Kategorie: Feuilleton

Wir und die Anderen – Das Feuilleton im Social Reading

von Vera K. Kostial (@vkostial)

 

In Zeiten von Social Distancing ist Bücherlesen die  risikoärmste Freizeitbeschäftigung. Doch Literatur als Flucht aus der realen Welt, als rein ästhetisches Erlebnis, Literatur um der Literatur Willen also, ist aktuell eher nicht in Mode. Literatur ist wieder politischer geworden, sie politisiert sich wieder, wie wohl spätestens in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre allgemein übereinstimmend festgestellt wurde. Allein ein Blick auf die großen Feuilleton-Debatten des letzten Jahres zeigt: Wirklich bewegt hat die Literaturwelt das, was an der Schnittstelle von Literatur und Politik passiert ist. Takis Würgers Roman Stella wurde direkt bei Erscheinen zum Skandal und löste eine hitzige Debatte darüber aus, was Fiktion in Bezug auf die Shoah eigentlich darf.

Ganz anders stellte sich die Frage nach den Grenzen der Fiktion bei Robert Menasse, der diese weit über historische Tatsachen hinaus zur besseren Untermauerung seiner politischen Message ausdehnte. Uwe Tellkamps neuer Roman riecht schon vor Erscheinen nach Skandal und wirft erneut die Frage auf, inwiefern sich die politischen Ansichten des Verlags von denen des Autors unterscheiden dürfen. Und ob gewisse politische Ansichten mit dem Nobelpreis vereinbar sind, darum ging es im Fall Peter Handkes.

Diese Debatten waren sehr unterschiedlich strukturiert – Skandalereignisse, die mal vom Autor, mal vom Werk, mal von der Institution Literaturpreis ausgingen; unterschiedliche Diskurse, deren Dynamiken man wunderbar aufdröseln kann. Oder man kann erst einmal festhalten: Es geht in all diesen Fällen immer um handfeste Politik. Keine Plagiate, keine Persönlichkeitsrechtsverletzungen, sondern konkrete politische Themen hielten und halten das Feuilleton in Atem. Und das mag dann wirklich noch die allerletzten Zweifel an der gesellschaftlichen Relevanz von Literatur ausräumen. Anhand von Literatur werden Zeitgeschehen und gesellschaftliche Debatten gespiegelt. Die wichtige Frage ist allerdings: Interessiert das außer uns eigentlich irgendjemanden? Uns, die Literaturschaffenden, -vermittelnden, -analysierenden und -kritisierenden, kurz: die sogenannte ‘Literaturbubble’ oder anders, der Literaturbetrieb. Was ist mit dem Teil der literarischen Öffentlichkeit, der außerhalb dieser Filterblase steht, Leser:innen, die keinen literaturbetrieblichen oder -wissenschaftlichen Hintergrund haben, also in keinem professionellen Kontext mit Literatur zu tun haben? Werden die Feuilleton-Debatten in dieser Leser:innenschaft wahrgenommen oder weiterdiskutiert?  

Social Reading-Plattformen wie LovelyBooks, Goodreads etc. versprechen ein virtuelles gemeinsames Leseerlebnis für genau diese Zielgruppe nicht-professioneller Leser:innen. Professionell Lesende sind natürlich nicht ausgeschlossen, kennzeichnend für “Deutschlands größte Buchcommunity” LovelyBooks ist jedoch das niedrigschwellige Angebot für alle User:innen, Rezensionen zu verfassen, Bücher auf unterschiedliche Art zu bewerten und in der Community zu diskutieren. 1,5 Millionen Leser:innen nutzen nach LovelyBooks-Angaben monatlich die Plattform. Und so ist LovelyBooks bestens geeignet für einen Blick aus der Bubble heraus, um festzustellen, ob nicht-professionelle Leser:innen teilnehmen an dem, was das Feuilleton bewegt, oder ob sie ein gänzlich anderes Gespräch über Literatur führen. Ist das Social Reading eine Art Laien-Feuilleton, wo die dortigen Diskussionen weitergeführt werden, oder doch ein Paralleluniversum? Dem möchte ich hier nachgehen anhand der Leser:innen-Bewertungen zweier Bücher, die 2019 in der Literaturkritik für Aufruhr gesorgt haben: Robert Menasses Die Hautpstadt und Takis Würgers Stella

Den oder die prototypische:n User:in, so viel vorab, gibt es auf LovelyBooks nicht, vielmehr lassen sich drei unterschiedliche Schwerpunkte der Literaturrezeption feststellen. Eine Tendenz zum delectare (Lektüretyp 1) oder aber zum prodesse (Lektüretyp 2), abgeleitet von der horatischen Formel, Dichtung müsse unterhalten und/oder nützlich sein, oder aber eine bewusste Auseinandersetzung mit der professionellen Literaturkritik (Lektüretyp 3). 

Lektüretyp 1, Delectare: „Bewegende Geschichte – Muss man unbedingt lesen!“, schreibt User:in KuElKrk zu Stella. Und erklärt weiter: „Man spürt die Angst und man stellt sich immer wieder die Frage, wie können Menschen anderen Menschen so viel Leid antun.“ Mit dieser Art von Bewertung ist KuElKrk nicht allein. Wiederholt ist von Emotionen während der Lektüre die Rede, deren Ausbleiben von der Userin StephanieP bemängelt wird: „Takis Würgers Schreibstil ist nüchtern und beschreibend, wodurch mich leider keine Emotionen erreichen konnten.“ Der Account gst hingegen war von Stella „emotional sehr berührt“; ebenso „sehr berührt“ fühlt sich FreizeitPrinzessin: „Es wird nie leichter etwas über diese schreckliche Zeit zu lesen, hören oder zu sehen. Wir können alle froh sein das nicht selber miterleben zu müssen. Das Buch regt zum nachdenken an: würde ich das selbe tun wie Stella? Wie würde ich handeln?“

Es geht für diese Leser:innen also um eine identifikatorische Lektüre. Das Lesen muss Emotionen hervorrufen und muss die Figuren nicht nur nachvollziehbar, sondern nachfühlbar machen. „Gegen Ende war es schwierig zu entscheiden, wen und was man schließlich mochte“, schreibt BuecherweltenBummlerin. Emotion in Form eines Berührtwerdens durch die Lektüre und Identifikation in Form von Nachfühlbarkeit und Sympathie, das sind die zwei Zutaten für Leselust: Ich und das Buch.

Lektüretyp 2, Prodesse: Lernen durch Lesen – dieser Rezeptionsmodus lässt sich auch bei Stella beobachten, findet sich in Reinform aber bei Robert Menasses Roman Die Hauptstadt. „Robert Menasse erzählt auf spannende Weise wie es in Brüssel, genauer der Europäischen Kommission, zugeht. Dabei lernt man viel über Politik und auch über andere Mitgliedsstaaten“, so beurteilt AlexandraK den Roman. Ähnlich schreibt Alexlaura, es sei „sehr spannend hinter die Kulissen der Behörden zu sehen und dass auch hier nur normale Menschen tätig sind, die wie alle auch ihre persönlichen Schicksale haben“. Die Bewertungen dieser beiden User:innen reihen sich ein in viele weitere, die Menasses Roman vor allem für eines loben: die politische Bildung, die sie als Leser:innen erfahren; mehr noch, die unterhaltsame politische Bildung. Damit wären prodesse und delectare doch wieder vereint, wobei dem delectare aber eine andere, weniger emotional und identifikatorisch aufgeladene Funktion als bei Typ 1 zukommt. 

Dass Menasses Buch auch wirklich Bildungsarbeit leisten kann, dafür wird von mehreren Rezensent:innen seine Recherchearbeit in Brüssel als Beleg angeführt. Der Autor war vor Ort, er hat sich also informiert; und diese Tatsache verleiht ihm in den Augen vieler Leser:innen eine Autorität und Glaubwürdigkeit in der Wissensvermittlung. Zusätzlich erfolgt häufig eine Übertragung des Literarischen in den realen Bereich der Politik. Viele User:innen positionieren sich proeuropäisch zu Menasse. Dass die eigentliche Geschichte in Die Hauptstadt Fiktion ist, wird als unterhaltendes Element der politischen Bildung gutgeheißen. Ganz ähnlich bei Würger: „Geschichtlich wirkt das Buch gut recherchiert und ich denke, dass der Autor die historischen Fakten lange und ausführlich studiert hat. Die Vermischung aus Fiktion und Fakten finde ich wirklich gelungen“, schreibt StephanieP.

In diesem Typus der Literaturrezeption offenbart sich ein Wunsch nach Erklärung und Einordnung politischer Sachverhalte durch einen als Experte wahrgenommenen Autor. Interessant ist mit Blick darauf die Rezension des Accounts Alais, für den „[d]ie einzige Enttäuschung“ an Die Hauptstadt war, dass die Figur Armand Moens erfunden ist; „da dieser aber zu jenen Menschen gehört, die man unbedingt erfinden müsste, wenn es sie nicht gäbe, finde ich es umso besser, dass Menasse das für seine Leser übernommen hat.“ Dass Menasse neben dem fiktiven Ökonomen auch Zitate des sehr realen Walter Hallstein erfunden und bekanntermaßen nicht nur in Die Hauptstadt, sondern auch in als faktual gekennzeichneten Texten eingebaut hat, findet in der LovelyBooks-Community keinerlei Erwähnung.

Lektüretyp 3, Wir und die anderen: Sehr wohl setzt man sich in den Rezensionen zu Menasse aber mit der Verleihung des Deutschen Buchpreises auseinander, und diese Auseinandersetzung ist symptomatisch für einen dritten Typus des Lektüreverhaltens auf LovelyBooks: die selbstbewusste Positionierung zum Literaturbetrieb. Viele User:innen stimmen der Preisvergabe in ihren Rezensionen ganz dezidiert zu, andere sind nicht vollkommen überzeugt: „Mein Leserherz blutet – wollte ich diesen Roman doch eigentlich in den Himmel loben“, schreibt MikkaG (vier Sterne). „Nicht nur hat es den Deutschen Buchpreis gewonnen, nein: der Autor wirkte bei der Verleihung so charmant verblüfft und überrumpelt, dass ich bereit war, sein Werk zu lieben. Stattdessen muss ich mich damit begnügen, dass ich es ‚nur‘ gut finde…“. Und Pongokater, der fünf Sterne vergibt, schreibt: „Originell ist es nicht, dieses Werk von Robert Menasse zum ‚Roman des Jahres‘ zu erklären. Aber unvermeidlich.“

Der Buchpreis zeigt sich hier als wichtige Richtschnur zur eigenen Positionierung – was allerdings auch ex negativo funktionieren kann: „Literaturpreise sind mir in meiner Auswahl der Lektüre nicht besonders wichtig, da ich oftmals nicht finde, dass prämierte Romane besser sind als andere“, schreibt Petris. „Mir ist bewusst, dass die Kriterien der Juroren andere sind als meine. Ich lese schon mit hohem Anspruch und wünsche mir ein gewisses Niveau, aber mich muss eine Geschichte in erster Linie fesseln, berühren oder auch irritieren.“ 

Eine solche bewusste Abgrenzung von der professionell literaturkritischen Wertung findet sich auch in Bezug auf Stella: „Ich schätze es nicht, wenn mir das Feuilleton vorschreiben möchte, wie ich ein Buch zu bewerten habe und gehe gerne unvoreingenommen an eine Lektüre heran, bilde mir meine eigene Meinung“, schreibt leselea in ihrer positiven Bewertung des Romans. Strukturell ähnlich, aber mit entgegengesetztem Ergebnis argumentiert Stephan59. An den vorhergehenden Debatten „will ich mich nicht beteiligen, sondern nur darüber etwas schreiben, wie der Roman auf mich gewirkt, was ich dabei gedacht und empfunden habe.“ Und auch kruemelmonster798 bezieht die Lektüre, die „mit etwas Abstand“ zu dem „Medienrummel“ erfolgt sei, ausschließlich auf sich selbst: Das Buch habe ihn:sie „sehr berührt“, und die Entscheidung über die Angemessenheit der Geschichte müsse jede:r Leser:in für sich selbst treffen.

Ein konkretes Leser:innen-Selbstverständnis kommt in diesen Bewertungen zum Ausdruck. In Relation und Abgrenzung zu den Feuilleton-Diskussionen wird eine eigene Meinung gebildet, wodurch eine bewusste Identität als Laienleser:in etabliert wird. Dies kann man einerseits als gemeinschaftsstiftend interpretieren – die Gemeinschaft der Laienleser:innen bei LovelyBooks. Gleichzeitig sind die Bewertungen aber, besonders im Falle von Stella, sehr auf das eigene subjektive Leseerlebnis bezogen. Dennoch wird bei beiden Büchern ein politischer Mehrwert für die Gesellschaft betont, indem die jeweilige Thematik als wichtig eingestuft wird. 

Und dann gibt es noch Leser:innen, die nach bestimmten Strukturen hinter den Rezeptionsprozessen suchen, die sie beobachten. Da wird im Falle von Stella eine „Hetzkampagne“ vermutet oder aber ein von Würger selbst initiierter „Marketing-Trick“. Ähnlich wird bei Menasse vermutet, er habe Die Hauptstadt speziell an die Vorlieben der Buchpreis-Jury angepasst. Diskussionen solcher Art können durchaus auch im Feuilleton stattfinden; gewagter ist da schon die Hypothese von Userin ronja_waldgaenger, die EU-Kommission habe Die Hauptstadt zur „Imageverbesserung“ schreiben lassen. „Das Feuilleton wäre begeistert, der Autor würde mit Preisen überhäuft und am Ende würde die gute Geschichte des europäischen Friedensprojektes wieder in den Herzen und Köpfen der Menschen ankommen.“ Diese Hypothese sei, so lenkt die Rezensentin gleich ein, „– so steht zu hoffen – vermutlich am weitesten von der Realität entfernt“, zeige aber die unklare Gattungszuordnung von Menasses Text – „Roman“ oder „Aufklärungs- und Erziehungsschrift“.

Durchaus ernsthaft wird eine solche Unterwanderung von Literaturpreisen an anderer Stelle diskutiert: in der Kommentarspalte zu einer Rezension der Hauptstadt im Tagesspiegel, die bezeichnenderweise in der Sparte Politik erschien. Roland Freudenstein, seines Zeichens EVP-Politiker und in Sachen Literaturkritik somit auch Laie, ignoriert die Gattungsbezeichnung Roman und wettert gegen Anti-Nationalismus und Menasses „fest geschlossenes, links-westeuropäisches Weltbild“. „Klingt nach politisch gewolltem Bestseller!“, kommentiert Holmichhierraus. Buchpreise seien ganz eindeutig moralisch aufgeladen und würden „links-einseitige Bücher“ propagieren. Aber: „Die Leser merken das doch!“ Und die Amazon-Rezensionen zeigten eindeutig: Die Hauptstadt sei gar nicht so gut. Eilfertige Zustimmung findet dieser Kommentar durch ralf.schrader: „Der Deutsche Buchpreis ist seit der Jahrtausendwende mit solchen Machwerken wie Der Turm genau so der Literatur entfremdet und der politischen Agitation des Westens untergeordnet, wie der Literatur- Nobelpreis.“

Dass Der Turm nun mit linker Unterwanderung des Literaturbetriebs in Verbindung gebracht wird, vermag die Paradoxie dieser verschwörungstheoretisch anmutenden Behauptungen noch um eine Umdrehung zu steigern. Sie zeigen einen Extremfall von Literaturrezeption: Die Denkweise des ‚Wir gegen die da oben‘, die mittlerweile so strukturgebend für den politischen Diskurs des rechten Rands ist, wird hier in das Feld der Literatur überführt. Die Literaturpreise werden als feindliches Anderes etabliert, dessen Intentionen seitens der Gemeinschaft der Lesenden durchschaut würden, die dann in einem anderen Medium – Amazon-Rezensionen – die ‚falsche‘ politische Haltung des Romans sanktionieren würden. 

Solche Extremfälle finden sich – zumindest bei den gesichteten Beispielen – auf LovelyBooks nicht, was wiederum ein interessantes Spezifikum der Social Reading-Plattform verdeutlicht. Tatsächlich sind die User:innen dort offenbar mehr buch- und weniger debattenfixiert. Im Falle von Stella wird zwar auf die Feuilleton-Diskussionen eingegangen, die gingen allerdings direkt mit Erscheinen und somit Lektüre des Buchs einher. Debatten, die weit nach Erscheinen des betroffenen Buchs oder Gesamtwerks ihren Anfang nahmen, werden auf LovelyBooks nicht abgebildet: Der Hallstein-Skandal und die Diskussion um Tellkamp finden dort keinen Niederschlag, auf die Nobelpreisvergabe an Peter Handke geht lediglich eine Rezension ein. Direkte Reaktionen auf Feuilleton-Artikel gibt es zu diesen Debatten allerdings durchaus; zum Falle Tellkamps verzeichnet ein einziger Zeit-Artikel von Ende Januar 91 Kommentare. Sie nehmen als Laienkritik im Rahmen und als Reaktion auf ein Medium der professionellen Kritik eine Art Zwischenposition ein.

Spezifisch für die Social Reading-Plattformen sind auch die ganz unterschiedlichen Arten der Literaturbewertung, die hier vereint werden. Neben den Rezensionen erfüllt die moderierte „Leserunde“ zu Stella sicherlich noch einmal andere Bedürfnisse. Die Antwort jedenfalls auf die Frage, wie viel Feuilleton im Social Reading steckt, liegt erwartungsgemäß im Dazwischen: Weder die einigermaßen elitäre Annahme, die Feuilleton-Debatten würden nur die Literatur-Filterblase selbst ansprechen, noch die ebenso elitäre Annahme, dass sich natürlich alle Leser:innen dafür interessierten, trifft zu; stattdessen zeigt sich bei LovelyBooks ein ganz eigenes Lektüreverhalten mit unterschiedlichen, sich überschneidenden Tendenzen: selbstbewusste Positionierung zum Feuilleton, der Wunsch nach unterhaltsamer politischer Sachinformation, das Bedürfnis nach ‚einfach nur Literatur‘  – und wohl einfach die Freiheit zu lesen, wie man möchte.

 

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Fragilitäten – Gedanken über den unabhängigen Buchhandel

von Isabella Caldart (@isi_peazy)

What a difference a day makes. Ein Songtitel, der wörtlich zu nehmen ist: Es ist kaum mehr als zwei Wochen her, da bekam ich den Auftrag, einen ausführlichen Artikel über den florierenden unabhängigen Buchhandel in den USA zu schreiben. Was für ein toller Auftrag, was für eine Freude, darüber zu schreiben!

Denn nach Jahrzehnten der Amazon-Dominanz (und davor von Ketten wie Barnes & Noble) hatte dort in den letzten Jahren eine Gegenbewegung eingesetzt. Vor allem in ländlicheren Gegenden, in denen es bisher außer über Amazon nicht möglich war, bequem an Bücher zu kommen, hatten neue Buchhandlungen eröffnet. Nicht selten übrigens durch die Unterstützung der Locals, die etwa via Crowdfunding dafür sorgten, dass ihr Ort wieder um eine Buchhandlung bereichert wurde – wie Lark & Owl in Georgetown, Texas. Unabhängige Buchhandlungen boomen, hieß es überall. Passend dazu rief eine Buchhändlerin 2014 in Kalifornien den Independent Bookstore Day ins Leben, der ab 2015 jeden letzten Samstag im April USA-weit gefeiert wurde.

Eine erfreuliche Entwicklung, über die ich sehr gerne berichtet hätte. Passend dazu wäre ich heute vor zwei Wochen nach New York geflogen, eine Stadt mit einer unglaublich vielfältigen Indie-Buchhandlungs-Szene. Erst im Mai 2017 hatte Books Are Magic in Brooklyn eröffnet, eine Buchhandlung, die sich nicht zuletzt dank des auffälligen und sehr instagrammable Graffiti an der Häuserwand größter Popularität erfreute. Ebenfalls in Brooklyn stand die deutsche Buchhändlerin Susanne König kurz davor, ihre dritte Filiale der Powerhouse Arena zu eröffnen, im Mai wäre es soweit gewesen. Und nachdem Book Culture auf der Upper West Side (wegen Misswirtschaft) im Januar ohne Ankündigung von einem Tag auf den anderen schloss, kündigte kurz darauf der Strand Bookstore an, im März die Buchhandlung zu übernehmen. Es ist nicht lange her. Es fühlt sich sehr lange her an.

Als ich den Auftrag bekam, den Text über die florierende Indie-Buch-Szene zu schreiben, war Corona hier bereits angekommen, die Leipziger Buchmesse abgesagt. Und doch war das Virus in vielen Köpfen noch nicht präsent, auch ich war noch dabei zu verarbeiten, dass es sich hierbei nicht um ein temporäres, mehr oder weniger zu ignorierendes Phänomen handelte. Ich konzentrierte mich auf meinen Flug nach New York – in den USA war, so schien es, so wollte ich es glauben, Corona eh noch kein Problem. Am Abend vor unserem Abflug dann diskutierte ich mit meiner Freundin: Sollten wir wirklich fliegen? Die Entscheidung verschoben wir auf den nächsten Morgen. Sie wurde uns in der Nacht von Trump abgenommen, der einen Einreisestopp für alle Europäer*innen verhängte. Wir wären gerade noch reingekommen. Und sogar darüber dachten wir noch kurz nach, so absurd das im Rückblick klingt. Aber eigentlich war schon da klar, dass es keinen Sinn machen würde.

Jetzt sitze ich hier, habe den Artikel abgesagt. Nicht nur, weil auf meine E-Mails, die ich, peinlich berührt schon beim Verfassen, in den letzten Tagen verschickt hatte, keine Antwort kam. Sondern vor allem, weil ich keine Antwort erwartete. What a difference a day makes. Die boomende Indie-Szene in den USA ist tot, das kann man, selbst wenn man diesen Text ohne Frust schreiben würde, kaum beschönigender ausdrücken. Sie ist innerhalb weniger Tage komplett zusammengebrochen. Das ist schrecklich für die Buchbranche, die Indie-Szene, die Buchhändler*innen, die jetzt vor dem Nichts stehen. Dass die USA in jeder Hinsicht instabilere Sozialsysteme haben, wissen wir. Und so kam es, wie es kommen musste; die Buchhandlungen, die wegen Corona schließen mussten, entließen von einem Tag auf den nächsten reihenweise ihre Mitarbeiter*innen, es blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Schrecklich für die Entlassenen, die zumeist nur bis zum Ende der jeweiligen Woche bezahlt werden.

Besonders hart hat Corona New York getroffen, wo mehr als die Hälfte der in den USA bekannten Corona-Fälle verzeichnet sind. McNally Jackson, eine SoHo-based Buchhandlung, die 2018, 2019 und, oh, the irony, erst vor drei Wochen je eine neue Filiale eröffneten, verkündete vergangene Woche, alle Mitarbeiter*innen entlassen zu müssen. Am Wochenende war es beim Strand Bookstore, der größten und bekanntesten Indie-Buchhandlung der USA, soweit: 188 Mitarbeiter*innen wurde gekündigt, nur 24 können fürs Erste gehalten werden. Im ganzen Land sieht es nicht anders aus. „Mein Herz bricht für uns alle“, schrieb die Inhaberin von Powell’s Books in Portland in einem offenen Brief. „Ich kann nur hoffen, dass wir auf der anderen Seite dieser schrecklichen Zeiten einen Weg finden, wieder zusammenzukommen.“ Innerhalb weniger Tage war die Buchbranche, die sich in den letzten Jahren ganz neu erfunden hatte, zerstört.

Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust auf Schwarzmalerei. Sie ist nicht produktiv, sie hilft niemandem, macht nicht glücklich, gibt keine neuen Impulse. Schaut man in andere Länder, in denen das Sicherheitsnetz etwas weniger fragil ist als in den USA, sieht man durchaus interessante Entwicklungen. In England, so dokumentiert der Guardian, liefern Buchhandlungen per Fahrrad oder gar Skateboard aus und bieten das, wofür sie als Kontrast zu Amazon immer gelobt wurden: persönliche Beratung, teilweise gar ein offenes Ohr fern von Lektüretipps. In Spanien versucht man ebenfalls, alternative Wege zu finden. Erst am 21. März vermeldete El País, dass vier der größeren Buchhandlungen in Barcelona mehr als 800 Mitarbeiter*innen (temporär) entlassen mussten. Womöglich, steigt man auch hier auf Fahrradlieferungen um. Kundenservice also als Neuerung: Wer einmal versucht hat, in einer spanischen Buchhandlung, wie man es hierzulande gewohnt ist, ein Buch zu bestellen, wird nur irritierte Blicke geerntet haben.

Dass Amazon in Deutschland Bücher als nicht essentiell eingestuft hat, deren Lieferung bis April aussetzt und lieber auf die neue Währung Klopapier setzt, könnte auch hierzulande ein entscheidender Faktor sein. Viele Käufer*innen erkennen zum ersten Mal, dass lokale Buchhandlungen eigene Onlineshops haben oder an größere Shops (mit fairen Bedingungen) angegliedert sind, dass Bestellungen per Telefon, E-Mail oder Instagram abgesetzt werden können und diese teilweise mit dem Fahrrad noch am selben Tag geliefert werden. Und innerhalb kürzester Zeit haben einige Buchhandlungen gezeigt, dass sie kreativ und innovativ sein können und um den Einfluss von Social Media wissen. In einem Artikel im Börsenblatt zählt Torsten Woywod verschiedene Aktionen auf, die sich Buchhändler*innen spontan haben einfallen lassen, darunter individuelle Beratung per FaceTime oder die Vorstellung von Novitäten auf IGTV.

Doch nicht alle sind so innovativ. In meiner Heimatstadt Frankfurt fällt mir keine Buchhandlung ein, die eine gute Onlinepräsenz hätte.
Dabei kann genau das entscheidend sein: Online, vor allem auf Instagram, durch Inhalte überzeugen, durch die Vorstellungen von Büchern, Blicke hinter die Kulissen und, essentiell für die persönliche Bindung die Mitarbeiter*innen zeigen. Buchhandlungen, die wissen, wie man sich digital präsentiert, sind über die regionalen Grenzen hinaus bekannt. Bekanntheit zahlt keine Miete, klar. Aber wenn es darum geht, welche Buchhandlungen überleben werden und welche nicht, wenn Support gefragt ist, der sich vor allem auf einer emotionalen Ebene (hier sind wir wieder bei der persönlichen Bindung) abspielt, kann eine guter Onlineauftritt an genau diesem Punkt entscheidend sein.

Stichwort Support: Auf sämtlichen Medien riefen Verlage, Buchhandlungen und Kulturinstitutionen dazu auf, jetzt erst recht den lokalen Buchhandel zu unterstützen, ein Appell, der, fragt man Buchhändler*innen im ganzen Lande, auch ernst genommen wurde, die Läden und Telefonleitungen brummten in der vergangenen Woche. Es ist ein Trend, der sich unbedingt etablieren und vom Trend zum Habitus werden muss, damit es den unabhängigen Buchhandel, wenn wir irgendwann aus diesem Albtraum aufwachen, noch gibt. Es gilt, das eigene Konsumverhalten zu überdenken. Kein origineller Gedanke, und doch scheint er noch immer nicht bei allen angekommen zu sein. Damit Buchhandlungen eine Chance haben, zu überleben, sind neben dem Rettungsschirm, den Monika Grütters am Dienstag präsentierte, zwei Faktoren wesentlich: Die bereits erwähnte soziale Bindung – und Zeit. Ein vager Faktor, der nicht von Individuen beeinflusst werden kann. Privatpersonen wie Restaurants, Kinos oder Buchhandlungen rufen dazu auf, Gutscheine zu kaufen, um kleinen Geschäften das Überleben zu sichern. Doch das kann nicht auf ewig gut gehen. Wie lange wird es dauern, bis die Leute aufhören, Gutscheine zu kaufen, weil sie es vergessen, weil sie bereits genug zu Hause rumliegen haben, weil sie sie sich aus eigenen Geldprobleme nicht mehr leisten können oder weil sie die Befürchtung haben, diese wegen Insolvenz nicht mehr einlösen zu können?

Jetzt einen optimistischen Schluss für diesen pessimistischen Text finden, um keine Weltuntergangsstimmung zu verbreiten? Ich bemühe mich darum. Ich bemühe mich darum, den Mut nicht zu verlieren, nicht die Hoffnung, den Glauben daran, dass die Kneipen, Cafés, Arthaus-Kinos und unabhängigen Buchhandlungen auch Post-Corona noch existieren werden. Aufgeben ist keine Option. Ein müdes Motto. Aber zu mehr bin ich nicht fähig. Was die nächste Zeit bringt, wer will da schon Prognosen abliefern? Jeden Tag gibt es neue Entwicklungen, neue Eilmeldungen. Es ist eine merkwürdige Gleichzeitigkeit vieler Dinge, die sich widersprüchlich anfühlen. Das subjektive Zeitempfinden vieler. Die Zeit jetzt fühlt sich so bleiern an, und noch bleierner, die immer gleich ablaufenden Tage ziehen sich in die Länge, während an jedem Tag so viel passiert, dass diese Informationen nur schwer zu verarbeiten sind. Oder, um es mit den Worten von Roxane Gay zu sagen: Every day is a month now.

 

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Mein Zorn ist längst verraucht – Vor fünfzig Jahren starb Marlen Haushofer

Von Nicole Seifert

 

Lieber Herr Weigel!

Ich antworte gleich auf Ihren Brief, damit Sie sich auch nicht die geringsten Sorgen meinetwegen machen müssen. Ich bin sehr froh, daß Sie so aufrichtig zu mir sind. Daß ich ein recht schwerer Fall bin, weiß ich ja selber auch. Es stimmt nicht, daß ich nicht idyllisch sein will. Ich möchte sehr gern, aber das wäre gelogen. Gerade diese Mischung von Dämonie u. Idylle, auf die ich unentwegt stoße, bereitet mir das größte Unbehagen u. fasziniert mich zugleich. Vielleicht wäre es meine Aufgabe gerade das glaubwürdig zu gestalten. Wahrscheinlich fehlt mir dazu die dichterische Kraft. Oder ich müßte einmal ein paar Monate allein sein u. Ruhe haben.

Marlen Haushofer war zweiunddreißig und hatte noch nichts veröffentlicht, als sie ihrem Mentor Hans Weigel am 23. Juli 1952 diesen Brief schrieb. Er hatte das Manuskript ihres ersten Romans gelesen, der, wie Weigel später berichtete, davon handelte, „daß irgendwo einige Frauen sind und es auf sorgsam ausgeklügelte Manier schließlich dazu bringen, daß ein Mann von ihnen umgebracht wird, ohne daß sie als Täterinnen belastet sind. Ende des Romans. Der klassische ungesühnte Mord.“ Weigel riet Haushofer aus Vorsicht, den Roman nicht zu publizieren. Er ist bis heute verschollen. Vermutlich hat Haushofer ihn – wie viele ihrer als misslungen oder zu privat erachteten Texte – verbrannt.

Dass sie sehr wohl die dichterische Kraft hatte, über Dämonie und Idylle zu schreiben, selbst ohne ein paar Monate Ruhe, beweisen die fünf Romane, zwei Novellen, drei Erzählbände und mehrere Kinderbücher, die sie anschließend veröffentlichte. Marlen Haushofer zählt nicht zu den vergessenen Autorinnen – ihr Werk ist lieferbar, wenn auch verteilt auf mehrere Verlage –, aber den ihr gebührenden Rang nimmt sie nicht ein. In den Literaturgeschichten fehlt ihr Name weitgehend, taucht höchstens in separaten Frauenliteraturgeschichten auf.

„Es muß einmal gesagt werden, Marlen Haushofer hätte es weiter bringen können.“

Das schrieb die Autorin selbst in ihrem „Nachruf auf eine vergeßliche Zwillingsschwester“, einem so selbstironischen wie beklemmenden Zeugnis ihrer inneren Zerrissenheit. Die von ihr konstruierte Doppelgängerin geht streng mit der Autorin ins Gericht, zählt zahlreiche Schwächen auf und enttarnt das Bild der natur- und kinderlieben Schriftstellerin als ein für die Öffentlichkeit produziertes Image. Der Zwiespalt, der hinter diesem Kunstgriff steckt, dürfte in dem Versuch gründen, in einer österreichischen Kleinstadt der Fünfziger- und Sechzigerjahre zwei miteinander unvereinbare Leben zu führen: das der Autorin und das der Mutter und Ehefrau. Dass sie schrieb, sahen ihr Mann und ihre Söhne nicht gern, es sollte den Familienalltag nicht beeinträchtigen. Also tat sie es mit Hilfe von Cola und Kaffee morgens zwischen halb fünf und halb sieben oder abends zwischen neun und Mitternacht, und fuhr nur gelegentlich nach Wien, um andere Schriftsteller*innen zu treffen.

1954 wurde sie eingeladen, bei der Tagung der Gruppe 47 in Italien aus ihrem noch unveröffentlichten Roman Eine Handvoll Leben zu lesen. Die Novelle Das fünfte Jahr war inzwischen erschienen und Haushofer mit dem Staatlichen Förderungspreis für Literatur ausgezeichnet worden. Zu dieser Reise kam es jedoch nicht – vielleicht ein Grund dafür, dass „‚die Haushofer’ auch heute noch so gar nicht als Zeitgenossin von ‚der Bachmann’ wahr- und ernstgenommen“ werde, wie Daniela Strigl in ihrer Haushofer-Biografie schreibt. Ingeborg Bachmann, die viel reiste und deutlich mehr Ehrgeiz und Formwille an den Tag gelegt habe, sei Ende der Fünfzigerjahre schon berühmt gewesen. Haushofer dagegen lebte als Zahnarztgattin und Mutter zweier Söhne in Steyr ein bürgerliches Leben und äußerte sich immer wieder in dem Sinne, keine Freude an einem gelungenen Buch zu haben, „wenn ich das Gefühl hätte, mich meiner Familie gegenüber nicht genug bemüht zu haben“. Man könne nicht zwei Herren dienen, und „der lebende Mensch“ habe für sie immer Vorrang. Strigl zufolge war das jedoch auch eine gute Ausrede, um absolute Ansprüche gar nicht zuzulassen:

Indem sie ihr Werk bewußt zur ‚Hausfrauenprosa’ stilisierte, hat Marlen Haushofer sich von vornherein einer weiblichen Autorenschaft verschrieben und sich, anders als Ingeborg Bachmann, die männliche Rolle nie angemaßt. Andererseits hat sie sich so auch nie dem Gesetz des männlichen Genie-Ideals unterworfen. Ihre legendäre Bescheidenheit diente ihr als Schutzschild gegen allzu große Erwartungen, sie war Ausdruck einer Verweigerung.

Es gibt aber auch Aussagen von Haushofer, die das Schreiben viel höher werten und es über die Familie stellen. „Eigentlich kann ich nur leben, wenn ich schreibe u. da ich derzeit nicht schreibe, fühle ich mich versumpft u. ekelhaft“, schrieb sie 1967 in ihr Tagebuch. Oder: „Wenn ich vorher gewußt hätte, daß Schreiben mein Lebensinhalt ist … hätte ich vielleicht keine Kinder bekommen.“

Schutzraum und Käfig

Betrachtet man diese widersprüchlichen Aussagen für sich, scheinen ihre Prioritäten jeweils klar – zusammen betrachtet bedeuten sie einen Konflikt, der jeden Tag von Neuem bestimmt werden muss. Haushofers Figuren trachten immer danach, die lästigen Pflichten hinter sich und Abstand zwischen sich und die Familie zu bringen. In Eine Handvoll Leben verlässt die Protagonistin Mann, Kind und Liebhaber mittels vorgetäuschtem Selbstmord, um ein freies, unabhängiges Leben zu beginnen. Die Protagonistin in Die Mansarde, Haushofers letztem Roman, verlagert ihre „unbürgerlichen Ausschweifungen“ in ihre Dachkammer, die die anderen nicht betreten. Dort zeichnet sie und denkt ihre „Mansardengedanken“. So ist schön säuberlich getrennt, was hierhin und was dorthin gehört:

Ich habe einen bürgerlichen Mann geheiratet, führe einen bürgerlichen Haushalt und muss mich entsprechend benehmen. … Dinge und Gedanken, die mein Mansardenleben betreffen, haben nicht in das übrige Haus einzudringen.

In fast allen Büchern von Marlen Haushofer finden sich Frauen in der Einsamkeit wieder oder suchen einen Ort für sich, sei es innerhalb der Familie oder außerhalb von ihr. Sie suchen einen Rückzugsraum, der für Freiheit steht und das Leben erst erträglich macht, einen Überlebensraum. Um die Ordnung aufrechtzuerhalten, wird das dort stattfindende eigene Leben jedoch weggeschlossen, wird die Kreativität domestiziert, durch Putzzwang und andere sich ständig wiederholende eintönige Tätigkeiten bezwungen, „eine Art Austreibungsritual“ schreibt Marlene Krisper in ihrem Essay über Marlen Haushofer. Haushofers Figuren führen ein Leben zwischen Anpassung, Widerstand und Resignation. In der Novelle Wir töten Stella heißt es:

Mein Zorn ist längst verraucht, geblieben ist nur das Grauen, das mich ganz beherrscht und in dem ich wohne wie in einem verhassten Raum. Es ist in mich eingedrungen, es hat mich ganz durchtränkt und begleitet mich überallhin. Es gibt keine Flucht.

In Die Wand, Haushofers eindringlichem opus magnum, das sie selbst am gelungensten empfand, wird das Bild des eigenen Raums konsequent zu Ende gedacht. Die Protagonistin, die mit ihrer Cousine und deren Mann ein Wochenende in einer Jagdhütte verbringen wollte, findet sich plötzlich allein im Tal, vom Rest der Welt durch eine durchsichtige Wand abgeschlossen, hinter der alles tot ist. Abgeschnitten von der Menschheit und ihrem gewohnten Leben, ist sie zurückgeworfen auf die Gesellschaft der Tiere, die mit ihr diesseits der Wand sind, und auf die Erprobung ihrer archaischen Fähigkeiten, ohne die sie nicht überleben können wird. Sie ist radikal auf sich gestellt und muss lernen, autonom zu leben. Und das gelingt. Die Wand, die jede Flucht unmöglich macht, ermöglicht zugleich erst das Überleben, ist in ihrer Bedeutung also hochgradig ambivalent. Das verschont gebliebene Tal, der eigene Raum, ist Schutzraum und Käfig zugleich, es gibt kein Entrinnen.

Tief empfundene Ausweglosigkeit

Nicht wenige Rezensent*innen verurteilten den Roman bei seinem ursprünglichen Erscheinen 1963 aus moralischen Gründen: weil Gott darin keine Rolle spiele und der Erzählerin die anderen Menschen gar nicht wirklich fehlten. Clara Menck fiel in der FAZ die Unfähigkeit zu lachen der Ich-Erzählerin auf, die sie zu der Frage veranlasste, „ob Menschen ohne erotische Begabung nicht immer humorlos sind“. Die Rezensentin weiß aber, unter welchen Umständen „eine gute Erzählung daraus“ hätte werden können, nämlich wenn sich Marlen Haushofer von Anfang an von ihrem Thema oder Objekt distanziert hätte.

Größeres Aufsehen als die Originalausgabe erregte die Neuausgabe von Die Wand im Jahr 1983, die die Autorin nicht mehr miterlebte. Der Roman wurde nun im Kontext der atomaren Aufrüstung, der Friedens- und der Frauenbewegung gelesen, als Science Fiction und als Emanzipationsgeschichte. Auch diesmal fällt eine Besprechung auf, in der es in erster Linie um Außerliterarisches geht. Christa Kickbusch schrieb in der taz:

Es ist bedauerlich, daß nur wenige schreibende Frauen […] positive spielerische Fantasien entwickeln. Die meisten Autorinnen sind noch dabei, sich die Wunden zu lecken, die nur eine naßkalte Einsamkeit absondern, und nur selten Milch und Honig. Und es ist ebenso bedauerlich, daß ein Großteil der Verlagsproduktion die Tendenz ‚Frauenleben als Frauenleiden’ weiterhin perpetuiert, nur selten durchbrochen von starken unverschämten, humorvollen Frauenbüchern, von denen es doch auch mehr geben muß. Ich zumindest kann mit der Richtung ‚unser Leiden ist die letzte Stärke, die uns noch geblieben ist’ nichts anfangen, […] Leiden hat für mich nur Sinn, wenn es Bewältigung, Ansatz zu einer Veränderung ist. Solche Bücher wie M.H’s. Die Wand machen mich traurig und ängstlich, irritieren und betäuben mich in ihrer Auswegslosigkeit.

Dass gerade die Ausweglosigkeit die tief empfundene Lebenswirklichkeit von Haushofers Protagonistinnen ist, will hier nicht gesehen werden; dass Resignation und Depression zu bestimmend sind, um die für einen Aufbruch nötige Energie aufzubringen. Frauen sollen nun gefälligst stark, unverschämt und humorvoll sein und auch so schreiben. Es scheint eine Notwendigkeit zu bestehen, sich von dem bei Haushofer beschriebenen Lebensgefühl zu distanzieren, von Geschlechterrollen, die man in den Achtzigerjahren überwunden zu haben glaubt. – Vielleicht auch ein Grund dafür, dass Marlen Haushofer nicht den ihr gebührenden Platz in der Literaturgeschichte einnimmt.

Für die Autorin war die Wand, wie sie in einem Interview sagte, „eigentlich ein seelischer Zustand, der nach außen plötzlich sichtbar wird.“ Andere erkannten deshalb in Haushofers geschilderten Seelenzuständen ein Urbild der conditio humana und verglichen ihre Texte mit denen von Kafka und den Existenzialisten, vor allem mit Albert Camus.

Verschweigen und Verdrängen

Der Kontext von Haushofers Schreiben waren eben nicht die Achtzigerjahre, sondern die unmittelbare Nachkriegszeit, was nicht nur starre Rollenbilder bedeutete, sondern auch die Tabuisierung der jüngsten Vergangenheit und das kollektive Verdrängen erlebter Traumata. Die Antithese von Verdrängen und Erinnern zieht sich denn auch durch Haushofers Werk; mehr als einmal werden etwa alte Briefe gefunden und verbrannt, die Vergangenes lebendig werden lassen. In diesen Zusammenhang gehört auch die 1955 entstandene Novelle Wir töten Stella, die als eins von Haushofers Meisterwerken gilt.

Stella ist die neunzehnjährige Tochter einer Freundin, die für einige Monate bei der Familie der Erzählerin Anna unterkommt – eine schwierige Situation, weil ein anderer ja „die unzähligen Tabus“ nicht kennt, „die wir im Umgang miteinander beachten müssen.“ Nachdem Annas Mann Stella verführt und geschwängert, eine Abtreibung veranlasst und die Affäre beendet hat, wirft Stella sich vor einen Lastwagen und stirbt. Der Erzählerin ist bewusst, dass ihre Rolle dabei keine passive war, dass auch sie Schuld trägt an diesem Tod, diesem Mord. Im Psychogramm dieser bürgerlichen Familie spiegeln sich die Kriegserlebnisse und das Verdrängen der Nachkriegsgesellschaft, auf das sich zahlreiche Anspielungen finden lassen. Für beide Bezugsrahmen gilt, wie Daniela Strigl schreibt: Wer gute Miene zum bösen Spiel macht, entscheidet sich für lebenslange Gefangenschaft.

In ihrem eigenen Leben entschied sich Marlen Haushofer immer wieder, einschneidende Ereignisse zu verschweigen. Mit zwanzig wurde sie schwanger und bekam das Kind 1941 in einem Heim für ledige Mütter. Ihren streng katholischen Eltern verheimlichte sie diesen Sohn, der zunächst von der Mutter einer Freundin aufgezogen wurde. Drei Monate nach der Niederkunft heiratete sie Manfred Haushofer, der den „Fehltritt“ akzeptierte. Zwei Jahre später kam der gemeinsame Sohn Manfred zur Welt. Erst, als ihr Erstgeborener sechs war, holte sie ihn zu sich, lernten die beiden Söhne sich kennen und lebten von da an die Normalität einer Familie. Die Wahrheit erfuhren sie erst als erwachsene Männer, nach dem Tod der Mutter.

Auch dass ihre Eltern sich zwischenzeitlich hatten scheiden lassen, weil Marlen Haushofer eine Affäre ihres Mannes nicht hinnehmen wollte, erfuhren die Söhne erst spät und durch Zufall. Weil der Vater nicht hatte ausziehen und die Mutter für sich und die Kinder ebenfalls nichts Eigenes hatte suchen wollen, lebten sie weiterhin zusammen und heirateten später sogar erneut – weil man „in Steyr nicht geschieden sein“ könne, wie Haushofer einer Freundin sagte. Dabei hatte von der Scheidung dort überhaupt niemand gewusst.

„Diesen ungebrochenen Weg des Verschweigens, Verdrängens und Sublimierens geht Marlen bis zum Tag ihres Todes“, schreibt Marlene Krisper. Den Knochenkrebs, der 1968 diagnostiziert wurde, nannte sie „verflixte Verkalkung“ und nach vierunddreißig Bestrahlungen schrieb sie ihrem Verleger, der Prozess sei gutartig und sie sehr glücklich davongekommen. Auch ihren Kindern und ihrem Mann verschwieg sie, dass sie unheilbar krank war. Dieser wusste längst Bescheid, beschloss aber seinerseits, darüber zu schweigen. Echte Nähe, echter Austausch schien keine Möglichkeit zu sein. „Wir sitzen hier und spielen eine Szene, die nicht ganz stimmt, die aber doch ein guter Ersatz ist für die wirkliche Szene, die nie gespielt wird“, heißt es in Die Mansarde.

Auch Haushofers Figuren stellen sich taub und blind, wenden sich ab, suchen das Gespräch mit dem Gegenüber nicht, äußern Gefühle nicht und nehmen sie nicht wichtig – eine Härte gegenüber anderen und sich selbst, die unauflöslich verbunden ist mit ihrer existenziellen Einsamkeit. Vielleicht ist es das, was Haushofers Werk so faszinierend macht. Dass es eben nicht um abseitige, spezielle Befindlichkeiten geht und schon gar nicht nur um eine Psychosoziologie des Hausfrauendaseins in den Fünfzigerjahren, nicht mal nur um die innere Verfasstheit der Kriegsgeneration – sondern um den Kern menschlichen Seins. Obiger Brief an Hans Weigel aus dem Jahr 1952 endet mit den Worten:

Ich steh auf einem Platz, auf den ich nicht gehöre, lebe unter Menschen, die nichts von mir wissen u. die Hälfte meiner Kraft geht schon auf, in der Anstrengung die es mich kostet unauffällig zu bleiben. Je älter ich werde, desto klarer sehe ich, wie hoffnungs- und ausweglos wir alle verstrickt sind und ich bin froh für jeden, der nie zu Bewußtsein kommt.

Marlen Haushofer starb am 21. März 1970 in einem Wiener Krankenhaus, drei Wochen vor ihrem fünfzigsten Geburtstag.

 

 

Von Marlen Haushofer

Das fünfte Jahr

Eine Handvoll Leben

Die Tapetentür

Wir töten Stella

Die Wand

Himmel, der nirgendwo endet

Schreckliche Treue, Gesammelte Erzählungen

Die Mansarde

Der gute Bruder Ulrich: Märchen-Trilogie

 

Über Marlen Haushofer

Andreas Brandtner, Volker Kaukoreit (Hrsg.), Marlen Haushofer, Die Wand: Erläuterungen und Dokumente, Leipzig: Reclam, 2012.

Markus Bundi, Begründung eines Sprachraums: Ein Essay zum Werk von Marlen Haushofer, Innsbruck: Limbus, 2019.

Anne Duden, Irmela von der Lühe, Manuela Reichert (Hrsg.), „Oder war da manchmal noch etwas anderes?“, Texte zu Marlen Haushofer, Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik, 1995.

Marlene Krisper, Das ordentliche Leben der Marlen Haushofer: Ein Essay, Steyr: Ennsthaler, 2010.

Daniela Strigl, „Wahrscheinlich bin ich verrückt …“ Marlen Haushofer – die Biografie, Berlin: List, 2007.

Liliane Studer (Hrsg.), Die Frau hinter der Wand, Aus dem Nachlaß der Marlen Haushofer, München: Claassen, 2000.

Viruskompetenz – Über das Lesen und die Angst

von Solvejg Nitzke

„Ein schwimmender Sarg.  Und keiner darf von Bord. Im Hamburger Hafen läuft das Kreuzfahrtschiff ‚Große Freiheit‘ ein. An Bord: Ein toter Passagier – verstorben an einem geheimnisvollen Virus. Bald herrscht Panik in der Stadt. Kriminalkommissar Adam Danowski, der eigentlich am liebsten am Schreibtisch ermittelt, wird an den Schauplatz beordert. Er kommt einem Verbrechen auf die Spur, das noch unzählige Tote zu fordern droht. Doch das unter Quarantäne gestellte ‚Pestschiff‘ darf keiner verlassen, selbst Kommissare nicht, und Danowskis Gegner sorgen mit aller Macht dafür, dass dies so bleibt…“ (Klappentext: Treibland von Till Raether, 2014)

Man mag von Klappentexten halten, was man will. Gerade ihre oft lose Beziehung zum Inhalt des beworbenen Buchs ist für kulturwissenschaftliche Analysen der Beziehung von Fakt und Fiktion aufschlussreich. Virus, Panik, (zukünftige) unzählige Tote, (unsichtbare) Gegner und drei vielsagende Punkte – all das sind Signale, die nicht nur auf den Text gemünzt sind, den sie beschreiben sollen, sondern auch darauf, möglichst viele Anknüpfungspunkte zur (Lese-)Erfahrung der angesprochenen Leser*innen zu bieten. Darin könnte angesichts der Angst vor Covid-19 auch ein Problem liegen, denn die gleichen Reizworte dominieren nun einen Diskurs, der aus den Fugen zu geraten scheint. 

Till Raethers Kriminalroman Treibland, der erste Fall des Hamburger Kommissars Adam Danowski, bietet auch jenseits des Klappentextes zahlreiche Anknüpfungspunkte. Ein Kreuzfahrtschiff unter Quarantäne hat im Februar auch im Kontext der Angst vor dem sogenannten Corona-Virus Schlagzeilen gemacht. Die Schutzmaßnahmen, denen Danowski und seine Kolleg*innen genügen müssen, ebenso wie die Kommunikations- und Informationswege erscheinen vertraut. Nicht zuletzt der Unwille des Protagonisten, sich allzu intensiv mit dem Virus und allem, was damit zusammenhängt, zu beschäftigen, erinnert wahrscheinlich die meisten Menschen an sich selbst.

Es wäre allzu einfach, zu zeigen, dass und wie die Diskrepanzen zwischen Klappen- und Romantext ersteren als konventionellen Werbetext und letzteren als ausgesprochen geschickte Variante des klassischen locked room mystery auszeichnen. Als Literaturwissenschaftlerin könnte ich etwa meine Expertise bereitstellen, um Reibungspunkte aufzuzeigen und nachzuweisen, dass das alles „nur“ Fiktion ist und sich in diese oder jene Tradition einreiht. Doch genau diese Diskrepanzen zwischen Text und Paratext werden gerade wieder einmal zum produktiven Kern einer Gegenüberstellung von Fakt und Fiktion. Eine Gegenüberstellung, die alles andere als harmlos ist, denn sie stellt Berechtigung und Kompetenz der Fiktion, von Wirklichem zu sprechen, in Frage. Virennarrative müssen sich einmal mehr den Vorwurf gefallen lassen, Panik zu schüren, Ängste und Ressentiments zu verstärken. Sie werden auf höchst problematische Weise zu Akteuren einer Parallelwirklichkeit, in der der Weltuntergang hinter jeder Ecke lauert.

Ist es also fahrlässig, es sich gerade jetzt mit einem Buch gemütlich zu machen, das von einem tödlichen Virus handelt? Zum Lesen eignet sich die aktuelle Situation zweifellos, denn wie ließe sich Ansteckung besser vermeiden als allein auf dem Sofa? Aber darf man sich ausgerechnet jetzt, da so viele Menschen krank sind und noch viel mehr unter der Angst vor der Infektion leiden, gerade an so einem Szenario weiden? Sind es nicht genau solche Texte, die Panik schüren, weil sie falsche Erwartungen wecken und unangebrachte Vorstellungen über den Umgang mit hochansteckenden Krankheiten verbreiten? 

Natürlich darf man lesen, was man will und wann man will. Aber die Frage in welchem Verhältnis Leseverhalten oder Fiktionskonsum (es gäbe ja auch den ein oder anderen Pandemiefilm, von Zombie-Serien ganz zu schweigen) und Angstreaktion stehen, gewinnt in diesem Moment wieder an Bedeutung. Was also, fragt etwa Johannes Franzen, „wenn es wie jetzt zum realen Ernstfall kommt: Ist unser Blick aufs tatsächliche Geschehen möglicherweise getrübt durch Bilder und Stimmungen aus all diesen Erzählungen?“ Spielt es eine Rolle, dass die Bilder der akuten Situation „scheinbar vertraute Ausnahmesituationen“ erzeugen? 

Die Fragen nach der Rolle des Erzählens von Erfundenem reichen weit in die Kulturgeschichte zurück. Platons angebliche Verdammung der Dichter – sie lügen! – klingt heute (als einflussreiche kulturgeschichtliche Figur) wieder in der Kritik an mangelnder wissenschaftlicher Akkuratesse literarischer Texte an. Oscar Wildes Diktum „life imitates art“ (und nicht andersherum) stellt nur eines unter vielen selbstbewussten Statements dar, mit dem sich Literat*innen und Künstler*innen gegen das Gebot der Mimesis, der Nachahmung der Natur, zur Wehr setzen. Romantik, Realismus, Avantgarden – gerade die moderne Literatur lässt sich als eine Kette von Verhandlungen über die Rolle der Kunst lesen und  (auch das wird gerade offensichtlich) diese Fragen sind noch keinesfalls beantwortet. Gefragt wird nach dem Zweck der Literatur: Soll sie „nur“ unterhalten, soll sie lehren, soll sie gar qua Katharsis für eine emotionale Grundreinigung sorgen? Oder ist sie autonom und nur für sich selbst da? Gefragt wird nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion, das immer dann zum Problem wird, wenn nicht (mehr) klar ist, wer die Deutungshoheit über bestimmte Phänomene oder Ereignisse beanspruchen kann. Man könnte ganze Forscher*innenkarrieren mit diesen Fragen zubringen… Kann also die Beschäftigung damit überhaupt in einer konkreten Situation weiterhelfen? 

Diesen Grundsatzfragen wird man nicht sinnvoll begegnen, indem man – ob von natur- oder literaturwissenschaftlicher Seite – einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit Lesekompetenzen oder Unwissenheit unterstellt. Vielmehr wird hier möglich, wovon Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen sonst kaum zu träumen wagen: Vielleicht lässt sich beobachten, dass und wie Fiktionen tatsächlich Wirklichkeit beeinflussen. Das ist, darauf weist Franzen zurecht hin, auch ein unheimlicher Gedanke: Er weckt „die Angst davor, Jugendliche könnten durch die fiktiven Taten zu realen Verbrechen verführt werden. Oder die Befürchtung, Menschen könnten abstumpfen, gegenüber tatsächlichem menschlichen Leid.“ 

Übrigens steckt darin auch die Angst, das junge Frauen ein Dasein als „damsel in distress“ ebenso für normal halten könnten, wie junge Männer sich ausschließlich als Helden oder Bösewichte verstehen könnten. In der Möglichkeit, dass Fiktion Wirklichkeit beeinflusst, steckt aber auch Potenzial. Es wird auch (wieder) denkbar, dass Fiktionen Haltungen auf eine positive Weise beeinflussen – eine Hoffnung die gerade in ökologisch orientierten Erzählungen eine besondere Rolle spielt – und dass Fiktionen Diskussion darüber auslösen, in welchem Verhältnis all die Diskurse und Institutionen stehen, die an der Produktion von Wirklichkeit teilhaben. 

Die oft zunächst implizite Behauptung, Romane, Filme und Spiele trügen dazu bei, dass Menschen sich von potenziell vernunftbegabten Individuen in eine unkontrollierbare, weil panische Masse verwandelten, wird immer öfter zum expliziten Vorwurf, je näher eine (empfundene) Bedrohung rückt. Das betrifft nicht nur das Thema der Pandemie, sondern ein ganzes Cluster an (Zukunfts-)Szenarien, deren ‚Management‘ in der Wirklichkeit allzu katastrophische Darstellungen im Weg stünden. Dazu ließe sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive einiges sagen. Wie vielfältig die gegenwärtige Katastrophenlust in der Forschung bearbeitet wird, lässt sich in Stefan Willers Forschungsbericht nachlesen.

Mich interessieren vor allem der gegenseitige Inkompetenzvorwurf der ‚zwei Kulturen‘ und seine möglichen Konsequenzen für die Kommunikation wissenschaftlicher und kultureller Tatsachen oder vielmehr, der Zusammenbruch der Unterscheidung. Der Vorwurf besteht banalerweise darin, dass Fiktionen nichts von den wissenschaftlichen Fakten und Wissenschaftler*innen nichts von Fiktion verstehen. Mehr ist es nicht. Damit behaupten jedoch beide Seiten eine so grundsätzliche Inkompetenz der anderen, dass fraglich bleibt, wie überhaupt über die gemeinsamen Gegenstände, Narrative und vielleicht sogar gemeinsame Ziele gesprochen werden soll. In den grenzüberschreitenden Fiktionen sehe ich also nicht zuletzt einen Anlass, über die anscheinende Unvereinbarkeit dieser Perspektiven nachzudenken und eine Chance, sie zu überwinden.

„Die zwei Kulturen“ ist der Titel einer Rede des Chemikers und Schriftstellers C.P Snow. In der Rede beklagt Snow die tiefe Kluft zwischen ‚scientists‘ und ‚literary intellectuals‘. Man beschwere sich zwar übereinander – die einen beherrschten ihren Shakespeare nicht, die anderen könnten nicht einmal das zweite Gesetz der Thermodynamik erklären –, aber ein Reden über die Notwendigkeit, die Kluft zu überwinden, gäbe es nicht. Tatsächlich sei Verständigung überhaupt nicht mehr denkbar. Das war 1959. Die Kluft ist seitdem trotz allerlei Bekenntnissen zu Interdisziplinarität und Austausch nicht kleiner geworden. Einig sind sich Geistes- und Naturwissenschaften nur in der Behauptung eines allgemeinen Niedergangs der Allgemeinbildung. Selbstredend ist das grob vereinfacht und ungenau (z.B. lassen sich die ‚zwei Kulturen‘ nicht einfach vom britischen in andere Wissenschaftssysteme übertragen. Gerade in Deutschland lassen sich Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft nicht unbedingt in einer ‚Kultur‘ zusammenfassen). 

Vielleicht ist die Gegenüberstellung aber auch gerade deshalb so einflussreich und beständig. Sie führt dazu, dass wir übersehen, wie produktives Wissen und anschlussfähige Narrative nicht nur auf der einen oder anderen Seite, sondern mitten in der Kluft zwischen den Kulturen entstehen. Es ist also nicht getan mit mehr wissenschaftlichen Kenntnissen – im Sinne von  „get your facts straight“ – oder größerer Fiktionskompetenz im Sinne einer umfangreichen literarischen Bildung. Auch wenn solche Kompetenzen sicherlich nicht schaden, bleiben sie weitgehend wirkungslos ohne eine Aufmerksamkeit für die ‚Mitte‘, in der sich Wissen formiert, das nicht so einfach zu sortieren ist.

Es ist ein hybrides Wissen, dass im Austausch der Kulturen entsteht, ob diese den Austausch nun wollen oder nicht. Science Fiction ist aus dieser Perspektive nicht in erster Linie ein Genre, sondern ein Modus, dessen Erkenntnisinteresse über professionalisierte Diskurse und Methoden hinaus reicht. Man könnte auch von einer Haltung sprechen, die nicht verlangt, aus Fiktionen praktisches Wissen zu gewinnen oder, umgekehrt, Wissenschaft als Erzählung zu entlarven. Vielmehr macht diese Haltung es möglich, unabhängig von der Darstellungsform gemeinsame Fragen zu erkennen.

Virus-Szenarien sind in diesem Sinne beinahe immer im Modus der Science Fiction verfasst. Sie stellen das Verhältnis von Fakt und Fiktion, von Wissenschaft und Erzählung auf besonders intensive Weise auf die Probe. Georg Seeßlens Behauptung, die Krankheit sei „das Wirklichste, was einem Menschen wiederfahren kann“ gewinnt in der Fiktion einen prekären Status. Einerseits generieren Viruserzählungen aus genau diesem Umstand (Infektion ist nicht diskutabel, krank ist krank) Energie und suspense, andererseits bleibt die Krankheit fiktiv.

Obwohl niemand – so meine Hoffnung – Dan Browns Inferno (2014) oder Michael Crichtons The Andromeda Strain (1969) liest, um sich über typische Verläufe viraler Infektionen zu informieren, so besteht der besondere Reiz des Virus-Szenarios darin, dass die Ansteckung selbst, unabhängig vom Plot, eine wirkliche Möglichkeit ist. Sie konfrontiert das betroffene Subjekt mit der eigenen Anfälligkeit für eben dieses Szenario und verleiht damit auch einem noch so absurden Plot einen Anker in der Wirklichkeit. Indem die Viruserzählung einen Akteur einführt, der scheinbar zielstrebig, aber absichtslos „handelt“, ruft sie eine fundamentale Unsicherheit auf. Diese betrifft auch die Wissenschaften, denn, so zeigt die sich ausbreitende Krankheit Covid-19 überdeutlich: Es ist eine Illusion zu glauben, ein Virus ließe sich ohne weiteres kontrollieren. Die „Jagd“ nach dem „unsichtbaren Gegner“ erzeugt Angstlust, weil sie die Erinnerung daran weckt, dass mikroskopisch kleine Wesen seit jeher eine allen Armeen überlegene Gefahr für die Menschen darstellen. Ein Virus, für das es noch kein Gegenmittel gibt, ist eine Herausforderung für eine Bandbreite an Kulturtechniken – auch für das Erzählen. 

Fiktionskompetenz kann hier also nicht bedeuten, zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Darstellungen zu unterscheiden, sondern die Bedingungen einer Erzählung zu erkennen – ihre Struktur; die Traditionen, in die sie sich implizit und explizit einreiht; sowie die textinternen und –externen Strategien der Plausibilisierung des Erzählten. Umgekehrt wird so die narrative Bedingtheit nicht-fiktionaler Texte sichtbar. Das heißt, ein an Fiktionen geschulter Blick erlaubt es, z.B. Zeitungsartikel wie „Das unheimliche Rätsel um das Corona-Virus“ nicht nur auf ihren „Informationsgehalt“ hin zu lesen, sondern auch die Narrative zu erkennen, an denen sie sich orientieren. Wie beim oben zitierten Klappentext sind Überschriften, Bildunterschriften und Bilder nie nur einem „Haupttext“ untergeordnet, sie ermöglichen vielmehr Verbindungen, die im Text weder angelegt sein müssen noch notwendig von der Autor*in eines Textes gewollt wurden.

Interessant wird es also besonders dort, wo verschiedene Interessen aufeinandertreffen. Im Literaturbetrieb sind das oft geteilte Interessen unterschiedlicher Akteure. Im konkreten Fall des Kriminalromans Treibland bedeutet das, die paratextuellen Elemente Cover, Klappentext und Reihenvermarktung des Romans sind ebenso aussagekräftig für die Frage nach der „Macht der Fiktion“ wie der literarische Text selbst. Treibland ist also nicht nur ein ergiebiges Beispiel, weil die Handlung thematisch beinahe unheimlich aktuell ist. Der Roman wurde in unterschiedlichen Kontexten vermarktet, die für die hier gestellten Fragen relevant sind. Der Autor, Till Raether hat sich außerdem bereit erklärt, mir einige Fragen zur Konzeption des Romans und den Abläufen seiner Veröffentlichung zu beantworten. Damit steht mir ein weiterer (Vergleichs-)Text zur Verfügung, der die Analyse bereichert. 

Zu diesen zählt auch die Genrebezeichnung: Treibland ist ein Kriminalroman. Diese Zuordnung strukturiert Erwartungen und ermöglicht und limitiert also das, was plausibel erzählt werden kann. ‚Plausibel‘ ist an dieser Stelle das entscheidende Kriterium, nicht ‚wissenschaftlich‘ oder ‚realistisch‘. Und was plausibel ist, wird aus einem Dialog zwischen Einzeltext und Genre-Konvention ausgehandelt. Das gilt auch für Stoff und Erzählhaltung. Der Kriminalroman ist ein analytisches Genre, das letztlich meistens auf die Aufklärung eines Verbrechens hinausläuft – was aber aufgeklärt, erkundet und zergliedert wird, das hängt vor allem von den Fähigkeiten und Interessen der ermittelnden Figuren ab.

Um das Spektrum der Fähigkeiten und Interessen zu erweitern, steht der Protagonist in Treibland, der Kommissar Adam Danowski, nicht allein da mit seinem Viren-Fall. Die Rechtsmedizinerin Kristina Ehlers und Tülin Schelzing, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Tropeninstitut, vermitteln dem Kommissar das Wissen, das er braucht, um sich im Fall zu orientieren – und damit nicht nur ihm, sondern auch den Leser*innen. Und genau darum geht es: Orientierungswissen. Niemand benötigt Spezialkenntnisse, um zu verstehen, worum es geht. Gleichzeitig sind die entscheidenden Punkte so weit an tatsächlichen Abläufen orientiert, dass auch jemand mit Spezialkenntnissen, dem Plot ohne Störung folgen kann.

Es besteht zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel daran, dass der Kommissar im Vergleich zu den beiden Frauen keine Ahnung hat. Nachvollziehbarerweise will er mit allem möglichst wenig zu tun haben, was ihm – das ist schließlich ein Kriminalroman – allerdings nicht gelingt. Ehlers und Schelzig könnten unterschiedlicher kaum sein. Schelzig als pedantische Hüterin der Verhaltensregeln steht Ehlers gegenüber, die nicht weniger pedantisch alle Regeln bricht (nicht ohne sich auf ihre eigene fachliche Autorität zu berufen). Dass dabei nur der Virus gewinnen kann, macht der Tod der fahrlässigen Rechtsmedizinerin ein für alle Mal klar. Wer sich absichtlich über Expertenwissen hinwegsetzt, krepiert jämmerlich. Aber auch Schelzig behält keine weiße Weste. Sie verbirgt Informationen, damit ihre eigene Arbeit nicht unter Verdacht gerät. Aus ihrem Handeln spricht die Wissenschaftlerin, die in einem prekären System gelernt hat, wie sehr auch ihre Autorität (und Anstellung) am makellosen Ruf der Institution hängt.

Der Virus gerät schon in dieser kurzen Analyse ins Hintertreffen, Raether bezeichnet ihn als „reines Vehikel“: „Mich haben damals zwei Dinge interessiert: die Situation des Eingesperrtseins, der Fremdbestimmtheit an einem eher absurden Ort, in dem das aber schon angelegt ist; also die Quarantäne als Parodie der Kreuzfahrt. Zum zweiten die Krise als Anlass für Menschen, sich gewissermaßen ‚auszurichten‘.“ Der Virus auf dem Schiff ermöglicht und plausibilisiert bestimmte Maßnahmen und Umstände, was für den Autor ebenso bedeutsam ist wie für die Verschwörer*innen im Roman.

Indem er die „Quarantäne als Parodie der Kreuzfahrt“ in Szene setzt, entwirft Raether also eher eine Whodunnit-Version von David Foster Wallaces Essay A Supposedly Fun Thing I’ll Never do Again oder eine Kreuzfahrt-Adaption von Agatha Christies Roman Murder on the Orient Express. Wie in den Vergleichstexten ist der Anspruch des Romans nicht, die Aufklärung über richtiges Verhalten im Quarantänefall, sondern Plausibilität von Figuren und Plot (auch wenn einige Regeln so lustvoll aufgestellt und gebrochen, dass man sicher etwas lernen kann, wenn man denn unbedingt will). Das ist kein geringer Anspruch, ganz im Gegenteil. Gegenüber ausufernden und sich selbst überschlagenden „Wissenschaftsthrillern“ á la Frank Schätzing zeichnet sich Treibland durch eine konzentrierte Struktur aus. Doch während sich der Roman explizit auf die „Lebenswirklichkeit“ des Autors bezieht, fordert das Stichwort „Virus“ offenbar Größeres. 

Hier kommt erneut die Vermarktung ins Spiel: Die Beziehung von Text und „Wissenschaft“ wird in einem anderen Kontext ausgestellt: Treibland wurde in erweiterter Ausgabe als Teil eines Schubers mit „Wissenschaftskrimis“ veröffentlicht, der genau diese Beziehung in den Vordergrund stellt. Die ZEIT-Edition „Wissenschaftskrimis“ will „spannende Themen mit intelligenter Unterhaltung“ verbinden und verleiht den ausgewählten Texten „als besonderes Extra“ ein Nachwort, „in dem ein ZEIT-Autor den Krimi analysiert und erklärt, welche Aspekte der wissenschaftlichen Realität entsprechen und welche der Fantasie des Autors (sic!) entstammen.“

Hübscher kann man einen Text gemäß der Zwei-Kulturen-These nicht aufräumen – Phantasie in die eine Kiste, Realität in die andere. Genau durch diese Trennung droht aber eine solche Vermarktung problematisch zu werden. Nicht nur, weil die Unterscheidung nicht funktioniert und sicherheitshalber keine Expert*innen für Erzähltexte eingeladen werden mit zu „erklären“, sondern auch, weil Reihe und Schuber Zusammenhang signalisieren, wo Differenzierung sinnvoll wäre. Denn ein locked room mystery, wie Treibland verhandelt wissenschaftliche Tatsachen auf andere Weise als ein „Wissenschaftsthriller“. Das Interesse richtet sich – hier bestätigt die Analyse Raethers Auskunft – auf das Verhalten der Figuren in einem Ausnahmezustand, der den ‚Regeln‘ des Genres gemäß begrenzt ist.

Ein Thriller hingegen zeichnet sich gerade durch eine Offenheit aus, die den Anspruch impliziert (nur selten aber ausdrücklich macht), Aussagen über die dargestellte Wirklichkeit hinaus zu treffen. So erschien beispielsweise 2009 in der ersten Ausgabe der ZEIT-Edition (damals noch und jetzt wieder „Wissenschaftsthriller“) Michael Crichtons Roman State of Fear/Welt in Angst (2004/2005), dessen nur dünn durch Ironie maskiertes Bekenntnis zur Klimawandelleugnung im Nachwort den Text in der Tat zu einem fragwürdigen Hybrid zwischen Science-Fiction und Verschwörungstheorie macht. Appendizes und Nachworte, Bibliographien und Zusatzpublikationen (z.B. Frank Schätzing: Nachrichten aus einem unbekannten Universum: Eine Zeitreise durch die Meere, 2009) oder die aus journalistischer oder wissenschaftlicher Arbeit gewonnene Verdopplung von Autorität (z.B. Richard Prestons „non-fiction Thriller“: The Hot Zone: The Chilling True Story of an Ebola Outbreak, 1995) verwischen die Grenzen zusätzlich.

Es ist dann völlig unerheblich, wie ‚hoch’ der wissenschaftliche ‚Gehalt‘ eines Textes ist, denn er weicht den Pakt mit den Leser*innen eines fiktionalen Textes auf. Das heißt, er beansprucht nicht nur im Medium der Fiktion, sondern geradezu universell Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen. Im ‚schlimmsten‘ Fall wird der Text ex post zu einem ‚wirklicheren‘ Wissen erklärt – wirklicher als das, auf das er sich selbst (qua Literaturliste, Expertenrat und -legitimation) stützt. Solche Texte haben das Potenzial, die Methoden zur Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion zu unterlaufen.

Das bedeutet, je ‚wissenschaftlicher‘ Fiktion daherkommt, desto skeptischer muss sie gelesen werden, denn sie verpflichtet sich damit Prinzipien einer anderen Kultur. Selbstredend wird es an dieser Stelle aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ziemlich spannend und es kann sich ein enormes subversives Potential entwickeln, das durchaus wünschenswerte gesellschaftliche Transformationen anstoßen kann. Aber spätestens hier sollte klar werden, dass, um dieses zu entfalten, eine Haltung (beider Kulturen!) nötig ist, die ‚den Leuten‘ eine weitaus höhere Fiktionskompetenz zutraut, als das oft der Fall ist. Die allermeisten wissen sehr wohl, ob sie gerade Outbreak schauen oder Tagesschau, oder dass Empfehlungen vom Robert-Koch-Institut einen anderen Stellenwert haben, als Vermutungen von Mulder und Scully. Wo aber ‚Literatur‘ und ‚Fiktion‘ bloß den Kopf hinhalten müssen, weil Kommunikation scheitert, kann ihr Potenzial „Welten zu machen“ (Nelson Goodman) nur versanden. Dabei ließe sich aus dem lustvollen Schauder über das ekelhafte Dahinsiechen einer Figur durchaus nicht nur Niesetikette, sondern auch ein gewisser Respekt für das Wissen der anderen erlernen.

 

Lesen nach Hanau

von Şeyda Kurt

Nach dem Terroranschlag in Hanau kann ich mich tagelang nicht überwinden, ein Buch aufzuschlagen. Manchmal sitze ich auf meinem Sofa. Mein Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand und ich starren uns still und vorwurfsvoll an. Mir fehlt die Kraft, Verknüpfungen zwischen Buchstaben herzustellen. Mir fehlt die Kraft, Seite für Seite daran zu glauben, dass Ereignisse in der Welt in einer sinnhaften Erzählung gebündelt werden können. Wie soll ich mich als Lesende darauf verlassen können, Teil von etwas zu sein, das über mich hinausgeht, Teil einer Geschichtserzählung, wenn ich mich in tausend Teile zerschlagen fühle? Und dann ist da die Angst vor dem Verrat. Darf ich mich in andere Realitäten flüchten, während die Realität von Hanau sich wie ein Schleier aus Tod und Leid auf das Leben vieler Menschen legt?

Doch ganz allein mit meinen Gedanken will ich nicht sein. Also höre ich Musik, das funktioniert noch am besten, wenn ich so taub bin. Es sind harmlose, italienische Balladen und Pop-Songs, darunter Un anno d’amore (zu Deutsch: Ein Jahr der Liebe) von Mina, ein Klassiker aus dem Jahre 1964. Im Refrain heißt es:

Ricorderai
I tuoi giorni felici
Ricorderai
Tutti quanti i miei baci

Also: Erinnere dich an deine glücklichen Tage, erinnere dich an all meine Küsse. Na gut, denke ich, und versuche mich daran zu erinnern, dass mein Körper, der geht und spricht, tatsächlich lebendig ist, im Stande, Zärtlichkeit zu erfahren. Irgendwann, ich glaube am vierten Tag, steigt mir das Ganze jedoch zu Kopf. Ich stehe an der Bushaltestelle und singe inbrünstig Ricorderaaaaai und fühle mich verlassen, auch im romantischen Sinne, obwohl ich nicht verlassen wurde und romantisch bin ich schon gar nicht. Also setze ich dem ein Ende und beginne anatolische Volkslieder zu hören, Ağlama yar, ağlama anam heißt eins auf Türkisch, in deutscher Übersetzung: Weine nicht, Geliebte:r, weine nicht, Mutter. Dabei muss ich ständig an meine Mutter denken, die nach dem Anschlag in Hanau am Telefon weinte, und da packt mich das Bedürfnis mich mit dem Gesicht voran auf den Potsdamer Platz fallen und von Tourist:innen niedertrampeln zu lassen. Schließlich lass ich’s mit der Musik.

Einige Tage später, seit dem Anschlag ist mehr als eine Woche vergangen, liege ich abends im Bett. Meine Augen fixieren einen dunkelblauen Buchumschlag, der unter einer Schlafmaske und Tablettenpackungen hervorblitzt. Tu es jetzt, sag ich mir, trau dich. Ich greife zu. Mein Pech, es ist die Bibel. Ich schlage das Buch an einer zufälligen Stelle auf: Seite 619, 83. Psalm, Gebet um Beistand wider die Feinde Israels. Ich lese diese Zeilen:

„1. Ein Psalmlied Asaphs. 2. Gott, schweige doch nicht also und sei doch nicht so still; Gott, halt doch nicht so inne. 3. Denn siehe, deine Feinde toben, und die dich hassen, richten den Kopf auf. 4. Sie machen listige Anschläge wider dein Volk und ratschlagen wider deine Verborgenen […]“

Ich lache irritiert auf. Was für ein Zufall. Was fange ich nun mit ihm an? Ich würde ihn gerne für diesen Text in eine logische Erzählung eingliedern, mit einer Pointe glänzen, damit Sie als Lesende und ich als Schreibende uns mit einem gesättigten Gefühl von diesen Zeilen verabschieden können, und ich Ihnen vielleicht doch noch ein schönes Buch empfehle. Aber ich bin ratlos, weil dieser sogenannte Gott nach Hanau schweigt. Weil so viele Menschen schweigen. Und mit ihnen die Bücher.

Photo by Artem Gavrysh on Unsplash

“Die abgeschnittene Person” – Autofiktion in den sozialen Medien

(Dieser Text ist in leicht abgänderter Form als Nachwort für Sarah Bergers bitte öffnet den Vorhang: @milch_honig 2019–2009 verfasst worden)

Arbeitstitel des Romans, von dem ich behaupte, ich würde ihn schreiben, den ich aber nicht schreiben kann, weil mich langes Erzählen langweilt: Die abgeschnittene Person.“ So schreibt Sarah Berger in Textfragment 503 von bitte öffnet den Vorhang. Das Label “Roman” wird mit langem erzählerischen Atem assoziiert, es ist in dieser Textstelle aber nur noch eine vorgeschobene Behauptung, unzeitgemäß und langweilig. Dieser kurze Ausschnitt verdeutlicht den erheblichen Wandel, dem der Literaturbetrieb gerade unterliegt – eine turbulente Situation, die sich nicht nur durch die verstärkte Medienkonkurrenz erklären lässt, in der literarischer Texte gegenwärtig stehen. Viele dieser Veränderungen stehen in enger Verbindung mit dem drastischen Wandel unseres Lese- und Schreibverhaltens aufgrund der Digitalisierung. Auch wenn es mittlerweile ein Allgemeinplatz ist, lohnt es sich immer wieder zu betonen, dass Menschen nicht weniger als früher lesen, sondern nur anders und an anderen Orten. Aber wie verändert sich das Schreiben oder – noch spezifischer – das Erzählen in Zeiten sozialer Medien? Wie nehmen Schreib- und Lesegewohnheiten im Internet Einfluss auf die Literatur und das Erzählen selbst?

Menschen lesen in unserer digitalisierten Gesellschaft weiterhin, auch wenn sie insgesamt weniger Bücher kaufen, in denen ihnen von imaginierten Welten berichtet wird. Wir erzählen unablässig, ob es der kurze Bericht über den lustigen Hund in der Bäckerei ist, eine berührende Kindheitserinnerung oder eine nachdenkliche Geschichte, die unsere Einstellung zu einem bestimmten Thema verdeutlichen soll. Dieses Erzählbedürfnis lässt sich auch in unserem Onlineverhalten wiederfinden. Die sozialen Medien werden mit ständigen Narrativierungen des Selbst bespielt – Selbstvergewisserung der eigenen Individualität durch Statusmeldungen. Mediales Kennzeichen dieser erzählerischen Verfahren ist oft eine Rückbindung des Erzählten an die Person des Erzählenden, deren Person eng mit dem Text verknüpft wird. Hierbei entsteht ein Rezeptionsmodus, der nicht mehr klar zwischen Text und Autorin einerseits und Fakt und Fiktion andererseits trennt – eine im Internet eingeübte Art und Weise mit Texten umzugehen, die wiederum direkten Einfluss auf die Literatur hat. Gegenwärtig befinden wir uns also mitten in den Wirren eines gravierenden epistemologischen Wandels, der unser Verhältnis zu den Kategorien Fakt und Fiktion betrifft.

Sarah Berger, Autorin bei Frohmann Verlag und Sukultur

Der große Erfolg autofiktionaler Texte der letzten Jahre kann so auch als Konsequenz der Tendenz verstanden werden, Schreibende und Werk immer enger miteinander zu verknüpfen. Das Kofferwort ‚Autofiktion‘ setzt sich aus Autobiographie und Fiktion zusammen und zeigt so bereits auf der Wortebene, dass faktual erzählte Autobiographie mit erdachten Elementen verwoben wird, bis es für die Lesenden unmöglich ist zu unterscheiden, wo Fiktion anfängt und Fakt aufhört. Ob uns nun Karl Ove Knausgård mit detaillierten Schilderungen seines Stuhlgangs im Wald erfreut oder Édouard Louis uns am Sexleben seiner Eltern teilhaben lässt – der literarische Blick seziert intimste Details und schreckt auch vor der Bloßstellung engster Angehöriger nicht zurück. Das faktual Belegbare liegt im Trend, wie es Sarah Berger in einer Anekdote präzise formuliert:

„Immer wieder nehme ich an Lesungen teil, bei denen die Autor_innen damit prahlen, dass das, was sie gleich vorlesen werden, genau so passiert sei. Sie prahlen, sich die Geschichte nicht ausgedacht zu haben. Sie betonen die Faktizität als eine besondere Qualität des Textes. Ein_e Autor_in entschuldigt sich sogar, dass die Texte fiktional seien und nicht auf wahren Begebenheiten beruhen.“ (Textfragment 429)

Wenn nun aber die Autofiktion als Erzählverfahren den Rezeptionsmodi der sozialen Medien besonders gut entspricht, ist dann das Internet nicht ein besonders passender Ort für autofiktionale Literaturexperimente? Tatsächlich bespielt die Autorin Sarah Berger bereits seit vielen Jahren verschiedene sozialmediale Formate mit ihren autofiktionalen Fragmenten. Aus diesen zunächst im Internet  veröffentlichten Texten entstand das 2017 im Frohmann Verlag veröffentlichte Buch Match Deleted: Tinder Shorts, das unter anderem aus kurzen Chatpassagen in Dating Apps besteht, die zwischen tragikomischer Absurdität und philosophischer Tiefenbohrung changieren. Bereits in ihrem ersten Buch verwendet Sarah Berger also die digitalen Formate der Selbsterzählung, in diesem Falle die narrative Erschaffung einer attraktiven Persönlichkeit beim Online-Dating, und führt diese ad absurdum, wenn die Chats immer wieder aus dem Ruder laufen oder die Kommunikation krachend scheitert. Damit eignet sie sich einerseits ein marktorientiertes Erzählverfahren der Selbstanpreisung an und unterläuft es andererseits, indem sie immer wieder den Freiheitsraum ausmisst, den sich das Individuum im digitalen Erzählraum erkämpfen kann.

In Sarah Bergers zweitem Buch versammeln sich nun erneut autofiktionale Textfragmente der letzten Jahre, die ebenfalls Erzählmodi der sozialen Medien aufgreifen und so immer wieder vor Augen führen, wie sozialmediales Erzählen mittlerweile unsere Wahrnehmung prägt. In den kurzen Texten geht es um sexuelle Grenzerfahrungen, Drogenkonsum, Freundschaft und Einsamkeit und immer wieder wird das Erzählen selbst zum Reflexionsgegenstand. Interessanterweise widmet sich die Autorin in vielen ihrer Fragmente der vermeintlich letzten Bastion von Authentizität: dem Körper. Die schonungslos offenen Texte entwickeln ihre radikale Widerstandskraft, gerade weil sie sich so fundamental gegen die idealisierende Ästhetik vieler sozialer Medien richten, gegen die Zurichtung des eigenen Körpers als Werbungsvehikel.

Was können unsere Körper in Zeiten sozialmedialer Selbstnarrativierung erzählen? Sarah Berger zieht sich hierbei nicht auf einen Authentizitätseffekt des Körperlichen zurück, wie es beispielsweise Knausgård immer wieder tut, etwa wenn Körperausscheidungen detailliert thematisiert werden. Stattdessen entzieht sie dieser idealisierten Vorstellung des Körpers als letzter Bastion des Realen den Boden. Denn obwohl sie in Fragment 470 schreibt, dass ihr Körper alles für sie entscheidet, können wir der autofiktionalen Erzählinstanz doch kein Vertrauen schenken, müssen beim Lesen des Buches und der Betrachtung der im Buch enthaltenen Fotografien akzeptieren, dass besonders der weiblich gelesene Körper im Patriarchat verschiedensten Projektionen unterliegt.

Gerade die bewusste performative Selbstinszenierung ermöglicht dem Individuum Freiheitsräume. So zeigt Sarah Berger mit ihren Erzählverfahren, die an das fragmentarische Selbstnarrativieren in den sozialen Medien angelehnt sind, dass Authentizität immer nur ein Spiel mit Authentizitätseffekten ist, die wie Instagramfilter über das Erzählte gelegt werden können.

„Du findest doch Authentizität so geil. So verdammt geil. So ein echter Mensch ist so geil, geil, geil. WTF! Ich habe noch nie einen echten Menschen gesehen; schon gar nicht hier in Unbenannt 3 OpenOffice.org Writer. Wo ist denn dieser echte Mensch? Die Sarah schreibt schon wieder einen Text. Die echte Sarah schreibt schon wieder einen Text. Bist du echt? Echt!“ (Textfragment 434)

Kitsch und AfD – Zur Ästhetik des aktuellen Rechtsradikalismus

In den letzten Jahrzehnten hat die Konjunktur des Kitschvorwurfs nachgelassen. Populären Autoren wie Takis Würger oder Karl Ove Knausgård, die ihre Texte durch Semi- oder Autofiktionalität gern mit Natürlichkeitspathos aufladen, wird er zwar manchmal gemacht, dabei aber nicht mit der verallgemeinernden Ablehnung alles Trivialen, die sonst oft dazugehörte. Während Urheber und populärer Gegenstand in Zweifel gezogen werden, ist man vorsichtiger geworden, dessen Rezipienten zu stark zu kritisieren. Was den Kitschvorwurf nämlich besonders problematisch macht, ist die mit ihm verbundene Unterstellung, nicht nur mit dem Werk, sondern auch mit den Fans des Kitsches sei etwas nicht in Ordnung. Doch diese soziale Dimension des Kitschvorwurfs heißt nicht, dass es den Kitsch als ästhetisches Phänomen nicht gäbe und der Begriff nicht zur Analyse bestimmter Texte gerade aufgrund ihrer Funktion im politischen Diskurs hin hilfreich sein kann.

In Anknüpfung an Kritiken von Massenkultur aus den Nachkriegsjahrzehnten bestimmte der französische Sozialpsychologe Abraham Moles 1972 den Kitsch als „Kunst in der Häßlichkeit“, als „guten Geschmack in der Geschmacklosigkeit“, der Ansprüche an Rezipienten suggeriert, aber nur anspruchslos konsumiert werden kann. Moles zielte damit auf das Potenzial dieser Ästhetik, zur Stabilisierung von Gruppenidentitäten beizutragen. Diesen Ansatz nutzte Saul Friedländer in seinem Essay Kitsch und Tod (1982), in dem er die Kunst des Nationalsozialismus und ihre Wirkung auf den Film der damaligen BRD besprach. Friedländer stellte fest, dass im Propagandafilm der Nationalsozialisten auf widersprüchliche (kitschige) Weise Tod, Gewalt und Harmonie aufeinandertrafen und damit als klassische und romantische literarische Motive in einen neuen Zusammenhang gestellt wurden.

Der neue rechte Kitsch

Seitdem sich um eine Gruppe ehemaliger Journalisten und Wissenschaftler medial eine neue rechtsradikale Bewegung in Deutschland formiert hat, deren parteipolitischer Arm die AfD ist, ist auch der rechte Kitsch wieder in ganzer Kraft da. Dieser Kitsch will der Anti-Kitsch sein, in ihm verbinden sich jedoch Massenkultur und deutsche Kulturkritik. Am Beispiel des ehemaligen FOCUS-Redakteurs und heutigen AfD-Beraters Michael Klonovsky kann das gut demonstriert werden, denn Klonovsky ist der zweifelhafte Meister des neuen rechten Kitsches.

Klonovsky hat nicht nur rassistische FOCUS-Coverstorys verfasst und ist vor allem für seinen Blog bekannt, sondern auch ein halbes Regal mit Aphorismen-, Rezensions- und Essaybänden gefüllt. Als Mitarbeiter von Alexander Gauland schreibt Klonovsky heute die Reden für den AfD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag. Davor übte er diese Tätigkeit für Frauke Petry und ihren Ehemann Marcus Pretzell aus. Wie Uwe Tellkamp und einige andere Figuren aus der rechten Dresdner Kulturszene ist der ursprünglich ebenfalls aus Sachsen stammende Klonovsky einer von mehreren ostdeutschen Autoren, die aus einer Kritik am DDR-Regime eine Kritik an der Politik und Kultur der Bundesrepublik ableiten wollen. Dies äußert sich beispielsweise in Gleichsetzungsversuchen der Medien der DDR und der BRD, vor allem aber in der Konstruktion bildungsbürgerlicher Dissidenz, der sie ihre eigenen Texte hinzuzählen wollen.

Seit Jahren gilt Klonovsky als „Edelfeder“ der konservativen Publizistik, also als Autor, der sich nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch besonders auszeichne. Klonovsky veröffentlichte 2005 bei Rowohlt einen Roman (Land der Wunder), der zwar nur gemischte Rezensionen bekam, aber seinen Ruf als Künstler-Feuilletonist begründete. So konnte er dann auch bei Reclam die Aphorismen des kolumbianischen Reaktionärs Nicolás Gómez Dávila herausgeben, obwohl diese Texte längst einer historisch-kritischen Kommentierung bedurft hätten. Zu Klonovskys zahlreichen Fans gehört der Philosoph Peter Sloterdijk, der ihn für „Feuilletons von ungewöhnlicher Brillanz“ lobte, und die Pathosschraube noch einen Grad höherdrehte, weil man sich bei ihm „in die Zeit von Tucholsky zurückversetzt“ fühlte, „als die deutsche Sprache noch vibrierte.“ Diese Vibrationen spürte offenbar auch der Schriftsteller Eckhard Henscheid, der Klonovsky mal für „schwärmerisch, verschwärmter und zugleich kenntnisreich“ hielt. Im Nachwort zu Klonovskys erst im letzten Jahr erschienenen Kolumnenband Der fehlende Hoden des Führers: Essais erkennt Lorenz Jäger sogar „Einsichten … [in] die unendliche Verletzlichkeit des Schönen, des Heiligen, der Leuchtenden, des Lebendigen, des Differenzierten, des Intelligenten.“ Ein stilistisches Hufeisen entwarf neulich Harald Martenstein in der ZEIT, der Klonovsky mit dem verstorbenen konkret-Herausgeber Hermann Gremliza verglich, weil beide Autoren von links- und rechtsaußen „elegant“ und „auf dem Niveau des Kritisierten“ den bürgerlichen Mainstream angriffen.

Schon in den 2000ern publizierte Klonovsky für die rechtslibertäre Zeitschrift eigentümlich frei, in der sich – oft ziemlich selektive – Staatsfeindlichkeit und genereller Autoritarismus ideologisch verbinden. Wie Klonovskys Texte aus dieser Zeit zeigen, hat er sich seitdem eigentlich kaum radikalisiert. Durch seine Anstellung im Parteiapparat hat er lediglich einen weiteren Schritt in der Explizitmachung einer Position gemacht, die längst klar und fertig ausgebildet dastand. Das unterscheidet ihn auch vom Stamm der AfD-Vorfeldautoren, etwa Matthias Matussek, Rainer Meyer oder Roland Tichy, die ihre formelle Unabhängigkeit vom parteipolitischen Rechtsradikalismus nutzen, um auch ideell als unabhängig zu gelten. Das ist eine allerdings ziemlich theoretische Unterscheidung, wenn man diese Bewegung als diskursives Phänomen versteht, in dem ähnliche Ideologien vertreten sind und ähnliche rhetorische Strategien angewandt werden.

Klonovskys Manifeste der Männlichkeit

Klonovsky will als Feuilletonist die „Ästhetik“ und „Schönheit“ gegen „die Ethik“ stark machen, verfügt aber selbst nur über einen Begriff von Ästhetik, der Moral und Besitzstand einer protestantischen Kleinstadt zur ästhetischen Norm umdeutet und das als Aufstand versteht. So hat Klonovsky in seiner Sammlung Lebenswerte (2009/2013), die einige seiner Kolumnen für die Zeitschrift eigentümlich frei zusammenfasst, einen „maskulinen“ und „hedonistischen“ Tugendkanon zusammengestellt, der über die Notwendigkeit männlichen Konsums soziale Ungleichheit rechtfertigen will. Durch diese Lebensphilosophie will sich Klonovsky nicht zuletzt ästhetisch von den angeblich genussfeindlichen Progressiven absetzen, die ihm die Objekte seiner Leidenschaften nehmen wollen.  Zum Teil stimmt das auch, denn Klonovskys Buch ist insbesondere ein Programm zur Legitimierung der sexuellen Übergriffigkeit gegenüber Frauen. So schreibt er im Lebenswert-Kapitel „Brüste“:

„Es gibt auf der Welt zirka drei Milliarden Mädchen und Frauen. Mindestens 1,5 Milliarden befinden sich im sexuell aktiven Alter. Macht also – kein Mensch ist wirklich symmetrisch – drei Milliarden unterschiedliche Brüste. Wer mag, kann sich die planetarische Biomasse Brust gern in Kilogramm ausrechnen. Geht man davon aus, dass, individueller Geschmack hin oder her, ungefähr jedes zehnte oder fünfzehnte Brüstepaar so gebaut ist, dass der Drang, sich seiner zu bemächtigen, für einen Mann immens wird, ergibt dies theoretisch 200 bis 300 Millionen Optionen.“

Doch mit dieser puren Geschmacklosigkeit, die Kulturmenschen wie Sloterdijk und Jäger offenbar goutieren können, beginnt noch nicht der Kitsch, denn dazu gehört das Moment des Geschmacks, das den Rest aufwerten soll. So schreibt Klonovsky in anderen Lebenswert-Stichwörtern auch über „Klaviere“, „Lyrik“, „Bücher“, „Malerei“ und die „Oper“. Wie die Überschriften bereits andeuten, hat er sich dabei einfach alles herausgesucht, was seinen statusorientierten Lesern zufolge Kultiviertheit ausmacht.

Wie Ludwig Giesz Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Phänomenologie des Kitsches herausstellte, ist der Kitsch eben eine Haltung, das „Gerührtsein über die eigene Rührung“, also selbstgefällige Trägheit angesichts des Gefühls der eigenen Überlegenheit. Und wie Klonovsky „die Frauen” konsumieren will, so will er „die Lyrik“ eben auch bloß „genießen“, also Rilke und Hölderlin als gehobenes Entertainment für zwischendurch. Gegen einen solchen Medienkonsum spricht natürlich gar nichts, nur läuft es diametral seiner Vorstellung entgegen, seine Form des Konsums sei irgendwie ungewöhnlich, wie im Kapitel „Ungleichheit“ suggeriert wird: „Nur in einer Welt eklatanter Niveau-Unterschiede vermag das Leben zu fließen.“ In Lebenswerte gibt es jedenfalls ausreichend  Beispiele, die Klonovskys eigenen Niveauanspruch in Frage stellen:

„Kinder machen bereits Probleme, wenn sie noch gar nicht auf der Welt sind. Zwar werden die Brüste der Frau appetitlich prall, aber man ahnt, dass ein Abschied dahinter steckt. … Die Frau nimmt eine Form an, die man nicht für möglich hielt. Der Mode folgend will sie, dass man bei der Geburt anwesend ist. Nie wieder wird er sich so hilflos fühlen wie im Kreißsaal. … Ansonsten mag der Sinn dieser Maßnahme darin bestehen, dass ihm die Lust auf Sex und sogar aufs Fremdgehen für eine beträchtliche Zeit vergällt ist.“

Und  kaum war man in den italienischen Olivenhainen und dem Anzugladen, geht es wieder ins Hotel:

„Das Hotel ist ein durch und durch erotischer Ort. In jedem Zimmer treibt es ein Paar miteinander oder liegt ein einsamer Gast und denkt an Sex. Das Hotel ist der ideale Platz für Huren. Es ist anonym, sauber, grenzenlos beschmutzbar und besitzt jenen Reiz des Fremden oder gar Exotischen, der spezielle Lüste hervorruft. Er denkt es fast zwanghaft. Und geht nach unten, wo die Mädchen sitzen, die schon am Vorabend dort saßen und zwischendurch verschwunden waren und wiederkamen und sich das Make-Up nachzogen. Und nimmt sich eine mit aufs grenzenlos beschmutzbare Zimmer, in der Stadt, wo ihn niemand kennt.“

Offensichtlich kann Klonovsky mit seiner positiv konnotierten Verknüpfung von ungehemmter männlicher Sexualität, männlichem Besitzstand und männlichem Intellekt an eine Rhetorik anknüpfen, die man nicht nur aus der Werbung im Lufthansa-Magazin kennt, sondern die auch in der Literaturgeschichte immer wieder zur Konstruktion von Männlichkeit eingesetzt worden ist. Und natürlich hat sich der Autor auch das Kulturverfallsthema nicht ausgedacht, das er unablässig bedient, um sich als vermeintliche letzte Elite hochleben zu lassen. Diese Texte wollen vor allem ein Manifest sein, in dem der Mann zum Widerständler und zur Minderheit erklärt wird – eine Ideologie, die er mit jedem 4chan-Incel teilt, die aber hier als Variante für den Salon brauchbar gemacht werden soll, der sich ja vermeintlich vom Stammtisch unterscheidet.

Kitschästhetik als neurechte Kunstreligion

Klonovskys Lebenswerte können als Vorläufer von Thea Dorn und Richard Wagners Bestseller Die deutsche Seele (2011) gelesen werden. Denn obwohl er sich als „franko- und italophil“ versteht, der sexuell die „idealtypische Französin meiner Landesgenossin“ vorziehen würde und „die Russin erst recht“, versucht er das Deutschnationale durch den Verweis auf angebliche deutsche Partikularismen zu propagieren. Wie Dorn und Wagner, die aus Abendbrot, Dauerwelle und Männerchor die deutsche Essenz ableiten wollten, nutzt Klonovsky das Kulturelle, um ein politisches Programm zu begründen. Diese De- und Rekontextualisierung führt zur Verkitschung von Begründungsinhalten, in denen kulturhistorisch ohnehin schon reichlich Menschenfeindlichkeit steckte. Wie im Heimatfilm holt er die deutsche Romantik, die deutsche Ingenieurskunst und den deutschen Heldenmut hervor, universalisiert dagegen aber deutsche Verbrechen, um sie zu relativieren: Wenn die Nazis „Kinder in Güterwaggons tausende Kilometer durch Europa fahren“, ist das „fairerweise mit allen anderen Kindermassenmördern der Geschichte“ gleichzusetzen.

Die Frage ist an dieser Stelle nicht, ob es diese Art der sprachlichen, gedanklichen und moralischen Haltung ist, die Klonovsky zum Redenschreiber von Alexander Gauland qualifizieren. Entscheidend ist, dass diese Niveaulosigkeit das politische Programm ausmacht. Solche Kitschästhetik ist die Grundlage, mit der die rechtsradikale Szene heute ihr bürgerliches Publikum zu mobilisieren versucht, weil in diesen Texten die unreflektierte Angst um die in „Stil“ und „Kultur“ umgedeutete Angst um den Privilegienverlust steckt und einfache Identifikation bietet. Da Klonovsky Hotels, Brüste und Deutschland zu seinen Lebenswerten erklärt, ist er einerseits ziemlich ehrlich in der Zielstellung eines klassistischen, sexistischen und rassistischen Programms, zeigt aber auch, dass es dafür keine hinreichende Begründung außerhalb einer sich in die Ideologie des Ästhetischen gehüllten Anspruchsdenkens gibt. Passenderweise kann man das Buch mittlerweile auch auf CD hören, natürlich in Kombination mit klassischer Klaviermusik, die Klonovskys Ehefrau beigesteuert hat.

Zwischen Schleimereien und Verdammungen ist in dieser politisch überdrehten Ästhetik, die neue Kunstreligion sein will, nicht viel Platz. Klonovsky neuestes Buch Der fehlende Hoden des Führers: Essais (2019) besteht aus alten FOCUS– und eigentümlich frei-Kolumnen und einigen seiner Reden, vor allem aber Porträts verschiedener kanonischer Musiker, Politiker und Schriftsteller. Wiederum geht es darum, „Schönheit“ und „Bildung“ „der Moderne“ entgegenzuhalten, als ob das nicht ohnehin schon moderne Konstrukte wären. Also macht Klonovsky aus Immanuel Kant einen Gegner aller politischen Ideologien oder zitiert Hans-Georg Gadamer ausgerechnet für das Lob der Mütterlichkeit, um diese alten weißen Männer für einen durch und durch modernen Rechtsradikalismus einzuspannen.

Variationen altbekannter Stammtischparolen und Naziwitze

Wenn Klonovsky mal wieder dazu aufruft, die „Weinbestände zu füllen und zu leeren“, „Bücher statt Zeitungen“ zu lesen, sich von „der allgemeinen Verwahrlosung“ nicht anstecken zu lassen und „manierlich und heiter“ zu sein, fragt man sich, ob diese Plattitüden nun die Sprache ist, die „vibriert” (Sloterdijk) oder das nun „der Einblick ins Schöne, Heilige, Leuchtende, Lebendige“ (Jäger) ist. Aber ein bisschen Biedermeiercouch-Geruch reicht offenbar schon aus, um sich dieses Lob zu verdienen, denn es gilt ja lediglich, den üblichen Klassismus, Rassismus und Sexismus zu veredeln. Es zeigt sich, dass Ästhetik und Politik nicht nur nicht voneinander zu trennen sind, sondern dass Autoren wie Klonovsky letztlich nur aufgrund ihrer politischen Haltung jahrzehntelang überhaupt Publikationsmöglichkeiten und Leser gefunden haben.

In seiner Bonmotsammlung Aphorismen und Ähnliches, die seit 2008 in erweiterten Neuauflagen erscheint, wird wiederum deutlich, wie eng in diesem Kitsch Form und rechtsradikaler Inhalt miteinander verbunden sind. Durch mittlerweile 136 Seiten (2017) zieht sich zunächst ein Strom aus klischeebeladenem Namedropping (u.a. Heidegger, Dürer, Goya, Cézanne, Thukydides, Proust, Bach, Vélazquez, Kleist, Homer, Shakespeare, Luhmann) und zwischen Traurigkeit und Unoriginalität schwankenden Self-Help-Kalendersprüchen:

„Es gibt Leute, die verzeihen einem das Talent nie.“

„Was keine Feinde hat, ist nichts wert.“

„Wo das Team regiert, wird Bildung zum Stigma.“

„Wo die Individualität blüht, welkt die Persönlichkeit.“

„Lieber im Unrecht als in irgendeiner Meute.“

„Der originäre Denker ist der Feind des Professors.“

Nur ausgestattet mit der Rhetorik der Allgemeinbildung, mit der sich ein Publikum umschmeicheln lässt, das sich kulturell überlegen fühlt, können dann Klonovskys krasse Ausfälle gegen Frauen, queere Menschen und PoC dann für manche Leser nicht wie pathetische Variationen altbekannter Stammtischparolen und Naziwitze wirken, obwohl sie auch einfach als klassische Stammtischparolen und Naziwitze daherkommen:

„Evolutionsbiologisch betrachtet ist die Frau in ihrer jetzigen Gestalt ein Produkt des männlichen Begehrens. Es wird Zeit, dass die Lesben sich dafür bedanken.“

„Zuerst bekämpft die Homosexuellenbewegung die Homosexuellenphobie, dann erzeugt sie sie.“

„Islamistische Anschläge in Europa? Wozu das Haus demolieren, in das man einzieht.“

„In Berlin gibt es ein Denkmal für Ernst Röhm: Homosexuelle, die während der Naziherrschaft ermordet wurden.“

„In der Idee, schwulen Paaren das Adoptionsrecht zu geben, weht der Geist der Paralympics.“

„Der General Franco hat eine schlechte Presse, weil er die Kommunisten geschlagen hat.“

„Es ist nur folgerichtig, daß die schleichende Privilegierung der Frauen mit ihrer überlegenen sozialen Intelligenz letztbegründet wird; die andere ist ja halbwegs meßbar.“

„Einst galt es als Rassismus, wenn jemand sagte, schwarz sei schlecht. Heute handelt es sich bereits um Rassismus, wenn einem auffällt, daß schwarz schwarz ist.“

Dieser Auswahl könnte man entgegenhalten, dass dies nur „Stellen“ seien: Doch wie viel Textzusammenhang braucht ein Aphorismus? Trotzdem noch ein paar inhaltlich weniger grelle Beispiele, die immer dem stilistischen Prinzip folgen, Begriffe rhetorisch ineinander aufzulösen oder in Gegensatz zueinander zu setzen und damit Erkenntnis vorzutäuschen:

„Eben weil der Mensch nicht unsterblich ist, sollte er vor allem die Unsterblichen lesen.“

„Wer kommuniziert, hat nichts zu sagen.“

„Der Feminismus müßte eigentlich Maskulismus heißen.“

„Zu den Basalmythen der Demokratie gehört, daß es sie gibt.“

Natürlich hält der Aphorismus schon als Genre reichlich Möglichkeiten bereit, um ohne Begründung, nur im Vertrauen auf die Zustimmung der Leser, dahinpostulieren zu können. Diese Stilwahl, die nur anspruchsvoll hinsichtlich der Vorurteile der Leser ist, soll wie in Lebenswerte aber überhaupt nicht vergessen lassen, dass das Buch ein frauenfeindliches Pamphlet ist, sondern vor allem, dass es sich um frauenfeindliche Klosprüche handelt. Daher greift Klonovsky auch gern mal tief ins Abflussrohr, um bloße Codewörter der Kultiviertheit wieder herauszufischen:

„An Menschen, die keine Gedichte auswendig wissen, ist jede Zeit verschwendet.“

„Bildungsferne schafft Publikumsnähe.“

„Gönnen ist göttlich.“

„Welchen Gegenstand ein Buch behandelt ist zweitrangig verglichen damit, auf welche Weise es ihn behandelt.“

„Der jeweilige Zeitgeschmack ist die Schlacke in den Kunstwerken; mit abnehmendem Verunreinigungsgrad wächst ihre Beständigkeit.“

„Steve Jobs kann nicht in der Hölle schmoren, weil er zu ihren Ausstattern gehört.“

„Der gebildete Mensch erzählt nicht, wovon ein Buch handelt, sondern auf welche Weise es von etwas handelt.“

„Die geistige Befruchtung benötigt weder Semester noch Module.“

Um einen Aphorismus des Autors zu beantworten: „Stellen Sie sich vor: Dieser Autor ist sexistisch, rassistisch und reaktionär! … Aber schreibt er auch schön?“ Nein. Wie Norbert Bolz ist Klonovsky einer der vielen heutigen Zirkus-Zarathustras, die einem Publikum, das sich in den Dörfern und Villenvierteln nach Erregung sehnt, passende Schenkelklopfer und Untergangsromantik bietet. Dieser neue rechte Kitsch verknüpft sexistische Erotik und rassistischen Hass mit bildungsbürgerlichen Statussymbolen, die das eigene Anspruchsdenken veredeln und damit legitimieren sollen. Das zeigt, wie wenig hinter  dem Symbol stecken muss, damit Autoren wie Sloterdijk oder Jäger, die als Inbild von Bürgerlichkeit gelten, nicht nur Gehör, sondern auch gleich ihr Qualitätssiegel schenken.

Mit ihrem makaberen Bestehen auf Stil und Form liefern Klonovskys Texte eine Strategie, mit Hilfe von ein bisschen Mozart-Hintergrundmusik Gewalt entweder zu übertönen oder erst recht attraktiv zu machen. Offensichtlich stellt der Diskurs der „bürgerlichen Mitte“ dafür ausreichend Anknüpfungspunkte bereit und zeigte sich jahrelang auch mehr als willig, Autoren wie Klonovsky selbst zur „Mitte“ zu machen, solange nur die richtigen Kultur-Knöpfe gedrückt werden. Zu diesen auf Distinktion abstellenden Praktiken, mit denen ausgegrenzt werden kann, hat natürlich auch immer wieder das Kitschurteil gezählt. Wenn es heute noch einen Wert hat, sollte es vor allem gegen die neuen Kulturuntergangspropheten und ihre Fans selbst gewendet werden.

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Der Wunsch sich selbst zu gestalten – Das Tagebuch der Marie Bashkirtseff

Von Magda Birkmann

 

Im Jahr 1882 forderte der französische Schriftsteller Edmond de Goncourt seine Leserinnen im Vorwort seines Romans La Faustin auf, ihm authentische Zeugnisse ihres Lebens und ihrer Empfindungen – in der Form von Tagebüchern, Erinnerungen und Lebensbeichten – zukommen zu lassen:

„Die Enthüllung zarter Gefühle und feiner Keuschheit, ja, die ganze unbekannte Weibhaftigkeit auf dem Grund der Frau, die den Ehemännern und selbst den Liebhabern zeitlebens verborgen bleibt […], das ist es, was ich verlange.“

Mit dieser ungewöhnlichen Bitte bereitete de Goncourt bereits sein nächstes Romanprojekt vor, welches „einfach die psychologische und physiologische Studie eines jungen Mädchens“ werden sollte, „ein Roman, der auf Zeugnissen des menschlichen Lebens errichtet wird.“ Zwei Jahre später entstand daraus der naturalistische Roman Chérie, der das Innenleben der gleichnamigen Protagonistin minutiös nachzeichnet.
Die Entstehungsgeschichte dieses Romans war es wohl, die eine junge russische Malerin namens Marie Bashkirtseff im Jahr 1884 dazu ermutigte, sich mit einem Brief an Edmond de Goncourt zu wenden:

„Monsieur. Wie jedermann habe auch ich “Chérie” gelesen, und, unter uns gesagt, das Buch ist voller Banalitäten. Diejenige, die die Kühnheit besitzt, Ihnen zu schreiben, ist ein Mädchen, das in einem reichen, eleganten, manchmal exzentrischen Milieu aufgewachsen ist. Dieses Mädchen, das seit vier Monaten 23 Jahre alt ist, ist gebildet, künstlerisch begabt und anspruchsvoll. Sie ist im Besitz von Heften, in denen sie seit dem 12. Lebensjahr Tag für Tag ihre Eindrücke aufgezeichnet hat. Nichts wurde darin verheimlicht. Das fragliche Mädchen verfügt im übrigen über einen Stolz, der bewirkt, dass sie sich in ihren Notizen ganz und gar zur Schau stellt. […] Ihr scheint es interessant, Ihnen dies Tagebuch zukommen zu lassen.“

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Marie Bashkirtseff

Da Marie Bashkirtseff sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Endstadium einer langjährigen Tuberkuloseerkrankung befand und sich der Tatsache bewusst war, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, sah sie in der Veröffentlichung ihres privaten Tagebuchs die einzige ihr verbleibende Möglichkeit, ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen: Sie wollte berühmt werden, und das um jeden Preis. Am 31. Oktober desselben Jahres erlag Marie Bashkirtseff der Schwindsucht – ihr Brief an Edmond de Goncourt blieb unbeantwortet. Doch auch ohne die Unterstützung des berühmten Literaten fand das Tagebuch der Marie Bashkirtseff wenige Jahre nach ihrem Tod den Weg in die Öffentlichkeit, die es mit Begeisterung aufnahm: In ganz Europa entstand um die Jahrhundertwende ein regelrechter Bashkirtseff-Kult.

Selbsterzählung statt moralischer Gewissensprüfung

Das Tagebuchschreiben gilt im 19. und frühen 20. Jahrhundert als eine weiblich dominierte Praxis, dennoch sticht Marie Bashkirtseffs Tagebuch aus mehreren Gründen aus der Masse an Journaux intimes junger Frauen heraus. Bei den meisten dieser überlieferten Tagebücher handelt es sich um religiös und moralisch motivierte Texte. Als Teil einer verbreiteten Erziehungspraxis für Mädchen wurden sie von Erzieher*innen und Eltern nicht nur angeregt, sondern teilweise auch kontrolliert. Indem sie sich schreibend einer moralischen Gewissensprüfung unterzogen, sollten junge bürgerliche Mädchen die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Werte verinnerlichen. Statt einer intimen Selbstbetrachtung diente das Tagebuch vielmehr der Austreibung eines individuellen Ichs.
Nicht so im Schreiben von Marie Bashkirtseff, hier kann von einer Ich-Austreibung kaum die Rede sein:

„Ich kenne jemanden, der sein ganzes Leben hingeben möchte, um mich glücklicher zu machen, der auch alles tun wird für mich und der Erfolg haben wird, jemand, der mich nie verraten wird, obgleich er mich schon einmal verriet. Und dieser jemand bin ich selbst!“

Grundsätzlich galt ein Tagebuch im 19. Jahrhundert nur aus zwei Gründen als publikationswürdig: entweder, weil es als biographische Illustration zum bereits kanonisierten Werk eines Künstlers gelesen werden konnte oder, weil es als Erbauungs- bzw. Erziehungsschrift für junge Mädchen Verwendung fand, wie beispielsweise die Tagebücher Eugénie de Guérins (1855) oder Marie-Edmée Paus (1876). Von den wenigen Tagebüchern, die vor Marie Bashkirtseffs Journal überhaupt veröffentlicht wurden, war vermutlich keines mit der Absicht, es zu publizieren, verfasst worden.

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Beim Buchlesen (Marie Bashkirtseff, ca. 1882)

Anders Marie Bashkirtseff – im Mai 1884, im fortgeschrittenen Stadium ihrer Tuberkuloseerkrankung, entwirft die junge Künstlerin ein Vorwort für ihr Tagebuch, das vehement ihren Wunsch es zu veröffentlichen ausdrückt und diesen Wunsch vor den zukünftigen Leser*innen verteidigt:

„Wozu lügen und sich verstellen? Ja, es ist offensichtlich, dass ich den Wunsch, wenn nicht gar die Hoffnung habe, auf dieser Erde zu bleiben, durch welches Mittel es auch sei. Falls ich nicht jung sterbe, hoffe ich, als große Künstlerin zu überleben, aber wenn ich doch jung sterbe, dann will ich mein Tagebuch veröffentlichen, das nicht anders als interessant sein kann.“

Marie befürchtet, dass diese explizit geäußerte Veröffentlichungsabsicht ihre Leser*innen dazu verleiten könnte, die Authentizität des Geschriebenen in Frage zu stellen. Sie versucht, solch einer Lesart zuvorzukommen:

„Zuerst habe ich sehr lange geschrieben, ohne daran zu denken, je gelesen zu werden, und jetzt bin ich, gerade weil ich hoffe, gelesen zu werden, völlig aufrichtig. Wenn dieses Buch nicht die exakte, absolute, strenge Wahrheit ist, hat es keine Existenzberechtigung. […] Im übrigen halte ich mich für zu bewundernswert, um mich zu zensieren. Sie können also sicher sein, meine barmherzigen Leser, dass ich mich auf diesen Seiten ganz und gar ausbreite.“

Trotz dieser leidenschaftlichen Beschwörung eines Authentizitätsanspruchs ist aus Leser*innenperspektive Vorsicht geboten, Maries Tagebuch sollte ungeachtet ihrer vermeintlichen Offenheit nicht als vollkommen authentisches Selbstzeugnis gelesen werden. Verschiedene Strategien der bewussten Inszenierung sind bei genauer Lektüre des Journals deutlich erkennbar und Marie selbst thematisiert, dass sie in ihrem Schreiben längst nicht alles festhalten kann, was ihr durch den Kopf geht: „Zwischen all den geschriebenen Wörtern verbergen sich eine Million gedachter Dinge, nur Bruchstücke meiner Gedanken kommen zum Ausdruck.“

Sie ist sehr bedacht darauf, wie sie sich in ihrem Tagebuch darstellt, immer wieder spricht sie imaginierte Leser*innen direkt an, spielt mit den literarischen Konventionen, die ihr aus ihrer umfassenden Lektüre der Werke von Balzac, Maupassant, Dumas, Stendhal, Sand und anderen Romanciers wohlbekannt sind.  In ihrem Schreiben wird sie selbst zur Heldin ihres „Kopf-Romans“ und lässt dabei die Grenzen zwischen faktentreuer Dokumentation und Fiktionalisierung des eigenen Lebens verschwimmen. In dieser Hinsicht kann Marie Bashkirtseff durchaus als ideelle Vorreiterin des autofiktionalen Schreibens, wie es im 20. und vor allem im beginnenden 21. Jahrhundert Verbreitung findet, betrachtet werden. Angesichts ihres bewegten Lebens verwundert Maries großer Drang, sich literarisch auszudrücken, nicht weiter, denn ihre Erfahrungen fernab einer ruhigen bürgerlichen Existenz bieten reichlich Stoff für eine große Erzählung.

Ein Leben unter dem Drang nach Ruhm und Ehre

Marie Bashkirtseff wird am 24. November 1858 in Gawronzi (Gouvernement Poltawa) in der heutigen Ukraine als Tochter des adligen Grundbesitzers Constantin Bashkirtseff und dessen Frau Marie Babanine geboren. Bereits drei Jahre nach Maries Geburt trennen sich ihre Eltern, Marie wächst fortan auf dem Gut ihrer mütterlichen Großeltern auf. 1870 verlassen Marie, ihre Mutter, ihr Bruder und weitere Mitglieder der Familie Babanine Russland und unternehmen ausgedehnte Reisen nach Wien, Baden-Baden und Genf, bevor sie sich schließlich 1871 in Nizza niederlassen.

Die Verwicklungen in einen aufsehenerregenden Gerichtsprozess, in dem Maries Mutter und ihre Tante Nadine Romanoff als Erbschleicherinnen angeklagt werden, sowie die alkoholischen und gewalttätigen Exzesse von Maries Onkel Georges schmälern das Ansehen der Familie und führen dazu, dass den Bashkirtseff-Babanines der Zugang zu den höchsten Kreisen der feinen Nizzaer Gesellschaft zeit ihres Lebens verwehrt bleiben wird – zum großen Leidwesen Maries. Denn bereits als junges Mädchen sehnt Marie sich nach Ruhm und Ehre, träumt von einer Bühnenkarriere. „Ich bin geschaffen für Triumphe und Erregungen; also das Beste, was ich tun kann, ist, dass ich Sängerin werde,“ notiert sie 1873 in ihrem frisch begonnenen Tagebuch.

Der zweite große Traum ihrer Jugendjahre ist romantischer Art: Marie wähnt sich verliebt in den Herzog von Hamilton, den sie auf der Promenade von Nizza erblickt, mit dem sie jedoch noch nie auch nur ein Wort gewechselt hat. Das hindert sie allerdings nicht daran, in ihrem Tagebuch kühne Pläne zu schmieden:

„Wenn er dann ein junges Mädchen sehen wird, das den höchsten Gipfel des Ruhmes, den eine Frau erreichen kann, erklommen hat, wenn er erfährt, dass ich ihn treu seit meiner Kindheit liebe, dass ich ehrbar bin und rein, so wird ihn das in Staunen versetzen, er wird mich um jeden Preis haben wollen, und er wird mich aus Stolz heiraten. Doch, was sag‘ ich? Warum sollte er mich nicht aus Liebe heiraten?“

Doch keiner dieser kühnen Pläne soll in Erfüllung gehen, beide werden vom Schicksal vereitelt. Eine Kehlkopferkrankung raubt Marie die Singstimme und der Herzog von Hamilton, lange Zeit aus der Ferne umschwärmt, heiratet schließlich Ende 1873 eine andere. Für Marie, die mit ihren 15 Jahren mitten im Teenageralter steckt, bricht eine Welt zusammen, als sie davon erfährt:

„Das drang mir wie ein scharfes Messer in die Brust. Ich fing an, so stark zu zittern, dass ich kaum das Buch halten konnte. Ich fürchtete, ohnmächtig zu werden […] Mein Gott, rette mich von dem Übel! Herr Gott, vergib mir meine Sünden und strafe mich nicht! Es ist aus … aus! Mein Gesicht wird fahl, wenn ich daran denke, dass es aus ist.“

Vom jugendlichen Pathos, der diese Zeilen tränkt, distanziert sich sechs  Jahre später die inzwischen erwachsene, desillusionierte Künstlerin jedoch klar, dann wird sie beim Wiederlesen ihrer alten Tagebücher an den Rand notieren: „All das wegen eines Mannes, den ich ein Dutzend mal auf der Straße gesehen hatte – den ich nicht kannte, und der nichts von meiner Existenz wusste. All das hat beim Wiederlesen im Jahr 1880 überhaupt keine Wirkung auf mich.“

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Der Regenschirm (Marie Bashkirtseff, 1883)

Und tatsächlich findet Marie in den folgenden Jahren schnell Ablenkung auf zahlreichen Reisen nach Paris, Spa, Ostende, London, Florenz, Rom und Neapel, die vor allem durch diverse Flirts und Schwärmereien gekennzeichnet sind. Letztendlich werden sie jedoch alle folgenlos bleiben.

1874 tauchen bei ihr erste Anzeichen einer Tuberkuloseerkrankung auf, auch wenn zu diesem Zeitpunkt weder Marie selbst noch ihre Familie den Ernst der Lage erkennen: „Ich bin so fröhlich, dass es mir seltsam vorkommt. Vielleicht habe ich in der linken Brust Krebs, denn von Zeit zu Zeit habe ich Schmerzen. Ich habe Mama ernsthaft davon unterrichtet, aber sie sagt das sei Unsinn.“ Nach wie vor ist Marie hauptsächlich auf ein Ziel fixiert:

„Heiraten und Kinder bekommen! Das kann ja jede Waschfrau! […] Was will ich denn eigentlich? Oh, ihr wisst es ja. Ich will Ruhm!“ Doch wie berühmt werden? Die Ungeduld nagt an der jungen Frau : „Ich bin achtzehn Jahre alt. […] Mit achtzehn Jahren müsste ich schon damit begonnen haben, berühmt zu werden.“

“Was die Männer ganz einfach haben können.”

Doch als Frau im 19. Jahrhundert bleiben ihr viele Wege versperrt, besonders, als sie sich 1877 der bildenden Kunst zuwendet. Frauen dürfen sich nicht an der berühmten staatlichen Kunstakademie École des Beaux-Arts in Paris einschreiben, ihr bleibt daher nur die Anmeldung an der privaten Académie Julian, um ein Kunststudium aufzunehmen. Diese entmutigende Erfahrung führt dazu, dass sie im Dezember 1880 – als große Ausnahme in ihrem Umfeld – dem von Hubertine Auclert gegründeten Verein Le Droit des Femmes beitritt und unter dem Pseudonym Pauline Orell Artikel für die feministische Zeitschrift La Citoyenne verfasst, in denen sie die institutionellen Ausschlüsse und Anfeindungen von Frauen in der Kunstwelt anprangert:

„Es gibt keine [Gründe, Frauen nicht in die Ecole des Beaux-Arts aufzunehmen], man hat noch niemals darüber nachgedacht, und das ist alles. Folglich verkündet Ihr laut, stärker, intelligenter, begabter als wir zu sein, und Ihr nehmt für Euch allein eine der schönsten Schulen der Welt in Anspruch, in der alle Förderungen an Euch verschwendet werden. […] was wir brauchen, ist die gleiche Möglichkeit zu arbeiten wie die Männer und nicht das Aufbringen von größten Anstrengungen, um das zu erreichen, was die Männer ganz einfach haben können.“

Auch in ihrem Tagebuch klagt Marie immer wieder über die Einschränkungen, die ihr als Frau auferlegt werden:

„Oh! wie sind die Frauen zu bedauern! Männer sind wenigstens frei. Völlige Unabhängigkeit im Alltagsleben, die Freiheit zu kommen und zu gehen, auszugehen, im Theater oder zu Hause zu Abend zu essen, zu Fuß in den Wald oder ins Café zu gehen. Diese Freiheit macht schon die Hälfte einer Begabung aus und drei Viertel des… normalen Glücks.“

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Das Treffen (Marie Bashkirtseff, 1884)

Aber Marie zeigt Talent und besitzt Ehrgeiz. Mehrere ihrer Gemälde werden im berühmten Pariser Salon ausgestellt. Doch der Traum vom ganz großen Ruhm bleibt noch immer unerfüllt, und langsam läuft ihr die Zeit davon. Von einer Reise nach Spanien kehrt Marie im Oktober 1881 schwerkrank nach Paris zurück, im Laufe der nächsten Jahre verschlimmern sich ihre Symptome immer mehr. Marie gibt sich aber dennoch voll und ganz ihrem künstlerischen Schaffen hin, verausgabt sich immer wieder, ungeachtet ihres immer schlechter werdenden Gesundheitszustands. Doch immer häufiger schleicht sich auch die Verzweiflung in Maries Schreiben ein: „Mein Leben ist nichts wert, und nichts lässt mich daran festhalten. […] Ich weiß nicht länger, was ich tun soll. Ein neues Bild wird mir wieder Lebensmut schenken, aber bis dahin fühle ich mich verloren!“

Am 20. Oktober 1884 nimmt Marie die letzte Eintragung in ihrem Tagebuch vor: „Seit zwei Tagen steht mein Bett im Salon, aber da es sehr groß ist und Paravents, Puffe und das Klavier darum herum stehen, fällt es nicht auf. Es fällt mir zu schwer, die Treppe zu steigen.“ Sie stirbt elf Tage später am 31. Oktober.

Zur Femme Fragile gemacht

Mit Maries Tod beginnen die Legendenbildungen – und die Schmähungen. 1887 gibt André Theuriet im Auftrag von Maries Mutter eine erste Edition des Tagebuchs heraus, in der jedoch etwa die Hälfte des Textes radikalen Kürzungen zum Opfer gefallen ist. Nicht nur wird Marie darin als fast zwei Jahre jünger dargestellt, als sie tatsächlich war, Theuriets Eingriffe entschärfen außerdem ihren Stil und ihre Sprache und dämmen ihr Temperament stark ein. Der Herausgeber zensiert Hinweise auf Maries kompromittierende familiäre Situation und schwächt Erwähnungen ihrer verheerenden Krankheit ab, schreibt sogar ganze Passagen komplett um.

Dennoch ist der Erfolg dieser ersten Ausgabe so beachtlich, dass 1891 eine nicht minder fragwürdige Edition ihrer Briefe folgt. Verehrer*innen pilgern fortan zu Maries pompösem Mausoleum auf dem Pariser Künstler*innenfriedhof Passy, Sammler*innen streiten sich um die zahlreichen Photographien, die Marie im Laufe ihres Lebens hat anfertigen lassen. 1925 erscheinen die von Pierre Borel herausgegebenen Cahiers intimes inédits, die behaupten, alles bisher Ungesagte zu offenbaren, in die aber kaum weniger Eingriffe vorgenommen wurden als in Theuriets Edition. Ein 1935 gedrehter österreichischer Spielfilm wird zum Skandal, weil darin Marie als die Geliebte von Guy de Maupassant dargestellt wird.

Schriftsteller*innen wie Henri Bataille und Mrs Humphry Ward bedienen sich ihrer Geschichte als Inspiration für ihre eigenen tragischen Protagonistinnen und auch der deutsche Dramatiker Ferdinand Bruckner veröffentlicht 1935 einen schwülstigen biografischen Roman über Marie mit dem Titel Mussia. Und so verfestigt sich nach und nach das romantische Bild der schönen, kindlichen, tugendhaften, unberührten Schwindsüchtigen, die im Leben zwar ein wenig zu viel gewollt hat, deren viel zu früher Tod sie aber als reiner und unschuldiger Engel in der Vorstellung der Nachwelt fortleben lässt.

Doch selbst dieses geglättete Bild Marie Bashkirtseffs steht immer noch in einem starken Kontrast zu dem Idealbild der jeune fille, wie es im späten 19. Jahrhundert beispielsweise in Benimmbüchern für bürgerliche Frauen propagiert wurde:

„Ein wohlerzogenes Mädchen schaut sich niemals nach jemandem auf der Straße um. […] Weder in der Öffentlichkeit noch im Hause trägt sie außergewöhnliche oder exzentrische Kleidung und verzichtet auf jede auffällige Farbe, die ‚die Blicke anzieht‘. Der Ton ihrer Stimme ist weder laut noch leise, weder schleppend noch schroff oder schrill. Sie spricht ganz natürlich, mit einer ordentlichen, weder zu tiefen noch zu hohen Stimme. Sie enthält sich jeder Überspanntheit in der Konversation […] Sie vermeidet unbändiges Lachen, indem sie sich daran gewöhnt, ihre Gefühle zu beherrschen.“

Marie dagegen zeigt sich in ihrem Tagebuch keinesfalls bescheiden und zurückhaltend, sondern stellt sich überaus extravagant und fordernd dar. Sie liebt es, mit ihren selbst entworfenen Outfits die Blicke im Theater und auf der Promenade auf sich zu ziehen, außerdem sieht sie sich gern nach Männern um und äußert in ihrem Tagebuch auf für ihre Zeit explizite Art ihre sexuellen Wünsche. Auch ihre häufigen Wutausbrüche und Stimmungsschwankungen, die sie gewissenhaft dokumentiert, entsprechen ebenso wenig dem gesellschaftlich akzeptierten Bild einer wohlerzogenen jungen Dame wie Maries grenzenloser Ehrgeiz und ihr Überzeugtsein von der eigenen Besonderheit: „Ich will Cäsar sein, Augustus, Marc-Aurel, Caracalla, der Teufel, der Papst!“

Die Offenheit und Nonchalance, die Bashkirtseff in ihrem Tagebuch an den Tag legt, rufen vernichtende Kritiken an Maries Person auf den Plan. Simone de Beauvoir sieht in Marie den Prototyp der weiblichen Narzisstin, die sich durch Entfremdung in ein „imaginäres Double“ selbst vernichtet und ihre Leidenschaft für die Kunst nur gespielt habe. Der englische Reformer William Stead ist so schockiert von Maries mangelnder weiblicher Demut, dass er sie gar zur “antithesis of the true woman” erklärt und fürchtet, dass sich andere junge Frauen an ihr ein Beispiel nehmen könnten.

Und Stead liegt richtig: Maries unerschrockene Selbstdarstellung als Künstlerin birgt ein hohes Identifikationspotenzial für spätere Künstlerinnen und Schriftstellerinnen. In ihren eigenen Tagebüchern, von denen einige später ebenfalls große Bekanntheit erreichen werden, halten sie den großen Einfluss fest, den die Lektüre des Journals auf ihr Denken und Schaffen hat. So berichtet Franziska zu Reventlow im Jahr 1901: „Ich lese Marie Bashkirtseff, das möchte die einzige Frau gewesen sein, mit der ich mich ganz verstanden hätte, vor allem auch in der Angst, etwas vom Leben zu verlieren und vor dem unerhörten Prügelbekommen vom Schicksal.“

Auch Anaïs Nin ist tief beeindruckt von ihrer Lektüre, am 23. September 1921 schreibt sie in ihr Tagebuch: „There are things [Marie Bashkirtseff] says that are reflected word for word here in my own diary. It’s enough to make me think I am mad and that I copied them – or else that Marie’s soul has been reincarnated in me.“

Für den verzerrten Mythos von Marie Bashkirtseff als tragischer, engelsgleicher Kindfrau zeichnet größtenteils die Rezeption ihres Tagebuchs durch männliche Leser und Kritiker verantwortlich. Wir verdanken es der Arbeit und Recherche von Frauen, dass wir heute ein verlässlicheres Bild von Bashkirtseffs Leben und Werk haben. Deutschen Leser*innen bleibt aber ein authentischer Eindruck davon, wie sich Marie Bashkirtseff in ihrem Tagebuch selbst präsentierte, bis heute vorenthalten. Es wird höchste Zeit für eine unverfälschte Neuübersetzung.

Anmerkung:
Doris Langley Moore verfasste 1966 die erste Biographie Marie Bashkirtseffs, die auf einer Lektüre der originalen Tagebuchmanuskripte anstatt auf den verfälschten Editionen Theuriets und Borels aufbaut – sie behandelt allerdings hauptsächlich das Jahr 1873 und Maries Schwärmerei für den Herzog von Hamilton. Colette Cosnier machte mit ihrer 1985 erschienenen Biographie „Marie Bashkirtseff – Un Portrait sans retouches“ erstmals ein breites Publikum auf das verfälschte Bild, das bis zu diesem Zeitpunkt von Marie Bashkirtseff kursierte, aufmerksam. In Frankreich ist inzwischen dank der Bemühungen des „Cercle des Amis de Marie Bashkirtseff“ eine vollständige Transkiption aller 103 Tagebuchmanuskripte, die sich im Besitz der Französischen Nationalbibliothek befinden, erschienen. Englische Leser*innen können seit einigen Jahren auf eine zweibändige Übersetzung der Tagebücher von Phyllis und Katherine Kernberger zurückgreifen, die im Gegensatz zu den früheren englischen Übersetzungen nicht auf Theuriets Edition, sondern auf den Originalmanuskripten basiert. In deutscher Sprache dagegen ist Bashkirtseffs Tagebuch noch nie in einer unzensierten Version erschienen. Die letzte deutsche Ausgabe von 1983, seit Jahren vergriffen, basiert auf der ersten deutschen Übersetzung von Lothar Schmidt aus dem Jahr 1897 und setzt die massiven Eingriffe in den Text, die Bashkirtseffs erster Herausgeber Theuriet vornahm, nicht nur fort, sondern wurde sogar gegenüber der Ausgabe von 1897 noch weiter gekürzt.

„Die unklare Ängstlichkeit vor atmosphärischen Revolutionen“ oder Über das Lesen und Schreiben im Anthropozän

Weil ich Fichtenwälder liebe,
ging ich durch Fichtenwälder
– Franz Kafka

I miss the earth so much
– Elton John

 

Gegenwartsliteratur, die sich im Rahmen eines epochalen Selbstverständnisses als Literatur im Anthropozän[1] begreift, ist auf die eine oder andere Weise Literatur in Zeiten bzw. im Zeichen der Klimakrise.[2] Im Essay Die große Verblendung konstatiert der indische Schriftsteller Amitav Ghosh indes einen Mangel: „Der Klimawandel [wirft] auf die Landschaften der literarischen Fiktion einen noch wesentlich kleineren Schatten […] als auf die öffentlichen Arenen“.[3] Ghosh macht einen „merkwürdigen Widerstand“ aus, den „der Klimawandel der heute sogenannten ernsten Erzählliteratur leistet“, um zu schlussfolgern: „Die Klimakrise ist auch eine Krise der Kultur und deshalb eine der Imagination.“[4]

Im Deutschlandfunk berichtete die Journalistin Sieglinde Geisel von einer Tagung im Literarischen Zentrum Göttingen, die sich im August 2019 dem Thema “Vom Klima schreiben” widmete. Ihre Bilanz entspricht Ghoshs Diagnose: „Ich würde sagen, den Roman zum Klimawandel gibt es noch nicht.“ Sie verweist auf in Göttingen anwesende Naturwissenschaftler wie den Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber, der der Literatur Untätigkeit vorwarf: „Der hat gesagt, ihr lasst uns im Stich, wo bleiben die Romane, wo bleibt die Matthäus-Passion, also alle Künste, wir haben die Kunst noch nie so dringend gebraucht wie heute, was ist los mit euch?” Hinsichtlich der zukünftigen Entwicklungen hält Geisel fest: „Das Problem ist ja, dass man diese Literatur nicht bestellen kann.“[5]

Angebot und Nachfrage in Zeiten der Klimakrise

Dieser Satz lässt sich umformulieren: Das Problem liegt nicht darin, diese Literatur nicht bestellen zu können, sondern darin, sie nicht bestellen zu sollen. Mit der Herausbildung einer Marktstruktur inkl. Produzierenden, Distribuierenden und Konsumierenden ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die (europäische) Literatur zu einer ökonomischen Angelegenheit geworden.[6] Die Entwicklung setzt sich bis heute fort. Das heißt auch: Wer Literatur als ein exklusiv ästhetisches oder imaginäres Phänomen betrachtet, ist mit Blindheit geschlagen bezüglich der ökonomischen (und sozialen)[7] Bedingtheiten, auf denen eine Idee wie das Schöne oder das Erfundene fußt.[8] Der Ruf nach einer neuen Imagination im Hinblick auf einen terrestrischen Notstand ist an dieser entscheidenden Stelle widersprüchlich: Das Prinzip, das die Klimakrise (mit-)verursacht hat, wird angewendet, um eben diese zu fassen zu kriegen. Die Argumentationen folgen einer Angebot-Nachfrage-Logik, laut der Literatur ein Service-Produkt ist, ein Bildgebungsverfahren, das ins Regal gehört.

An dieser Stelle möchte ich einsetzen, um einen anderen Weg auszuprobieren. Der Vorschlag soll keiner moralistischen Norm der Entsagung Folge leisten, die gerade zu oft zu laut propagiert wird. Es geht nicht darum, analog zum Fleisch- einen Schreibverzicht umzusetzen. Eine Gesellschaft braucht neue Gedanken in neuen Texten – aber auch Verfahren, um alte Texte zu lesen. Es geht um einen devianten Modus, sich mit Literatur im Anthropozän, das auch als „Kapitalozän“[9] zu begreifen ist, auseinanderzusetzen, und dabei die Selbstwidersprüche westlicher Lebensweisen ernst zu nehmen – und sei es nur für die Dauer eines Textes.

Die Relektüre als Möglichkeit einer Emanzipation

Die Relektüre bietet die Möglichkeit, eine Praxis der Literatur einzuüben, die abseits der kapitalistischen Mechanik operiert. Wer Slogans mag: Es geht um die Nachhaltigkeit der Literatur, um Reusing, um Recycling, das als eine „practice of emergency“ betrachtet werden kann. Das Konzept entstammt den sog. Ecopoetics, die sich damit beschäftigen, wie sich Mensch-Umwelt-Beziehungen als künstlerische Konstellationen umsetzen lassen. Der Herausgeber Jonathan Skinner hat den Begriff der Notfallpraxis 2012 vorgeschlagen; die Philologin Margaret Ronda versteht darunter Werke und Tätigkeiten, „that emphasize ecological interrelationality and complicity in environmental destruction, and often explore collective feelings of vulnerability, hopelessness, and dread“.[10]

Die Relektüre ist insofern anti-systematisch, als sie sich dem Produktionsparadigma entzieht. Wer das Anthropozän als Phänomen begreift, das alle lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand stellt, muss schließlich auch die Formen der literarischen Produktion und Rezeption hinterfragen. Eine solche Funktionalisierung ist nicht innovativ; ihr emanzipatives Potential wird längst genutzt, etwa in der feministischen Reihe Re-Reading the Canon, in der maßgebliche Texte der westlichen Philosophie-Tradition unter die Lupe genommen werden. Mit Steffen Richter lässt sich analog dazu festhalten: „Das Anthropozän – und das ist eine zentrale Erkenntnis – ist in literarischer Hinsicht weniger als Epoche interessant, als dass es eine Perspektive auf historische, aktuelle und zukünftige Texte eröffnet.“[11]

Dieser Text plädiert für eine Umkehr der Leserichtung. Die retrospektive Bewegung ist dabei nicht als reaktionär zu erachten, sondern stellt sich in den Dienst einer prospektiven Epistemologie. Hierzu eignen sich wegen ihrer Bedeutungsoffenheit Kunstwerke besonders: Sie lassen sich stets neu begehen. Ein Bonus dieser Methode mag darin liegen, dass die alarmistischen Debatten, die die nüchterne Argumentation zugunsten einer Mobilisierung von Empörung in den Wind schlagen, diesen Zeugnissen nicht eingeschrieben sind. Also: Hat Jules Verne in Der Einbruch des Meeres maritime Effekte der Klimakrise vorweggenommen? Lässt sich Friederike Mayröckers Gedicht [wird welken wie gras] als Drohbild kommender Desertifikationen lesen?

Die kommende Trauerarbeit. Über ein Gedicht Friederike Mayröckers

Das titellose Gedicht (1947) ist inspiriert von Johannes Brahms Ein deutsches Requiem, das ab 1861 entstanden ist und dessen Chorus wie folgt lautet: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras / und alle Herrlichkeit des Menschen / wie des Grases Blumen. / Das Gras ist verdorret /
und die Blume abgefallen.“ (Diese Verse beziehen sich wiederum auf 1. Petrus 1,24.)

Wird welken wie gras – auch meine Hand und die Pupille
wird welken wie gras – mein Fuß und mein Haar mein stillstes Wort
wird welken wie gras – dein Mund dein Mund
wird welken wie gras – dein Schauen in mich
wird welken wie gras – meine Wange meine Wange und die kleine Blume
die du dort weißt wird welken wie Gras
wird welken wie Gras – dein Mund dein purpurfarbener Mund
wird welken wie Gras – aber die Nacht aber der Nebel aber die Fülle
wird welken wie Gras wird welken wie Gras[12]

Alle Verse sind für sich genommen ein Lebens- und Sterbezyklus en miniature: Einem Gegenstand oder einer Tätigkeit wird prophezeit, abzusterben. Mit dem darauffolgenden Vers wiederholt sich die Vorhersage einer Dekadenz, mal ist die Hand gemeint, dann der Mund oder das Schauen, schließlich die Nacht. Das ist der regenerative Clou des Textes: Jeder Vers setzt mit dem Wissen ein, dass es wieder Gras gibt, Gras, das erneut welken kann, nachdem der vorherige Vers es im Rahmen eines Vergleichs hat vertrocknen lassen. Der Text zieht seine Dynamik aus der Idee einer intakten Natur, deren Wirkkraft sich in den Phasen von Blühen und Absterben zeigt. Ohne die Garantie einer solchen zyklischen Vitalität käme das lyrische Sprechen in [wird welken wie gras] zum Erliegen.

An dieser Stelle der Relektüre wird die Trauer, die dem Gedicht eigen ist, für die Leserschaft zur Ressource: Die Trauer bezieht sich nicht nur auf die Vergänglichkeit des Körpers, wie Mayröckers lyrisches Ich sie inszeniert, sondern auch auf die Vergänglichkeit des Verständnisses einer gesund(end)en Natur, das uns blindlings getröstet hat. Dabei spielt die Zeitform des Futurs, die [wird welken wie gras] organisiert, eine wichtige Rolle. Bei Mayröcker wird die Gegenwart im Hinblick auf die kommende Dürre gepriesen: Weil der Körper wie Gras welken wird, müssen wir ihn heute feiern.

Wenn aber die Natur nicht kollabieren wird, sondern im Hier und Jetzt kollabiert, bleibt uns für diese Feier des Lebens keine Zeit mehr. Die Zukunft des Textes ist zur Gegenwart der Leserschaft geworden. Denn die zyklischen Sicherheiten der Natur, in denen wir uns eingerichtet haben, sind nicht mehr unumstößlich. Einer ökologischen Trauer im Anthropozän eignet infolgedessen eine zusätzliche Qualität: „[T]he more radical idea of nature’s end demands an emphasis on what is not, on the negative workings of creative imagination in light of a concept’s withering-away.”[13]

Just dieses Verkümmern eines Konzepts nötigt einen dazu, ein alternatives Naturverständnis zu entwickeln, das anti-regenerative Mechanismen miteinschließt. Anders ausgedrückt: Es geht darum, tipping points in den Blick zu nehmen. Sie sind strukturell betrachtet das Gegenteil dessen, was Mayröckers Gedicht Halt gibt: Es gibt keinen Kreislauf; es ist unmöglich, eine Szene zu reproduzieren oder zu konservieren. Der Begriff ist durch und durch fatalistisch, schließlich trennt er eine Zeitspanne in ein (gutes) Davor und ein (schlechtes) Danach. Wenn die Eiskappen eine bestimmte Schmelzdynamik entwickeln, ist sie unumkehrbar, selbst wenn man nach dem Erreichen des tipping points die Bedingungen herstellt, die erforderlich gewesen wären, um das Abschmelzen vor dem tipping point zu verhindern.

In Juliana Spahrs Gedicht Gentle Now. Don’t Add to Heartache von 2005 gibt es einen solchen Kippmoment. Margaret Ronda stellt das Gedicht, das als Schlüsseltext der ecopoetics gilt, im bereits angeführten Aufsatz vor. Auf den ersten Teil des Gedichts, der ein paradiesisches Leben in der Nähe eines Flusses imaginiert, folgt ein tipping point: Das Sprechen wird elegisch, die Verben stehen nicht mehr in der Gegenwarts-, sondern in der Vergangenheitsform. Dieser zweite Teil entspricht dem biblischen Narrativ einer selbstverschuldeten Vertreibung aus einer Natur, die, zerstört und verschmutzt, wie sie jetzt ist, kein Obdach mehr bietet. Die Lektüre Spahrs ebenso wie die Relektüre von Mayröcker ist nicht ohne Melancholie zu haben, weil beide eine Erfahrung des Verlusts thematisieren. Weder Rettung noch Regeneration sind in Sicht, und es bleibt nichts zu tun, als sich der Elegie hinzugeben: „I did not sing I see, I see. / I did not sing wo, wo!“[14]

„Woher kam dieses Wasser?” Über einen Roman Jules Vernes

In Jules Vernes Roman Der Einbruch des Meeres (L’invasion de la mer, 1905) will ein Konglomerat aus europäischen Händlern, Ingenieuren und Politikern ein Talgebiet in Nordafrika fluten, um das sog. Saharameer anzulegen.[15] Die gesamte Topographie würde sich ändern, was neben ökonomischen auch militärische und politische Veränderungen nach sich zöge. Es war Vernes letzter Roman, zum Zeitpunkt der Niederschrift war er gesundheitlich angeschlagen. (Es wird angenommen, dass sein Sohn Michel an der Redaktion beteiligt war.) Das Buch wartet mit vielem auf, was Vernes Texte beliebt machte: mit einem rigiden Fortschrittsglauben inkl. Lobliedern auf technische Errungenschaften, dem Erfolgsversprechen westlicher Expeditionen, dazu kolonialistischen Portraits indigener Bevölkerungen.

Der Roman ist mittelmäßig, seine trivialen Prinzipien sind von Beginn an einsichtig: Die Europäer bringen die Zukunft, die Einheimischen lehnen sich auf, aber ihre rückständige Revolte lässt sich brechen, am Ende gelingt das zivilisatorische Projekt. Alle dürfen sich freuen, die Ingenieure, die bekehrten Einheimischen, die Leserschaft. Aber schon der erste Satz verspricht, dass hier etwas anderes zu holen ist: „Ja … was weißt du nun?“, fragt ein Stammeskrieger, um zu erfahren, wo der Anführer einer aufrührerischen Touareg-Gruppe festgehalten wird. Es geht immer wieder um Wissenspraktiken, darum, Unwägbarkeiten in den Griff zu bekommen: Wie wird sich das Mittelmeer, das durch einen 150 Kilometer langen Kanal fließen soll, im Tal ausbreiten? Wird das neue Klima die Oasen intakt lassen? Wie verhalten sich die Ansässigen, wenn das Wasser kommt?

Gut ist nur der Schluss. Auf der Suche nach einem Nachtlager bemerkt die Expedition, dass etwas nicht stimmt: „Der Boden wurde immer schlechter. Seine Kruste brach zuweilen unter dem Fuße, und dann glänzte der Sand herauf, aus dem das darin enthaltene Wasser hervorquoll. Manchmal geriet man bis ans Knie in das halbflüssige Gemisch, und es kostete Mühe, sich daraus wieder zu befreien.“ Die Truppe rettet sich auf einen Hügel und verbringt die Nacht in ängstlicher Neugierde. „Es gewann den Anschein, als ob hier plutonische und neptunische Naturkräfte miteinander unter dem Schott im Kampfe lägen und dessen Boden mehr und mehr veränderten.“ Am nächsten Morgen geht das erratische Naturspektakel weiter: Eine Herde Tiere, „reichlich vierhundert Raubtiere und Wiederkäuer, Löwen, Gazellen, Antilopen, wilde Schafe und Büffel“, prescht vorbei. Den Figuren fehlt das Verständnis, um diesen Aufruhr zu begreifen. Sie sind erstaunte und erschreckte Beobachter: „Was, zum Kuckuck, geht denn überhaupt da draußen vor?“… „Ja … was kann da geschehen sein?“ … „ Sollten die Tiere auf uns zugestürmt kommen? “ … „ Und wohin könnten wir dann fliehen? “

Später rollt eine Flutwelle heran, die durch seismische Bewegungen ausgelöst wurde und die Gegend in ein Binnenmeer verwandelt. Selbst das Erdbeben als Naturkatastrophe fügt sich bei Verne in das Narrativ zivilisatorischen Gelingens: Die Expedition überlebt, während das Wasser die fliehenden Touareg-Reiter verschluckt. Später schlängelt sich als deus ex machina ein Dampfer heran, um den Trupp zu retten. Der Chefingenieur Schaller empfiehlt lachend, sich schleunigst Aktien des Saharameers zu sichern. Das Kapital siegt, das Kapitel endet.

Der Einbruch des Meeres wird dann interessant, wenn man den Text gegen den Strich liest. Es gilt heute, den Einbruch des Meeres zu verhindern, nicht herbeizuführen. Es gilt küstennahe Habitate zu schützen, nicht deren Bewohner*innen zu vertreiben. Es gilt solidarische Wissenspraktiken einzuüben, die auf Fragen wie „Und wohin könnten wir dann fliehen?“ oder „Woher kam das Wasser?“ andere Antworten geben. Denn es ist eine miese Fantasie, zu hoffen, später zu denjenigen zu gehören, die auf einem Hügel sitzen, auf Rettung warten und dabei einer Ideologie anhängen, die für jene Krise mitverantwortlich ist, die allmählich alle überall heimsucht.

In Vernes Roman meint der Mensch indes, in einer Landschaft, die eine andere geworden ist, derselbe bleiben zu können. Gespeist wird der Narzissmus von einer technokratischen Imagination: Der Damm, die Bagger, der Kanal, der Dampfer – alles ist zu Diensten. Damit lässt sich die Umwelt dominieren. Gerade wegen ihrer Naivität ist diese idée fixe, die innerhalb der Fiktion belohnt wird, außerhalb derselben zu hinterfragen. Im Anthropozän findet sie ihre Weiterführung im Geo- bzw. Climate Engineering, in der Idee, mit technischen Eingriffen das Klima zu verändern. Dazu zählen Spiegel im All, reflektierende Aeresole oder subterrane CO2-Speicherung. Der Geograph Hans Gebhardt weist auf die Dialektik des Konzepts hin: „Umwelt- und Klimaschutz werden bei Climate Engineering zu einer ,technischenʻ Möglichkeit, um die Folgen von ,Technikʻ zu reduzieren.“[16]

„Ja, wer kann mit Sicherheit in der Zukunft lesen?“, fragt Schaller sich zwischendurch. „ Unser Planet hat ja, das unterliegt keinem Zweifel, schon die außerordentlichsten Ereignisse gesehen, und ich leugne nicht, daß jener Gedanke mich, ohne gerade belästigend zu wirken, doch recht oft beschäftigt.“ Das Anthropozän ist gewissermaßen die zur Metapher gewordene Beschäftigung mit dem Planetarischen. Während Schaller & Co ihre ausbeuterische Tätigkeit noch zur Wohltat verklären konnten, ist die human agency mehr als ein Jahrhundert später problematisch geworden. Welche „außerordentlichen Ereignisse“ stehen bevor? Und wie werden wir ihnen begegnen? Eins steht jedenfalls fest: Die kommenden Naturkatastrophen werden sich nicht fügen in Vorstellungen eines neurotisch fortschrittlichen Plots.

So steht am Ende erneut die Melancholie – und ein letztes Lesen gegen den Strich: In Der Einbruch des Meeres folgten wir fast durchgängig der Perspektive der Überheblichen, Unbekümmerten und Machtversessenen. Aber was ist mit den vielen anderen inner- und außerhalb des Buches? Mit denjenigen, die vor Wassermassen fliehen, vor Dürren flüchten und vor Bränden Reißaus nehmen müssen? Dorthin kann die literarische Tätigkeit im Anthropozän, egal ob sie als eine lesende oder schreibende gedacht wird, ihren Blick im Rahmen einer „practice of emergency“ richten, dort kann sie sich aufrichten:

[1] Vgl. zur Begriffskritik Hans Gebhardt: Das „Anthropozän“ – zur Konjunktur eines Begriffs. In: Heidelberger Jahrbücher Online (1/2016), S. 28-42 sowie Helmuth Trischler: Zwischen Geologie und Kultur. Die Debatte um das Anthropozän. In: Anja Bayer u. Daniela Seel (Hgg.): All dies hier, majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän. Berlin 2016, S. 268-286, hier S. 268f.

[2] Axel Goodbody spricht davon, dass „der Begriff ,Anthropozänʻ über rein Geologisches hinaus zur Chiffre geworden [ist] für sämtliche Herausforderungen planetarischen Ausmaßes, die aus Umweltveränderungen hervorgehen – ob kultureller, ethischer, ästhetischer, philosophischer oder politischer Art“ (Axel Goodbody: Naturlyrik – Umweltlyrik – Lyrik im Anthropozän. Herausforderungen, Kontinuitäten und Unterschiede. In: Bayer u. Seel: All dies hier, S. 287-305, hier S. 288).

[3] Amitav Ghosh: Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare. Aus dem Englischen von Yvonne Badal. München 2017, S. 16.

[4] Ebd., S. 18 u. 19.

[5] Das Gespräch mit Sieglinde Geisel ist einsehbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/climate-fiction-co-der-klimawandel-als-randthema-in-der.1270.de.html?dram%3Aarticle_id=458378.

[6] Als der Geologe Paul J. Crutzen 2002 den erstmals im Jahr 2000 von ihm und dem Biologen Eugene F. Stoermer vorgeschlagenen Begriff des Anthropozäns in einem Heft von Nature erläutert, schreibt er: „The Anthropocene could be said to have started in the late eighteenth century, when analyses of air trapped in polar ice showed the beginning of growing global concentrations of carbon dioxide and methane.“ (Paul J. Crutzen: Geology of mankind. In: Nature Vol. 415 [03.01.2002], S. 23). Es ist dieselbe Zeitspanne, die für die Entstehung europäischer Literaturmärkte veranschlagt wird, vgl. dazu Thomas Wegmann: „Liebe Kindlein, / Kauft ein!“ Zum bilateralen Verständnis von Literatur und Markt um 1800, einsehbar unter: https://literaturkritik.de/id/20091#_ftnref19.

[7] Katharina Herrmann: Literatur. In: Leander Steinkopf (Hg.): Kein schöner Land. Angriff der Acht auf die deutsche Gegenwart. München 2019, S. 95-120.

[8] Eine beeindruckende Studie dazu, wie stark die Literaturproduktion kapitalistischen Erwägungen folgt, hat der US-amerikanische Literatursoziologe Clayton Childress mit Under The Cover vorgelegt. Vgl. für den deutschen Literaturmarkt Philipp Schönthaler: Schreiben im Zeichen des Geldes. In: Volltext 04/2018, einsehbar unter: https://volltext.net/texte/philipp-schoenthaler-schreiben-im-zeichen-des-geldes/.

[9] Donna Haraway: Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chtulucene. Making Kin. In: Environmental Humanities (6/2015), S. 159-165, einsehbar unter: http://environmentalhumanities.org/arch/vol6/6.7.pdf.

[10] Margaret Ronda: Mourning and Melancholia in the Anthropocene. In: Post45, o. P., einsehbar unter: http://post45.research.yale.edu/2013/06/mourning-and-melancholia-in-the-anthropocene/.

[11] Steffen Richter: Die große Erzählung. Literarische Narrative des Anthropozäns. In: Dritte Natur 1 (01.2018), S. 145-155, hier S. 153.

[12] Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. Frankfurt am Main 2003, S. 33.

[13] Ronda, o. P.

[14] Ebd.

[15] Das französische Original ist im PDF-Format einsehbar unter: https://beq.ebooksgratuits.com/vents/Verne-invasion.pdf. Das Zitat im Titel ist dem Roman entnommen. Die zitierte Fassung ist einsehbar unter: https://gutenberg.spiegel.de/buch/der-einbruch-des-meeres-9313/1. Das Bild am Artikelende ist der französischen Erstausgabe von 1905 entnommen.

[16] Gebhardt: Das „Anthropozän“, S. 31. Die Idee eines guten Anthropozäns, in dem das Climate Engineering die negativen Effekte der Klimakrise verhindert, ja sie sogar durch positive Maßnahmen konterkariert, wird äußerst kritisch betrachtet. Die Allmachtsfantasie, die dahinter steckt und die u. a. Vernes Roman speist, ist ein Auslöser, nicht die Lösung des Problems. Vgl. Clive Hamilton: The Theodicy of the „Good Anthropocene“. In: Environmental Humanities (7/2015), S. 233-238, einsehbar unter: http://www.environmentalhumanities.org/arch/vol7/7.14.pdf.


In einer ersten Fassung ist dieser Beitrag erschienen in: Forum (Heft 401), Zeitschrift, für Politik, Gesellschaft und Kultur. (https://www.forum.lu/)

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Wahr, glokal und hier und jetzt – Literatur & Internet

„Die wichtigen Dinge des Lebens geschehen nicht im Internet.“

Es zeugt von einer seltsamen Unkenntnis des Lebens sehr vieler Menschen im 21. Jahrhundert, wenn ein Schriftsteller in unserer Gegenwart solche Aussagen trifft. Und doch scheint Alex Capus, einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller der letzten zehn Jahre, der Ansicht zu sein, dass das Internet kein Ort für das echte und wahre Leben sei. Deswegen hat er eine Kneipe eröffnet. Das sei wie Facebook, nur ohne Internet, schreibt er in einem Text für die Schweizer Zeitschrift Das Magazin. Und genau so hält es der Ich-Erzähler seines Romans Das Leben ist gut (2016), auch er wird Besitzer einer Kneipe, unter anderem, weil er fürchtet, dass Menschen sich nur noch im Internet begegnen. Die Angst vor dem Verschwinden der Menschen aus dem vermeintlich wahren Leben in Kneipen und auf der Straße in das vermeintlich falsche Leben im Internet ist ein stetig wiederkehrender Topos der Kulturkritik der letzten Jahre. Diese Perspektive auf digitales Leben teilt auch Mizuko, selbst Schrifstellerin und eine fiktive Figur in dem gerade auf deutsch erschienenen Roman Sympathie (2017) der britischen Schriftstellerin Olivia Sudjic: Das Internet sei „Gift für jeden Plot“, äußert sie, sie „schreibe nur über das wahre Leben.“

Aber was genau soll das wahre Leben sein? Warum sollte wahres Leben das Leben in und mit einer digitalen Welt ausschließen? Wieso sollten das Internet, das dort gespeicherte Wissen, die Möglichkeiten und auch die Gefahren des Onlinelebens und ihr Einfluss auf das analoge Leben nicht ebenso literaturfähig sein wie das, was die fiktive Autorin Mizuko und der reale Autor Alex Capus das wahre Leben, also ein Leben ohne Internet, nennen.
Eine immer größer werdende Zahl von Menschen weltweit verfügt über einen regelmäßigen Zugang zum Internet, schreibt E-Mails, sucht auf Google nach Informationen, schaut Videos auf Youtube und Serien auf Netflix. Selbst diejenigen, die nicht aktiv einen Teil ihres Lebens in den sozialen Netzwerken von Facebook über Instagram bis TikTok und Twitter verbringen, nutzen zu großen Teilen inzwischen Messengerdienste zur Kommunikation mit Freund*innen und Familie. Ein Leben ohne Internet ist zunehmend undenkbar. Aber die Annahme, dass das Leben, welches sich in digitalen Räumen abspielt, kein wahres Leben sei, ist immer noch weit verbreitet.

Glokal und wahr – Leben und Erleben mit dem Internet

Aber genau diese digitalen Räume bieten in Wahrheit Impulse für literarische und ästhetische Innovationen, deren Möglichkeiten die Literatur gerade erst zu erkennen beginnt. Wie nie zuvor nehmen wir uns selbst und den Raum, in dem wir uns bewegen und leben, in Bezug zu Menschen und Orten wahr, denen wir physisch nicht nahe sind. Diese Art der Wahrnehmung, die manche Medienkritiker*innen als so verheerend für unseren Zugang zur Welt ansehen, beschreibt der Mediensoziologe Joshua Meyrowitz in The Rise of Glocality aus neutraler Perspektive, indem er den Begriff glokal um eine Ebene erweitert. Die räumliche und soziale Wahrnehmung unseres Lebens in Zeiten der digitalen Vernetzung lässt uns das Lokale grundsätzlich im Zusammenhang mit einem weltweiten Netz aus Kulturen, Menschen und Orten wahrnehmen. Diese sind nicht physisch präsent, sie beeinflussen aber unseren Zugang zu unserer fassbaren Umwelt. Wir schreiben mit Menschen in anderen Städten, während wir durch unser Viertel gehen, wir betrachten Fotos von Stränden und Wäldern, während wir im Café in der Großstadt sitzen. Wir leben in Glokalitäten (glocalities), in lokalen Räumen, auf die eine vernetzte globale Matrix (interconnected global matrix) gelegt wurde. So sind wir zwar stets an einem Ort physisch anwesend, jedoch gleichzeitig immer verknüpft mit einem globalen Netz aus Informationen, Menschen und Orten.

Wie die Literatur diese Weltwahrnehmung für sich nutzbar machen kann, Ähnliches Fotohat unter anderem Berit Glanz im letzten Jahr in ihrem Roman Pixeltänzer (2019) gezeigt. Darin werden nicht nur zwei Handlungsstränge verwoben, sondern die Autorin bindet über digitale Kommunikation räumlich weit entfernte Figuren und Orte in den Erlebnisraum der Protagonistin ein und schafft damit literarisch ein Gefühl für dieses glokale Erleben. Der Literatur öffnen sich dadurch nicht nur Kommunikationsräume für Figuren, sondern sie kann die Allgegenwart von Wissen, Bildern und virtuellen Räumen ästhetisch und handlungsbezogen für sich nutzen. Denn auch in der Fiktion dieses Romans ist Wissen allgegenwärtig, Kommunikation immer möglich und das Internet alltäglich, es erweitert den Horizont des wahren Lebens in der Fiktion ebenso wie in der Realität. Auch Sudjics Roman Sympathie ist in seinen besten Momenten eine Darstellung dieses Lebens in einer glokalen Umwelt, die durch unsere Geräte als Schnittstelle entsteht. So folgt die Protagonistin Alice Link um Link auf Wikipedia und verliert sich so in einem digitalen Wurmloch aus Informationen, sie erkundet New York anhand einer digitalen Landkarte und erschafft sich auf Instagram eine Teilidentität in der nordamerikanischen Metropole.

Fruchtbare Gefahren – Risiken der digitalen Welt

Wenn analoges und digitales Leben miteinander verschmelzen, werden aber auch Unsicherheit und Überforderung erzeugt, die sich unter anderem in Haltungen wie der von Alex Capus ausdrücken. Diese Gefahren und Unwägbarkeiten des Internets sind keine reinen Hirngespinste: Sucht und soziale Abhängigkeit, unsichere Daten, falsche Identitäten, oberflächliche Beziehungen, Einfluss durch Großkonzerne und Gewalt sind Tatsachen unseres Lebens im digitalen Raum. Allzuoft verfällt Literatur aber angesichts dieser Gefahren in eine reflexartige Abwehrhaltung, anstatt sie erzählerisch zu nutzen, wie sie es mit den Unwägbarkeiten der analogen Welt seit Jahrtausenden tut. Philipp Schönthaler nutzt das erzählerische und ästhetische Potential, das sich auch auf der Kehrseite der glokalen Gegenwart finden lässt. Während Sudjic und Glanz auf unterschiedliche Weise den Alltag in sozialen Netzwerken und unseren Umgang mit der digitalen Welt literarisch umsetzen, verwebt Schönthaler in Der Weg aller Wellen (2019) die digitalen Fallstricke sozialer Netzwerke und der Techwelt mit der Vision einer nahen Zukunft, in der Digitalität weder die heilsbringende Botschaft des Neuen noch eine verheerende, kulturzerstörende Kraft ist. Der Roman zeigt, wie sich die Risiken für Identität und Privatsphäre zur Spannungserzeugung und als Plotpoints nutzen lassen, ohne sie als Kulturpessimismus abzutun und ohne gleichzeitig die Realität unseres Lebens mit dem Internet zu ignorieren. Die Risiken, die das glokale Erleben und eine Dauerpräsenz von Kommunikation und Zugang zu fremden Menschen und Wissen birgt, sind ebenso literarisch fruchtbar zu machen wie die reine Faszination, die sie auslösen können.

Permanente Kommunikation? Zwischenmenschliches in Zeiten des Internets

Die riskanten und kritikwürdigen Seiten schließt auch Olivia Sudjics literarischer Blick auf das Internet und vor allem auf soziale Medien mit ein. Doch sie betont ebenso den verbindenden und positiven sozialen Wert von Instagram, Twitter und Co. Das wird insbesondere in dem bisher nur auf Englisch erschienenen langen Essay Exposure (2018) deutlich, in dem sich vor allem zeigt, dass Sudjics Kernthema anxiety ist: die nervösen, an Panik grenzenden Angstzustände, die sowohl sie selbst als auch die Protagonistin ihres Debütromans immer wieder erleben. Sudjic beschreibt diese Zustände in ihrem Essay als Momente einer extremen Sensibilität: “The easiest way to imagine the baseline feeling is having just finished a third coffee when someone texts: ‘we need to talk’ and then doesn’t call for hours, or at all.” Dieses Gefühl sei der Ausgangspunkt für ihr fiktionales Schreiben in Verbindung mit den Kommunikations- und Selbstdarstellungsoptionen der digitalen Welt. Alice, die Protagonistin von Sympathie, gerät in eine emotionale Abhängigkeit zu der Autorin Mizuko, die sie zunächst durch ihre Onlinepräsenz auf unterschiedlichen Plattformen kennenlernt. Der Moment, in dem sie Mizukos Profil auf Instagram zum ersten mal sieht, ist selbst auf einem Foto festgehalten:

“In genau diesem Moment entdeckte ich Mizukos Instagram-Account. […] An meinem gesenkten Blick erkenne ich, dass ich langsam verblasse. Oder dass die greifbare Welt, um mich herum, die Wirklichkeit, langsam davongleitet, wie feuchter Sand, der im Wasser nach unten sinkt.”

Dass die Erzählerin Alice ebenso wie Lewis Carolls berühmte Protagonistin in einem – in diesem Fall digitalen – Wunderland verschwindet, mag eine sehr naheliegende und nicht fruchtbar subtile Anspielung sein. Doch das, was im Folgenden geschieht, hat tatsächlich deutliche Parallelen zu einem Versinken in einem Wunderland zwischen Traum und Wachzustand.

Alice ist hingerissen von dem digitalen Auftritt der japanischen Schriftstellerin Mizuko und beginnt ihr auf verschiedenen Plattformen zu folgen, bevor sie schließlich mit Hilfe von Ortsangaben in Instagram-Posts ein scheinbar zufälliges Treffen in einem Café arrangiert. Diese Beziehung und ihre Entwicklung vollziehen sich sowohl digital als auch analog. Und daran, wie Sudjic das darstellt, zeigt sich, dass sie es versteht, die Alltäglichkeit des Internets narrativ zu nutzen. Die Spannung, die der Roman aus der permanenten digitalen Kommunikationsmöglichkeit und ihrer Verweigerung zieht, ist beeindruckend:

“Keine Antwort. Nicht mal gelesen. […] Gesendet blieb grau und flach. Ich wartete darauf, dass es blau würde – das leuchtende, wunderschöne Blau, das eine Nervenbahn zwischen uns schaffen würde.
”

Die aufkommende Anspannung, mit der man auf eine Reaktion wartet, die sich steigernde Nervosität, die einsetzt und sich in panische Unruhe verwandelt, wenn eine Nachricht zwar gelesen, aber noch nicht beantwortet wurde, beschreibt Sudjic eindringlich. Dieses verbale Schweigen, das aber eine außersprachliche digitale Kommunikation zwischen zwei Figuren darstellt, wird zum spannungserzeugenden literarischen Mittel. Eine Person anhand ihrer Ortsmarkierungen auf Googlemaps und Instagram zu verfolgen und das sehnsüchtige Warten auf die Statusanzeige online im Chatfenster mit einer geliebten Person, die im Roman beschrieben sind, können ebenso romantische Gesten und Momente digitaler Nähe sein, wie sie Stalking und Abhängigkeiten darstellen können. Das Beispiel zeigt, dass die Darstellung digitalen Lebens kein Hindernis für spannendes literarisches Schreiben sein muss, es kann ebenso neue Formen von Beziehungen zwischen Figuren erzeugen, die auf Plotebene durchgespielt werden können.

Virtuelle Räume als erfahrbare Lebenswelten – Erweiterungen der Fiktion

Genauso wie soziale Medien und Chats literarisch verwertbar sind, erzeugt das Internet auch virtuelle Räume, in denen sich literarische Figuren bewegen können. Das können nicht nur Städte in aller Welt sein, die virtuell erfahrbar werden,  sondern auch ausschließlich virtuelle Räume, die ebenso weltweit bekannt sind wie Metropolen wie New York, Paris oder Berlin. Teile des Romans Miami Punk (2019) von Juan S. Guse spielen auf Karten, sogenannten maps, des populären Online-Taktik-Shooters Counter Strike, in denen im Roman mysteriöse Figuren auftauchen, denen ein Protagonist mit seinem Spielteam nachspürt. Diese virtuellen Räume sind vielen Menschen ebenso bekannt wie Orte der physischen Umwelt, sie sind Teil erfahrbarer Lebenswelt, auf die ein literarischer Text ebenso referieren kann wie auf nicht-virtuelle Städte, Landschaften und Dörfer. Wie diese Räume zum Teil unserer Erfahrungswelt werden können, beschreibt Berit Glanz in einem Artikel für die FAS, in dem sie für die Aufhebung der Trennung dieser Räume plädiert:

“Wer eine Zeitlang in seinem Alltag zwischen virtuellen und realen Räumen hin- und hergewechselt ist, wird wahrscheinlich sehr konkret erfahren haben, dass diese Abgrenzung wenig Sinn ergibt, dass das eigene im Internet gelebte Leben oft starke virtuelle Spuren hinterlässt und dass manche Orte im Internet zweifelsohne mit Aura aufgeladen sind. Das digitale Leben kann in die Realität hineintreten oder sich untrennbar mit ihr verzahnen.”

In Guses Roman wird diese Verzahnung literarisch umgesetzt, es kommt nicht nur zur Erkundung dieser Lebensräume, sondern durch Kommunikation mit Figuren in dem Computerspiel, die sich auf das Leben außerhalb der virtuellen Räume beziehen, werden die maps des Spiels zu Handlungsräumen auf der gleichen Ebene wie der analoge Raum, in dem sich der Protagonist körperlich befindet. Auch Alice in Sudjics Roman durchstreift mithilfe von Google Street View Manhattan, nachdem sie die Stadt verlassen hat, und schafft damit einen digitalen Erinnerungsraum, den sie durchschreiten kann und der sich mit ihrer Vergangenheit verbindet.

Das Internet als Chance für die Literatur

Internet und Social Media sind weit davon entfernt, die Literatur und unser analoges Leben zu zerstören. Ebensowenig sind sie eine Quelle puren Glücks. Jenseits solch polarisierender Bewertungen sind sie vielmehr ein Faktum unserer Gegenwart, das literarisches Schreiben ebenso befördern wie hemmen kann. Leben in virtuellen Räumen, eine Omnipräsenz von Internetlebenswelten und dadurch erzeugtes glokales Leben und Erleben erzeugen neue Spielmöglichkeiten für die Erschaffung fiktiver Welten und Figuren. Das Leben mit der digitalen Welt des Internets kann ein Antrieb für Fiktion sein und dessen Inspirationen müssen nur literarisch verarbeitet werden, anstatt sie als natürlichen Feind von literarischer Fiktion anzusehen. Vielleicht ist es vielmehr Unkenntnis, die ein solches Erzählen so lange verhindert hat. Das erkennt auch Alice in Sudjics Sympathie:

“Sie verstehen nicht, was man mit dem Internet machen kann – manchmal gibt es kein Ende, keinen Ausweg. Sie verstehen nicht, dass nichts privat bleibt und nichts verschwindet, dass wie bei der Welle der hintere Teil den vorderen einholt.”

Die Mechanismen des Internets und insbesondere von Social Media stellen Romanautor*innen vor neue Herausforderungen. Sie müssen damit umgehen, dass Figuren über tausende Kilometer hinweg in Echtzeit und überall kommunizieren können, dass eine spezifische Form der Sprache durch Emojis und Memes entstanden ist und vor allem damit, dass Informationen immer und überall abrufbar sind. Denn die auffällige Abwesenheit von Smartphones und Internet in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und das erstaunlich analoge, d.h. nicht-digitale Leben vieler literarischer Figuren in Romanen aus den letzten Jahren, liegen vermutlich auch darin begründet, dass Unwissenheit und scheinbare Ausweglosigkeit bewährte und durchaus sinnvolle Handlungs- und Spannungsförderer sind.
Der Protagonist, der eine wichtige Information nicht einfach googeln, oder die Protagonistin, die ihre Freundin nicht sofort per WhatsApp informieren kann, bieten den Autor*innen erzählerischen Raum für einen Spannungsaufbau, weil Probleme und Konflikte nicht mit einem Blick auf das Handy lösbar sind. Im Roman Gesang der Fledermäuse (2009) der Nobelpreisgewinnerin Olga Tokarczuk leben die Figuren auf einem verschneiten Hochplateau in den Bergen Polens, der mobile Handyempfang ist dort mindestens unzuverlässig. In entsprechenden Momenten der Handlung kann ein entscheidender Anruf nicht getätigt werden, wodurch die Situation erst einmal in der Spannung verharrt, die durch fehlende Informationsweitergabe ausgelöst wird. Anders gesagt: Fehlendes Wissen fördert Spannung.

Eine gerade erschienene Netflix-Dokuserie ist aber ein Beispiel dafür, dass all diese Eigenschaften des Internets spannende Plots eben nicht verhindern und stattdessen neue Formen des Erzählens schaffen. Schnelle Kommunikation vieler Menschen, Medien- und Sprachvielfalt, digitale Räume und die permanente Verfügbarkeit von Informationen sind die Kernelemente der Doku-Serie Don’t F**k With Cats: Hunting an Internet Killer, die in Form von faktualem Erzählen die Jagd auf Luka Magnotta schildert und die in all ihrer Surrealität beinahe wie die Handlung für einen spannungsgeladenen und plotgetriebenen Roman klingt. Sie berichtet von dem realen Fall einer weltweiten Jagd auf einen kanadischen Pornodarsteller und Model, die 2010 durch ein Video auf einer Internetplattform ausgelöst wurde, in dem ein junger Mann zwei Katzen tötet. Daraufhin entstand eine globale Online-Community, die anhand des Videos Hinweise auf den Täter suchte, der, von der Aufmerksamkeit angestachelt, weitere Tötungen von Tieren und schließlich einen Mord an einem Menschen beging, bevor er 2012 gefasst wurde. Was dieser Fall zeigt, ist nicht nur, dass sich im Internet genauso wie in der analogen Welt Gewalt und Grausamkeit und Gemeinschaft und Unterstützung finden lassen, sondern auch dass sich dort wahres Leben abspielt, das Inspiration für fiktionales Erzählen bieten kann. Das sollte eigentlich jedem literarisch schreibenden und lesenden Menschen klar sein; auch Alex Capus.

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