April 2015

Mein Zeitmanagement hat Unwucht bekommen: ich finde nicht die Zeit in Ruhe zu rezensieren, aber genug um derart viele Bücher zu lesen, dass ich mal den Stapel abarbeiten muss. Wie jeden Monat daher nun der Überblick:

493Plattform – Michel Houellebecq
– Muss man das Buch gelesen haben, um bei DuMont einen Klappentext schreiben zu dürfen? –

Lange vergriffen, endlich wieder da. Ein hervorragendes Buch, hervorragend aus dem Sumpf eines überschwemmten Marktes! Was aber genau möchte mir dieser Klappentext sagen:

Auf einer Reise nach Thailand verliebt sich der frustrierte Beamte und begeisterte Pornokonsument Michel in Valérie, die wie er an die segensreiche Wirkung des Sextourismus glaubt. Gemeinsam wollen sie einschlägige Clubreisen organisieren. Doch durch ein islamistisches Attentat wird der Traum vom Glück jäh zerschlagen…

Wer bitte, der nie etwas von Roman oder Autor gehört hat, soll ein solch beschriebenes Buch kaufen? Natürlich geht es bei Michel Houellebecq auch um Sex, wer aber dieses Thema derart in den Vordergrund stellt hat das Buch nicht gelesen oder nicht verstanden, hat Houellebecq nicht gelesen oder nicht verstanden. Es geht um Sexualität, um die Beziehung von Mann und Frau in der modernen Welt, um Einsamkeit und Ängste. Plattform ist ein tief berührendes und wahres Buch, ein Roman mit Sätzen wie “Man schafft sich Erinnerungen, um im Angesicht des Todes nicht ganz so allein zu sein.” Michel vögelt, fickt und bumst viel, aber er sieht im ganzen Buch (man berichtige mich, habe ich etwas übersehen) keinen einzigen Porno, komische Begeisterung ist das. Valérie arbeitet in der Reisebranche und übernimmt Michels Ideen zum Sextourismus, Michels Anteil kann aber nicht als “organisieren” beschrieben wird. Zuletzt der islamistische Anschlag, der wirklich zuletzt, nämlich ca. nach 5/6-teln des Buches geschieht, hätte ich von diesem Twist in einer Rezension berichtet, SPOILER hätte davor gestanden. Dieser Klappentext nimmt nur die Houellebecq-Schlagwörter und wirbelt sie durcheinander: Sex, Islam, Attentat.

Valérie: “Ich mag die Welt nicht, in der wir leben.” Dürfte O-Ton Houellebecq sein. Diese Welt ist nicht abstoßend, wegen eines schlechten Klappentextes, aber der versaut mir die Laune.

686Meine Freunde – Emmanuel Bove

Victor Baton hat am 1. Weltkrieg teilgenommen und ist Invalide, mit einer winzigen Rente fristet er ein trostloses Leben in Paris. Die einzelnen Kapitel sind Abhandlungen über die einzelnen Freunde des einsamen Junggesellen. Doch keiner dieser Freunde ist ein solcher. Victor biedert sich an, schleimt und schmeichelt, doch niemand, auch nicht der Leser, mag ihn sympathisch finden. Eine deprimierende Lektüre wäre da nicht der pointierte Stil Boves, der genau beobachtet und in kurzen Hauptsätzen (Herr Schirach so geht das, denn es sind nicht nur kurze Hauptsätze!) Inneres und Äußeres seines Widerlings schildert. Die Geschichte des nach oben Buckeln und nach unten Treten.

Die Szene als Victor herausfindet, dass die hübsche Freundin seines Bekannten einen Makel hat, so abstoßend wie erheiternd:

Sie stand auf und kam auf mich zu.

Da ergriff mich Freude, so ungeheuer, daß ich stumm bleib. Das Gefühl, als ob ein warmer Hauch mein Gesicht liebkoste, ließ mich erschauern. Obwohl ich doch kaum überschwenglich bin, schlug ich Billard auf die Schulter. Trotz meiner Fröhlichkeit fühlte ich mich lächerlich, als ich die Hand zurückzog. Ich hatte Lust zu lachen, zu tanzen, zu singen: Billards Geliebte hinkte.

So sind sie die Freunde.

558Letters of Note – Shaun Usher
Ein Prachtband und Fest für jeden kulturgeschichtlich interessierten Leser, ein großformatiger Band voller Korrespondenz: Schriftsteller, Politiker, Künstler und der kleine Mann; Weltbewegendes und erheiternde Kleinigkeiten, Zorn und Liebe, Schlagfertigkeit und beleidigte Leberwürste, Rezepte, die die Queen versendet und Abschiedsbriefe, Bewerbungsschreiben und Antworten auf Fanpost. Jeder Brief ist von seinem Übersetzer in einem kurzen Notat eingeleitet und erläutert, bei jedem, soweit möglich, das abgelichtete Original abgedruckt.

721Konzert ohne Dichter – Klaus Modick
So Halbfiktionales schreiben ja jetzt alle (siehe auch Kastelau, Oona & Salinger, Pazifik Exil). Nun nimmt sich Klaus Modick, der schon, ebenfalls halbfiktional, in Sunset Lion Feuchtwanger über den Tod Brechts sinnieren lässt, Rainer Maria Rilke vor, der in der Künstlerkolonie Worpswede zu Gast ist.

Aufhänger ist das Gemälde Das Konzert (Sommerabend) Heinrich Vogelers, auf dem ein Platz leer geblieben ist, der laut Modick von Rilke eingenommen werden sollte. Anhand der Entstehung des Gemäldes zeichnet Modick eine Geschichte Worpswedes und der ersten Generationen, der dort lebenden Künstler, immer wieder (heim)gesucht von einem arg unsympathischen, überspannten Rilke.

Modick nutzt für seinen Roman zum Teil leider von allem etwas zu viel: Allegorien und Bilder, Alliterationen und Adjektive, Substantivierungen und Schnörkel. Und doch handelt es sich um eine unterhaltsame und bildende Lektüre, das Ende überraschend gut gelungen. Oder wie Modick Lichtwark über Das Konzert sagen lässt: “Die Leinwände der meisten Maler sind zwar frei von Schwächen, sind aber keine Bilder. Vogelers Bilder haben Schwächen, sind aber jedenfalls Bilder.” Das sagt 54books auch über Das Konzert ohne Dichter.

497Fuckin Sushi – Marc Degens
Fuckin Sushi klingt ziemlich banal und ist doch nicht nur die Geschichte einer hochfliegend-tieffallenden Schülerband. Es ist die Geschichte des Erwachsenwerdens, ein Coming of age-Roman mit Musik.

Niels wohnt unglücklich in Bonn und mimt in der Schule den Außenseiter. Als er René kennenlernt und sie ihre gemeinsame Liebe zur Musik entdecken, gründen sie eine Band, in der sie sich komplett in ihrer Kreativität und ihrem Sound verlieren. Mit absurden Auftritten und nicht endend-wollenden Songs erspielen sie sich eine wachsende Fanschar und stolpern am Ende doch über die Differenzen von Pubertierenden.

Könnte alles trivial, vielleicht unterhaltsam, standard sein, aber Marc Degens zaubert herrlich verstörte Jugendliche in die Geschichte, die immer weitersuchen nach der perfekten Musik, der perfekten Freundin und den perfekten Freunden. Immer weiter machen worauf man Lust hat, am besten abrentnern sofort, das Erwachsensein direkt überspringen. Weil die Leidenschaft der Band so echt ist, das Entbrennen für eine Idee und ein Projekt aus jugendlichem Übermut jedem bekannt vorkommen dürfte und doch überall die Abgründe lauern, ist Fuckin Sushi nicht trivial oder banal, durchaus aber mit Untertönen unterhaltend.

“Nein”, schüttelte Kim den Kopf. “Irgendwann wird das albern und auch zu anstrengend. Ich wollte nie mit einem Haarteil auf der Bühne stehen.

Nie ist Fuckin Sushi albern oder anstregend! Ein tolles Buch über das Erwachsenwerden und gute Musik, Freundschaft und das Abrentnern.

940Aberland – Gertraud Klemm
Mehrfach habe ich die selten, aber wenn gut besprochene, Gertraud Klemm und ihr Aberland begonnen, mehrfach abgebrochen. Die Geschichte zweier Frauen zweier Generationen, Mutter und Tochter, Franziska und Elisabeth, begann mit einer Suada Franziskas in einem Satz über vier Seiten, ach hat sie es schwer mit dem Kind und ihre Promotion kriegt sie auch nicht fertig, weil ihr Mann so wenig hilft; der Lebensplan, die Wäsche, die Windeln, Abstillen, Altersabstand, zweites Kind, Kinderärzte, Schreibaby etc. pp. Nichts für mich denke ich kurz angebunden.

Doch ich lasse mich Wochen später erneut darauf ein, sehr zögerlich, und bin überwältigt. Ja, manche der geschilderten Szenen und Figuren sind fast zu abziehbildchenhaft die Klischees der gelangweilten, nicht verwirklichten westeuropäischen Frau, aber diese gibt es eben auch genau so. Die Sorgen um den Kindergeburtstag nehmen groteske Züge an, der längst verlorene Kampf um den Ehemann mit dessen jüngerern Geliebten und natürlich weiterhin der Wunsch der modernen Frau nach Erfüllung irgendwo zwischen Kind und Karriere, nicht aber gleichzeitig den Eindruck erwecken eine schlechte Mutter zu sein, dies sind wohl (ich mag das kaum abschließend zu beurteilen) die tatsächlichen Probleme zweier (oder mehr) Generationen Frauen heute.

Ein bisschen versteht sie das Publikum, das unterhalten werden will, diese jungen Künstler sind anstrengend, Literatur ist es, und die von Schriftstellerinnen noch mehr, immer diese Autorinnen mit ihren persönlichen Befindlichkeiten, kaum geben sie etwas von ihrem Privatleben preis, frisst ihnen das Publikum aus der Hand, Selbstmitleid auf Honorarbasis, ob sich das nicht rächt, ich hätte auch Autorin werden sollen, dann könnt ich meine pummelige, komplexbelandene Mutter unter Aspik auf einem Silbertablett servieren, denkt sie, meinen notorischepolygamen Vater häppchenweise als Beilage und meinen Bruder, den Steuerfachtrottel, als Nachtisch.

Aberland ist in diesem Zitat fast komplett enthalten: Klemm sollte sich trauen mehr Punkte zu setzen, aber sie beobachtet genau und beschreibt in einem zynischen Ton auf den Punkt. Im Verlauf der Lektüre lässt es einen Schaudern wie sie auf die Welt sieht, man verzweifelt wie ihre Protagonistinnen in deren Leben aufgerieben werden und doch immer weiterstrampeln. Die Autorin schreibt in einer ganz offenen Sprache über Sexualität, Sex und Erotik, kommt dabei aber ganz ohne das zuweil Plakativ-Aufdringliche eines Houellebecq aus, dessen Pessimismus sie dagegen übernimmt. Mir wird zum Weinen als mir vorgeführt wird, dass der Rest des Lebens eines Westeuropäers nur noch darin besteht zuzusehen wie man mit dem Alter verlischt, Persönliches und Erreichtes bedeutungslos wird, bis wir dement werden, nur noch da sitzen und uns einpinkeln.

Dieses Buch ist grandios, zwischen Plattformen und Sibylle Bergs Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. Sollte ich eines der drei wiederlesen, so würde ich sofort zu Aberland greifen!

019Kommisar Lukács – Zeitschrift für Ideengeschichte (Hrsg.)
Fast nur der monthly Raddatz und doch eine doppelte Entdeckung. Georg Lukács war ein ungarischer Philosoph und Literaturkritiker. Ein könnte hier auch für der stehen, denn der Adorno des Ostens, wie Raddatz ihn in einem seiner letzten Interview nennt, gilt als wichtiger Erneuerer der marxistischen Theorien. Ursprünglich nur wegen des Interviews erworben, las ich mich fest. In diesem Magazin, das beim C.H.Beck Verlag betreut und gedruckt wird, stimmt vieles. Ausgewählte Fachleute, hier unter anderem nicht nur Zeitzeugen, sondern auch eine Schülerin Lukács’, schreiben auch für den Laien verständliche Artikel und Essays vierteljährlich zu einem Oberthema.

Sofort beginnt man querzulesen, notiert den viel gerühmten Essay Lukács’ über Balzac oder Thomas Mann, muss aber leider feststellen, dass fast alle seine Arbeiten heute nur noch schwer zu bekommen sind, beginnt darüber nachzudenken sich mal wieder mit neuerer Philosophie zu beschäftigen, der Geschichte Ungarns und so geht es in einem fort.

Zum Reinlesen mal auf der Seite der ZIG mal vorbeischauen, hier gibt es von älteren Ausgaben ausgewählte Artikel in Gänze kostenlos oder direkt beim Verlag das Abo bestellen.

008Kunst hassen – Nicole Zepter
Nicole Zepter, die designierte Chefredakteurin von Neon und Nido, hat ein Problem mit dem Kunstbetrieb.

Ausstellungen heute sind auf die Passivität des Besuchers angelegt. Sehen, staunen, nichts verstehen.

Mit dieser Ansicht steht sie, außerhalb des inner circle, sicher nicht alleine da. Einige Wenige bestimmen welche Künstler angesagt sind und hängen ihnen Etiketten um: bedeutenster, wichtigster, einflussreichster, meist kopierter XYZ seiner Generation. Der normale Besucher wird dagegen zum Laien degradiert und als dieser klein gehalten, weil man nicht offenbaren möchte, dass man etwas nicht versteht, nickt man wissend oder zuckt resigniert die Schultern.

Die Autorin seziert eine ganze Branche und zeigt deren Schwächen auf. Endlich kann jeder wissend nicken, der im letzten Quartal in einem Museum war. Dümmliche Texte, Superlative, unfreundliche Wärter, warum überhaupt Wärter, Kunstpädagogik von oben herab, Unwissen und aufgesetztes Insidertum. Flüssig liest man sich durch das amüsante Buch, doch fragt nach 2/3 wann denn nun die konstruktiven Vorschläge zum Bessermachen kommen.

Zepter schlägt vor die Wärter besser auszubilden, so dass diese den Gast zumindest ein bisschen an die Hand nehmen zu können, Anstöße zu einer anderen Form des Nachdenkens über Kunst zu geben. Hmm, das will doch moderne Museumspädagogik auch, nur dem Wachmann mal den Katalog zu lesen zu geben, wird da nicht reichen. Sie bemängelt auch die üblichen Abläufe – Pressetext, Eröffnung, Einführung, Katalog, Beschriftungen an den Werken auf bunten Wänden – doch übersieht sie hierbei auch, dass viele Besucher sich gar nicht mehr einlassen wollen, man lässt die Eindrücke auf sich einplätschern und kann hinterher behaupten im MoMA, in der Tate oder im Louvre gewesen zu sein. Nicht nur der Sender, auch der Empfänger muss umdenken.

Gegen Ende wird Kunst hassen, trotz des löblichen Ansatzes, ziemlich redundant im ewigen Vorwerfen, dass die Autorin ein Problem mit den oben zitierten Superlativen hat, ist dem Leser inzwischen bestens vertraut und wird doch noch einmal bekräftigt. Aber mit den Superlativen ist es wie mit Wiederholungen irgendwann nerven sie.

Am Ende, weil weder Zepter noch mir des Rätsels Lösung eingefahllen ist, bleibt es wohl auch in Zukunft häufig bei der Aussage, die ein Hamburger Kunsthallen-Besucher dort ins Gästebuch schrieb: “Für 9 Euro Eintrittsgeld kaufe ich mir lieber einen Besen.”

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

Kommentare sind geschlossen.