflucht gut, in aller Ruhe einmal richtig zu heulen und man heult besser, mit Torte, viel besser.

Arbeit in Unterhosen – Die Ästhetik des Privaten in Zeiten der Pandemie

Eine Kolumne Von Berit Glanz und Johannes Franzen 

 

Die Pandemie, die gerade das gesellschaftliche und kulturelle Leben überall auf der Welt lahmlegt, hat den seltsamen Nebeneffekt, dass man plötzlich Einblicke in allerlei Wohnzimmer erhält. Professionelle Kommunikation verliert ihre professionellen Raum und findet im Privaten statt, vor der Kamera im Video-Chat. In amerikanischen Comedy-Formaten wie Stephen Colberts Late Show oder Trevor Noahs Daily Show wird diese Herausforderung gleichermaßen umgesetzt und parodiert. Der Rahmen, in dem die Shows gefilmt werden müssen, ist denkbar unangenehm: Kein Publikum kann die Witze durch Lachen affirmieren und damit als Witze bestätigen. Eine gespenstische Stille folgt auf die Pointen. Diese missliche Lage wird ausgeglichen durch die ständige Inszenierung des authentisch Privaten, durch Freizeitklamotten, durch den Verweis auf Familienmitglieder im Hintergrund, durch klar identifizierbare persönliche Gegenstände. Colbert trägt in einer Folge, obwohl ihm die Zuschauer gesagt haben, dass er das nicht machen solle, einen Anzug, aber dann steht er auf, und man kann sehen, dass er untenrum nur seine Unterhose anhat.

Die Pointe beruht auf der selbstverständlich konstruierten, aber für die Funktionsweise moderner stark differenzierter Gesellschaften extrem wichtigen Unterscheidung von professionell und privat. Die plötzliche Überführung privater Komponenten in professionelle Kontexte, die zentral ist für die digitale Vernetzung der nun im Home-Office arbeitenden Kolleg*innen führt zu interessanten Formen von Selbstinszenierung und Überlegungen zu neuen Anforderungen an eine Berufsetikette. Darf ich mit meinem Boss videochatten, wenn ich unter dem Schreibtisch nur meine Pyjamahose anhabe? (Zumindest die erhöhten Verkaufszahlen professioneller Oberbekleidung scheinen in diese Richtung zu weisen.) 

Die Trennung von privat und professionell stand natürlich bereits vor der Pandemie auf dem Prüfstand. Gerade der Begriff Home-Office, der jetzt eine neue Form von Dringlichkeit gewonnen hat, war ja bereits der extreme Ausdruck einer schleichenden Auflösung dieser Grenze. Nun wird diese Auflösung als kulturelles Phänomen breitflächig in Szene gesetzt. Dabei etabliert sich eine Form der Ästhetik des Privaten im professionellen und (semi-)öffentlichen Rahmen und diese Ästhetik setzt sich aus zwei gegenläufigen Aspekten zusammen: auf der einen Seite das Private als  Form der Authentizität und auf der andere Seite das Spiel mit dieser angenommenen Authentizität durch eine Hyperinszenierung und Ironisierung. Die Authentizität des Unverstellten erscheint vor allem als eine Authentizität des Lo-Fi. Professionell – das bedeutet geschminkt, frisiert, das ist Glätte der Umgebung und gute Soundqualität. Das Private dagegen ist der Schlonz, der offene Hemdkragen, die rote Nase und der scheppernde verschleppte Sound der morgenmüden Stimme eines Menschen, der zu lange geschlafen hat. 

Dieses Authentische ist ausgestattet mit dem Kapital des menschlich Sympathischen, weil es die professionelle Kälte der spätmodernen Gesellschaft infrage stellt. Auf der Arbeit, das ist: funktionieren müssen, keine Fehler machen, die Oberfläche der Umgebung intakt halten. Das Private ist alles, was dem entgegensteht. Ein Schutzraum des Fehlerhaften. Die Wirkung, die dieses kulturelle Konstrukt besitzt, zeigte sich in der Rezeption des im März 2017 live durchgeführten Fernsehinterviews mit dem in Südkorea lebenden Politikwissenschaftler Robert E. Kelly, das auf legendäre Weise durch seine beiden plötzlich ins Zimmer stolzierenden Kinder und die panisch auf dem Boden hinterherrutschende Mutter unterbrochen wurde. Und das direkt zu einem viralen Hit und zur Inspiration zahlloser Memes wurde. Eine mediale Heldengeschichte, die eben durch den Einbruch des menschlich Sympathischen und Unperfekten in das professionelle Wertungsgefüge ihre Massenwirksamkeit erlangte. 

Im Kontext der durch die Corona-Krise verordneten Häuslichkeit gewöhnen wir uns nun immer mehr an die Vermischung privater Sphären mit professionellen Kontexten. Die dabei entstehenden unfreiwillig komischen Momente von fehlgenutzter Technik und Einbrüchen von Privatheit in professionelle Kommunikation sind dann Ausdruck einer chaotischen Wärme, die in die Kälte des Funktionierenmüssens einbricht. 

Die Verschiebung der sonst im beruflichen Kontext dominant gesetzten Selbstinszenierung des professionellen Individuums in den privaten Raum erzeugt eine Reibungenergie, die sich etwa an zahlreichen ironischen Problematisierungen dieser angenommenen Authentizität des Privaten entlädt. Denn es ist ein Irrtum anzunehmen, dass die neue Dimension des Privaten im professionellen Kontext nicht auch ganz grundsätzlich nach einer Inszenierung verlangen würde, wie man beispielsweise an den ins Home-Office drapierten Lektüren sehen kann, die einige Menschen in den sozialen Medien teilten. Politiker legen sich den aktuellen Reckwitz-Band auf den Schreibtisch ihres Home-Offices und signalisieren damit ihre eigene Belesenheit, andere ironisieren ihre Privatheit, indem sie in Chatgruppen Kostüme tragen, gezielt andere Hintergründe oder Accessoires auswählen oder sich über diese plötzlich in den Arbeitsalltag eindringenden Möglichkeitsräume amüsieren. Wir inszenieren uns immer, nehmen nicht nur in beruflichen Kontexten, sondern auch in unserem Privatleben Rollen ein. Diese komplexen Selbstinszenierungen in all unseren zwischenmenschlichen Interaktionen hat der Soziologe Erving Goffmann bereits 1956 in Wir alle spielen Theater (The Presentation of Self in Everyday Life) ausführlich analysiert.

Jedoch: Auch in diesem Fall gilt, das Private ist nicht nur inszeniert, sondern auch politisch. Denn wenn man Einblick in die Wohnzimmer anderer Menschen hat, dann hat man auch Einblick in ihren Besitzstand, oder zumindest in die nicht immer geschickt kalibrierte Art, wie dieser Besitz inszeniert wird. Im Freitag wurde über eine Debatte berichtet, die sich in Frankreich an den Corona-Tagebüchern einiger bekannter Schriftsteller*innen entzündete: Die Autorin Leïla Slimani hatte beispielsweise über den Garten im Landhaus ihrer Familie berichtet, wo sie die Quarantäne verbringt. Ihr wurde daraufhin vorgeworfen, ihren privilegierten Lebensstil auszustellen und auf einem Niveau Beschwerde zu führen, dass die viel größeren Leiden derjenigen, die es sich nicht leisten können, in ein Landhaus zu ziehen, fahrlässig ignorieren würde.

Nun ist das öffentliche Tagebuch ein Gattung, die ähnlich paradox anmutet wie der Begriff Home-Office. Eine Vermischung von zwei Sphären, die sich durch ihre Abgrenzung voneinander definieren. Und auch in diesem Fall kommt es zur Inszenierung des Nicht-Inszenierten, zur kuratierten Authentizität. Das kann, wie im Fall von Slimani, aber auch schiefgehen, wenn man den Aspekt des Öffentlichen am öffentlichen Tagebuch nicht ernst nimmt und damit die Kontrolle über den Akt der Kommunikation verliert. 

Conan O’Brian hat diese Art des kommunikativen Kontrollverlustes in seiner Show persifliert. Im T-Shirt vor einer Wand, an der ein Gitarre hängt, redet er darüber, wie Prominente den Zorn der Öffentlichkeit auf sich gezogen hätten, weil sie mit privaten Videos auf ihren schönen riesigen Häusern “out of touch” gewirkt hätten. Conan kritisiert diese unsensible Art der Protzerei und führt danach scheinbar durch sein “simple home”, das aber aus (sehr schlecht fingierten) übertrieben luxuriösen Räumen besteht (inklusive Weinkeller und Pferdestall). Der Witz beruht darauf, dass Privatheit zwar inszeniert wird, allerdings immer für den eingeschränkten Bereich der eigenen Peer-Group. Die Gefahr, dass diese Inszenierung über diesen Bereich hinausgeht, also mehr als die geplante Öffentlichkeit bekommt, wurde durch die Vermischung von Privatem und Professionellem potenziert. So können kommunikative Unfälle entstehen, die dann wiederum zu politischen Verstimmungen führen.

Was solche kommunikativen Unfälle im Grenzbereich zwischen Professionalität und Privatsphäre einerseits und die aktuelle ironische Inszenierung dieser Grenzbereiche andererseits zeigen, ist vor allem, dass diese angenommene Grenze auf ein paar liebgewonnenen Missverständnissen Konventionen und Ritualen beruht. Was die Ästhetik des Privaten, die sich notwendig im Arbeitsalltag der Pandemie etabliert, zeigt, ist nicht nur die Brüchigkeit der professionellen Oberfläche durch den Einbruch des Privaten, sondern auch die Glätte des Privaten, die durch den Einbruch des Öffentlichen irritiert wird. Man kann davon ausgehen, dass die Erfahrungen, die Menschen jetzt mit der Vermischung von privat und professionell im Home-Office machen, die Arbeitswelt verändern wird. Allerdings muss man auch davon ausgehen, dass diese Erfahrung unsere Vorstellung des Privaten erschüttern wird. Die politischen Implikationen dieser Erschütterung, einer zunehmenden Verwischung der ritualisierten Inszenierung der Grenze von Privat und Öffentlich – auch und gerade durch den Einfluss des Digitalen – dürften gegenwärtig noch nicht absehbar sein. 

 

Photo by Daria Nepriakhina on Unsplash

Magischer Realismus – “Der Wassertänzer” von Ta-Nehisi Coates

von Elisabeth Giesemann (@El_Giesemann)

 

Hiphop, Dungeons and Dragons und Comics sind die literarischen Einflüsse von Ta-Nehisi Coates. Er ist außerdem einer der produktivsten zeitgenössischen Intellektuellen der USA. Mit seinen essayistischen Büchern The Beautiful Struggle, Between the World and Me und We Were Eight Years in Power lieferte er nicht weniger als eine Basis für  aktuelle Diskussionen über die soziale, politische und ökonomische Situation der schwarzen Bevölkerung der USA.  Neben der langjährigen Tätigkeit als Autor und Journalist beim Atlantic schreibt er auch für die Comicreihe Black Panther. Nun hat er ein Buch veröffentlicht, das inmitten der Sklavenplantagen in der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg spielt. In diesem Debütroman trifft historische Recherche über das Leben eines versklavten jungen Mannes in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf Elemente des Magischen Realismus.

 

Der Roman als Teil einer intellektuellen Agenda

Das Leben des Protagonisten Hiram Walker besteht aus subtilen Erniedrigungen und offenen Grausamkeiten. Hirams leiblicher Vater ist der Inhaber einer großen Plantage in Virginia. Nachdem Hirams versklavte Mutter verkauft wird, zeigt sich früh seine außergewöhnliche Intelligenz. Noch als Kind wird er vom Feldarbeiter zum häuslichen Diener befördert, um am Ende als der persönliche Handlanger seines weißen, grobschlächtigen Bruders zu arbeiten. Trotz seines fotografischen Gedächtnisses kann er sich nicht an persönliche oder intime Momente seiner Kindheit erinnern. 

Der Roman beschreibt eindrücklich, wie der Reichtum der amerikanischen Gesellschaft auf der Ausbeutung versklavter Arbeiter basiert, diese aber systematisch unsichtbar gemacht werden. Hiram betritt das Haus, in dem der weiße Teil seiner Familie lebt, durch einen gesonderten Eingang. Der Rassismus, der das System aufrecht erhält, ist allumfassend und somit auch signifikant stärker als die wenigen Momente der Sympathie, die Hirams Vater ihm entgegenzubringen vermag.

Da die zahlreichen Äcker rings um die Plantage falsch bestellt wurden, sind der Reichtum und die Macht der Besitzer fragil. Um an Geld zu kommen, verkaufen sie regelmäßig ihre versklavten Arbeiter. So kommt es zu grausamen Trennungen von Familien. Kinder, Eltern und Geliebte werden der Plantage entrissen, ihr Verbleib ist auf immer ungewiss. Die Liebe zu einer anderen versklavten Person ist somit immer unglücklich, da sie unendlich verwundbarer macht. 

 

Humanisierung der Opfer 

Hier zeigt sich die Stärke des Formates Roman für Coates’ emanzipatorischen Gedanken. Er verzichtet größtenteils auf die übermäßige Darstellung von Gewalt, sondern fokussiert sich auf das alltägliche und das emotionale Leid der Protagonist*innen. Die Momente von Trauer und Verzweiflung werden in sanfteren Tönen erzählt, als man es von anderen Werken über die Sklaverei, wie zum Beispiel Colson Whiteheads Roman Underground Railroad oder der Film 12 Years a Slave” gewohnt ist. Es ist die Schönheit des Spiels eines Kindes oder der verliebte Blick des jungen Mannes, die den Horror und die Brutalität des Systems so klar erlebbar machen. Sehnsüchte und Hoffnungen treffen auf die krasse Willkür der weißen Sklavenhalter, die über ihr Schicksal entscheiden. 

Dieses Trauma hat sich in der afroamerikanischen Gemeinschaft über Generationen weitergetragen, genauso wie die Armut und das Leid nicht nach dem Ende der Sklaverei verschwunden sind. Ta-Nehisi Coates fordert für dieses Leid Entschädigung. In einer Anhörung vor dem Justizausschuss des Repräsentantenhauses hat Coates seine Argumentation für Reparationen im Gesetzesvorhaben HR40 vorgetragen. Darin erklärt er, wie die US-Wirtschaft von der Sklaverei profitiert und dass die Opfer und ihre Nachkommen jedoch nie entschädigt wurden. Vielmehr hat sich die strukturelle Diskriminierung über die vergangenen 150 Jahre durch die Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung nach dem Bürgerkrieg und den Rassismus in den Institutionen weiter durch das Leben der Afroamerikaner gezogen. Nach wie vor liegt das Durchschnittseinkommen einer schwarzen Familie zehn Prozent unter dem einer weißen Familie. Einer von drei schwarzen Männern in den USA verbringt im Laufe seines Lebens Zeit im Gefängnis und verliert damit das Wahlrecht. Der Rassismus durchdringt nach wie vor ausnahmslos alle Sphären des sozialen und politischen Lebens.  

 

Magischer Realismus für eine politische Vision 

Das Wasser und das Erinnern bringen den Roman von der historischen auf eine fantastische Ebene. In der Mythologie von der Befreiung der versklavten Afroamerikaner spielt Wasser eine zentrale und ambivalente Rolle. In den Werken der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison ist Wasser in Form des Mississippi Rivers eine bedrohliche und gleichzeitig befreiende Naturgewalt. William Turner hat in seinem berühmten Gemälde Das Sklavenschiff den Horror des transatlantischen Sklavenhandels dargestellt. Die Leichen der Sklaven werden darauf von der Gewalt des Meeres verschlungen. Das Bild wurde 1840 in einer Konferenz gegen die Sklaverei in der Royal Academy of Arts zum ersten Mal ausgestellt. Die Detroiter Technoproduzenten Drexciya haben ihren Namen von einer mythischen Unterwasserbevölkerung entliehen. Die Erzählung besagt, dass einst schwangere Frauen während ihrer Verschleppung vom afrikanischen Kontinent von Sklavenbooten geworfen wurden und ihre Babys auf dem Grund des Meeres gebaren. Diese Kinder, die Drexciya, haben sich dort eine eigene Gesellschaft aufgebaut. 

Auch bei Coates bringt das Wasser als Naturgewalt Bedrohung und Befreiung zugleich. Eines Tages fahren Hiram und sein weißer Bruder über eine Brücke, die unter ihnen nachgibt. Der Bruder ertrinkt, doch Hiram wird auf wundersame Weise aus dem Wasser geholt. Er erfährt, dass sein Überleben das Ergebnis einer übermenschlichen Fähigkeit war, die er von seiner Mutter geerbt hat und die ihn und andere über unmöglich große Entfernungen transportieren kann. Diese Fähigkeit der “Konduktion” wird durch starke Erinnerungen an seine Mutter ausgelöst. Hiram ist außerdem verliebt in Sophia, die ebenfalls als Sklavin auf der Plantage arbeitet. Sie wollen fliehen, doch nach dem ersten gescheiterten Versuch werden die beiden getrennt. Schließlich wird er Teil der historischen Underground Railroad in den Norden Amerikas. Dort trifft er auf Moses, eine weitere Person mit der Fähigkeit der Konduktion

Moses war auch der Codename der berühmten Sklavenbefreierin Harriet Tubman. Im Roman verschwimmen so magische Elemente mit historischen Fakten. Dieser magische Realismus hat in der afroamerikanischen sowie in der lateinamerikanischen Literatur eine lange Tradition. Insbesondere von Autoren wie Gabriel García Márquez wird das Genre oft zur politischen Subversion genutzt. Fantastische und magische Elemente fließen in die realistische Handlung ein, sodass die Grundfeste eben dieser Realität wanken. Magischer Realismus wird so zur Chance, eine neue Erzählung zu gegen eine akzeptierte, scheinbar alternativlose Realität zu stellen, und damit zum Werkzeug gegen politische Regime.

Auch in der Wassertänzer kehrt sich durch Imagination die Unterdrückung zur Ermächtigung um. Die Sklaverei erscheint vor allem den Weißen wie ein Naturgesetz. Doch Hiram und die Mitglieder der Underground Railroad können diese Naturgesetze überwinden und der übermächtige Apparat der Sklaverei wird fragil. Mit der Metapher der “Konduktion” durch das Erinnern reiht sich Coates also in eine Tradition der fantastischen Literatur ein, um das Ausweglose zu einer Realität von vielen zu machen.

Im Dialog und der Erzählung nennt der Protagonist sich selbst und andere nicht die “Sklaven”. Er spricht von “Verpflichteten”. Denn die Sklaverei, das erfährt man beim Lesen von “Der Wassertänzer”, ist etwas, das dem Menschen geschieht. Kein Mensch wird als Sklave geboren, es ist etwas, was ihm angetan wird. Doch die Sprache, die diese Unterdrückung beschreibt, reproduziert sie und schreibt sie dem Menschen zu. Und so sind es die Opfer, die sich von der Identität befreien und die Täter von der eigenen Humanität überzeugen müssen. Die Humanität, die ihnen mit dem Label “Sklave” genommen wird. Dieses Bewusstsein um die Macht der Sprache zieht sich durch Coates’ Arbeit. So hat Coates auch der weißen Hörerschaft von Rap unmissverständliche Ansagen zum Gebrauch des N-Wortes gemacht. 

Hiram findet seine Liebe und seine Freiheit auf eine unerwartete Weise wieder auf der Plantage. Die Vision der Befreiung findet so einen leisen Abschluss. Coates wurde von der amerikanischen Öffentlichkeit Pessimismus vorgeworfen und eine große Frage des Buches lässt er offen. Denn das endgültige Abschütteln der Unterdrückung bleibt auch mehr als ein Jahrhundert nach dem Bürgerkrieg eine fantastische Erzählung. 

 

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