Das Leben als Champignon braucht viel Zeit

IMG_20140430_104900Wie bespricht man einen Gedichtband? Im Notfall, denke ich bei mir, kann ich das ausgefallene, wirklich gelungene, Design des Buches loben und mich so aus der Affäre einer Besprechung ziehen. Denn genau dieses hat mich auf den Gedichtband Gestalt des letzten Ufers von Michel Houellebecq neugierig gemacht. Dieser, immer wieder, Skandalautor ist mir als großer zeitgenössischer Autor Frankreichs wohl bekannt, gelesen habe ich ihn nur noch nicht. Durch die Verfilmung von Elementarteilchen, wenn nicht abgeschreckt, doch zumindest sensibilisiert, reagierte ich in Unwissenheit immer mit latenter Ablehnung auf das Ouevre. Doch gibt es in meinem näheren Bekanntenkreis zumindest zwei Freunde (u.a.), die mir immer wieder Houellebecq Lektüre ans Herz legen. Mit diesem Band schlage ich jetzt zwei Fliegen mit einer Klappe: Gedichte sind kurz, ich habe danach einen Houellebecq gelesen und bei Missfallen oder falls ich nichts zu sagen weiß, kann ich den Kopf mit dem Designtrick aus der Rezensionsschlinge ziehen. Schnell gelesen, einfach rezensiert.

Was wie blauer Buchschnitt scheint, ist ein Teil des eingeklappten Klappentextes. Vom schwarzen Einband heben sich blaumetallisch Titel und Autor ab. Allein die Idee dieser Klappe schafft es mich bei jedem Öffnen des Buches zu begeistern. Eine scheinbar so einfache, verspielte Idee, die auf mich durchaus Eindruck zu machen weiß. Soviel nur zum Design, wir müssen über anderes reden!

Die Sprache erscheint mir zunächst etwas holprig. Am denkbar Weitesten davon entfernt die französische Sprache zu sprechen, erkenne ich in der zweisprachigen Ausgabe doch, dass die Übertragung des Sprachflusses merklich Schwierigkeiten bereitet, kaum können auch die Reime Houellebecqs hinübergerettet werden, die Zeilen werden teilweise sehr sperrig. Die ersten Gedichte rauschen komplett an mir vorbei, ich könnte nach zwei Minuten nicht mehr sagen, was ich gerade noch las. Doch dann gleitet mein Blick immer wieder auf die linke, die französische, Seite und ich versuche ein wenig des Originals zu verstehen und gleiche dann mit der rechten, deutschen, Seite ab. Dann lese ich den Text laut, sicher sehr falsch vor, doch mein radegebrechtes* Et que je dorme un peu, wird von meiner Freundin aus dem Off tatsächlich als als Irgendwas mit ein bisschen schlafen erkannt. Ich muss aufstehen und mir Klebezettel besorgen.

IMG_20140430_104829

Peu á peu, wie wir Franzosen sagen, klebe ich das Buch voll. Auf einmal kann ich in jedem noch so kurzen Vierzeiler eine Sentenz entdecken, die mich entzückt. Erst widert der Zyklus mémoires d’une bite mich an. Denn auch wenn ich selbst dazu neige mich flappsig, teilweise sogar vulgär zu auszudrücken, kann ich mit Lyrik, die mich mit “Die Männer wollen alle nur den Schwanz** // gelutscht bekommen” vor den Kopf stößt nichts anfangen. Doch gerade die Gedichte dieses Kapitels finde ich inzwischen besonders gelungen. Ich war angewidert, jetzt bin ich begeistert. Häßliche Menschen mit kleinen Schweinsgesichtern im Supermarkt der Körper oder im Zug von Stuttgart nach Zürich. Das Apophthegma unserer heutigen Welt, der moderne Mensch (oder Mann?), respektive Westeuropäer in nuce: Einsamkeit, Angst vor dem Tod, Sex und die Suche nach einem Menschen, der uns versteht. Michel Houellebecq spielt mit der Form des Textes, zieht sprachlich und gestalterisch Zeilen in die Länge und erzeugt trotz geraffter Sprache viel größere Räume als sonst ein einzelner Satz vermag. Auf der nächsten Seite zerreißt er diese im Staccato wieder. Houellebecq fragt und klagt an, er zeigt Probleme auf und gibt doch zu sie selbst nicht lösen zu können. Alle seine Gedichte bringen den Leser dazu darüber nachzudenken wie viel des Beschriebenen im eigenen Leben, in der eigenen Person zu finden ist.

Isolement – Abschottung erzeugt in nur vier kurzen Stophen genau dieses Gefühl, die acht Zeilen über einen Friedshofbesuch, nein allein die letzten vier, könnten mich, auf dem falschen Fuß erwischt, zum Weinen bringen. Unweigerlich schafft es dieser Sprachkünstler, dass man fröstelt und sich fürchtet. Nicht wie bei einem Horrorfilm oder einer Spukgeschichte, er rüttelt vielmehr an den Urängsten eines jeden, statt nur Possen zu spielen. Fast will man ihn sich zynisch lachend über das Schicksal der anderen vorstellen und sieht ihn dann doch ebenso hilflos diesem großen Nichts gegenüberstehen. Vielleicht will er uns sogar ein bisschen an die Hand, die Angst, nehmen. Kein Kitsch, knallharte Realität, die einem nie vorher so sehr ans Nervenkostüm ging.

Houellebecq schreibt in einem der Gedichte (Je m’excuse pour cette rime bien plate). – (Das reimt sich nicht so gut, pardon). – diese Gedichte brauchen keine Reime und ich keine Exitstrategie um diesen Band zu besprechen: Genau so stelle ich mir moderne Lyrik vor! (In einem schönen Buch.) Selten haben mich Gedichte derart berührt.

*Im Ernst, ich hab das im Duden nachgesehen: “Obwohl radebrechen vom unregelmäßig gebeugten Verb brechen abgeleitet ist, wird es dennoch regelmäßig gebeugt.”
** Abgesehen davon, dass es wohl bis zur Auslöschung der deutschen Sprache kein Wort für das männliche Geschlecht geben wird, bei dem man sich nicht wahlweise schämen und/oder schütteln muss. Vielleicht mal das Thema für eine germanistische oder literaturwissenschaftliche Dissertation, für deren Zweitbegutachtung ich mich an dieser Stelle selbst empfehlen möchte.

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

Kommentare sind geschlossen.