Kategorie: Rezensionen

Kate Tempest, Kurt Drawert, E.E. Cummings und Ann Cotten

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Das Rezensieren von Gedichtbänden fällt nicht immer leicht. Doch zu diesen vier in letzter Zeit gelesenen, Neuerscheinungen und einem Klassiker, sollen einige Worte des Lobes und der Kritik verloren werden.

Verbannt! – Ann Cotten – Versepos

ann cotten verbannt versepos suhrkampAnn Cotten ist ein sehr verschlossener Mensch, in Interviews durchaus sperrig, mit verschränkten Armen, gib sie gelangweilte Antworten. Diese rätselhafte Frau hat ein Versepos geschrieben, das als genaues Gegenteil daherkommt.

Eine in Ungnade gefallene Fernsehmoderatorin wird auf eine einsame Insel verbannt, ausgerüstet nur mit einem Messer, einem Schleifstein und Meyers Konversationslexikon von 1910. Auf dieser Insel wohnen bereits 25 Matrosen in einer merkwürdigen Gesellschaftsform, einer Schraubenreligion anhängend und ständig Druckerzeugnisse produzierend. Im Interview mit der Welt sagte Paul Jandl man könne in Verbannt “ganz trivialen Spuren folgen oder die Sache sehr hoch hängen” und das trifft den Kern dieses wunderbaren Epos. Cotten ist zwar eine unterhaltsame, ja lustige Erzählerin, doch die zwischen Uto- und Dystopie schwankende Geschichte enthält viel Zündstoff: wie funktioniert eine Gesellschaft, welchen Stellenwert hat Religion oder das Internet und natürlich die ewige Frage nach dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Gekrönt wird dieses Epos in Pseudo-Spenserstophen durch die Illustrationen der Autorin.

Dem allen zuliebe wird der folgende Sang recht lang,
Und wie es sich für einen Stripteaser gehört,
zieh ich mir für den Anfang recht viele Klamotten an,
die meine Seele im Laufe der Handlung verlieren wird,
während sie sich auf allerlei reizende Weise drin verirrt.
Hören Sie also die entsetzliche Ballade
vom sibirischen Unglück eines ganz modernen,
delirösen, inadäquaten Herrn Maquis de Sade,
in Fraungestalt. Und man kann außerdem viel lernen.

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E.E. Cummings – Poems – Gedichte

e.e. cummings gedichteEdward Estlin Cummings war der Meinung seine Lyrik sei nicht für “mostpeople” (EEC zieht gerne einzelne Worte zu einem zusammen) und lag damit sicher richtig. Denn viele seiner Gedichte bestehen aus typographischen Spielereien, die nicht für den Gelegenheitsleser geeignet sind, diesen möglicherweise nicht nur langweilen, sondern ärgern. Die in der C.H. Beck Reihe textura erschienene Sammlung in der Übersetzung von Eva Hesse stellt daher eine schöne Ausgabe für Starter dar, denn hier sind einige der schönsten Cummings Gedichte versammelt (humanity i love you, o sweet spontaneus oder love is more thicker than forget) und doch Raum für einige wenige seiner “Form”-Gedichte. Eva Hesse schreibt im Nachwort

Obwohl sich viele von Cummings’ Gedichten infolge von derlei formalistischen Tricks in einer gewissen leeren Eleganz verlieren, finden wir andererseits bei ihm eine respektable Anzahl immergrüner Gedichte, die das Schaffen der mesiten seiner literarischen Zeitgenossen in Amerika und England in den Schatten stellen. Diese Gedichte gehören fraglich zu den besten lyrischen Texten des Jahrhunderts – Yeats, Eliot und Pound nicht ausgenommen.

und liegt damit richtig, mit ihrer etwas angestaubten Übersetzung, dagegen nicht immer.

Kate Tempest – Hold Your Own – Gedichte

kate tempest hold your own suhrkampOh, was ist Kate Tempest ein Star! Eine Rapperin, eine Poetry Slammerin, eine Lyrikerin, nein nun sogar eine Romanschriftstellerin. Die Übergänge sind freilich fließend, aber das merkt man im Feuilleton nicht, denn Rapper dichten sonst nur über Verbrechen und das sehr plump. Nun schlägt aber ein “literarischer Meteorit” ein (Wiebke Porombka in der Zeit) und alle sind vezückt. Und dies natürlich nicht zu Unrecht, denn Kate Tempest ist eine kluge junge Frau, die bereits zu Beginn, und immer wieder im Verlauf des Bandes das Thema aufnehmend, die Sage des blinden Sehers Teiresias, dem Bildungsbürger von Homer, Aischylos, Sophokles, Euripdes und Bodo Wartke bekannt, in eine moderne Fassung bringt. Aber nicht nur diese Referenz, sondern auch Gedichte wie These things I know, Fine, thanks oder Ballad of a hero (unten als War Music) lassen eine bereits reife Dichterin erkennen. Auch wenn letzteres in seiner Tendenz zum ex-soldatischen Anti-Kriegs-Kitsch mehr an Rise against als an Antigone erinnern.

Leider auch für diese Ausgabe gilt, dass die Übersetzung mit der Vorlage nicht ganz Schritt halten kann – dem Leser in einer zweisprachigen Ausgabe immer wieder vor Augen gehalten.

Language lives when you speak it. Let it be heard.
The worst thing that can happen to words is that they go
unsaid.

Let them sing in your ears and dance in your mouth and
ache in your guts. Let them make everything tighten and
shine.

Poetry trembles alone, only picked up to be taken apart.

 

Kurt Drawert – Der Körper meiner Zeit – Gedicht

kurt drawert der körper meiner zeit gedichtKurt Drawert schätze ich sehr aber mit Der Körper meiner Zeit habe ich große Probleme. Es ist ein Langgedicht in fünf Teilen, “eine fortlaufende lyrische Bewegung markierend, die die Jahreszeiten, bestimmte Orte und Themen miteinander verknüpft, das Begehren, die Liebe, das Nichts und den Tod”, sagen zumindest Verlag und Autor. Sicher ist es das auch, aber ich verstehe es nicht. Und zugegeben ermüdet es mich daher etwas. Ich finde die sprachlichen Perlen Drawerts durchaus, aber irgendwie zerwabert mir alles zu sehr, um es genießen zu können. Auch wenn mein Hausgott Fritzchen angesichts Der Körper meiner Zeit noch lobte Drawert sei es gelungen, “in makelloser Sprache, in brennenden Bildern zu bannen, was unser aller Existenz ausmacht: das Elend der Suche nach Glück,” so greife ich doch lieber zu einem der drei Obengenannten. Meiner Hochachtung für Drawert tut dies keinen Abbruch, aber Der Körper meiner Zeit ist nicht meins.

Ein Monat auf dem Land – J.L. Carr

J.L. Carr Ein Monat auf dem LandZwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kommt der junge Restaurator Tom Birkin in das nordenglische Dorf Oxgodby. Eine kürzlich verstorbene Einwohnerin hat der Kirche eine beträchtliche Summe hinterlassen, wenn diese veranlasst, dass ein Deckengemälde freigelegt und wiederhergestellt wird, sowie das Grab eines ihres Vorfahren gefunden wird. Für erstere Aufgabe hat man Tom Birkin engagiert, für letztere einen Herrn Moon, ebenfalls Veteran des ersten Weltkriegs.

Von der Moderne ist in Oxgodby noch wenig zu spüren. Die bäuerliche Gesellschaft ist religiös, einfach und verschlossen. Der Reverend, als Auftraggeber Birkins, macht ihm klar, dass er und seine Arbeit nur geduldet werden, weil man in den Genuss des Nachlasses kommen möchte. Der junge Kriegsversehrte, stotternd und von nervösen Zuckungen geplagt, freundet sich zu erst mit Moon an, doch nach und nach wird er auch durch die Dorfgemeinschaft akzeptiert und zusehends integriert. Das zu restauriernde Fresko stellt sich, entgegen der Erwartung aller, als meisterhafte Arbeit heraus und Birkin überlegt, ob er nicht in Oxgodby bleiben möchte, denn der Sommer, seine neuen Freunde und die Frau des Reverends lindert seine Verwundungen.

Ich dachte an mein Wandgemälde. Aber die Hölle dieser Menschen war eine andere als unsere.

Kritisch was der Markt einem als neuentdeckte Klassiker unterjubeln möchte, las ich Ein Monat auf dem Land. Doch der schmale Roman von knapp 150 Seiten ist ein bemerkenswertes Stück Literatur. Die Kriegsgeschichte Birkins wird nur durch einige wenige Details geschildert, die doch ausreichen, um die erlittenen Schrecken nachvollziehen zu können. Carr benötigt keine minutiösen Schilderungen aus dem Schützengraben, um aufzuzeigen was der junge Mann litt und leidet. Er schildert das Zweifeln des Versehrten an Glauben und Religion ohne “Tom Birkin zweifelt an Gott” schreiben zu müssen. Carr entwürft eine sanfte Liebesgeschichte ohne geschwätzig zu sein und schafft so einen feinen Roman, eine anrührende Geschichte, die nie rührselig ist und eine Romanze, in der Rosen vorkommen, ohne dass sie verkitscht. Meisterhaft.

Ein Monat auf dem Land – J.L. Carr
ISBN 3832198350
EAN 9783832198350
144 Seiten, Juli 2016
DuMont Buchverlag
Übersetzt von Monika Köpfer

Wie soll ich leben? oder das Leben Montaignes – Sarah Bakewell

 

Von meiner Bibliothek aus überschaue ich mein ganzes Hauswesen mit einem Blick. Sie liegt über dem Eingangstor, und ich sehe unter mir meinen Garten, meine Stallungen, meinen Innenhof und die meisten Teile meines Anwesens. […] Die Bibliothek liegt im zweiten Stockwerk eines Turms. Das Erdgeschoß wird von meiner Kapelle eingenommen, das erste Stockwerk besteht aus einem Schlafgemach mit Nebenraum, wo ich mich oft hinlege, um allein zu sein; und darüber befindet sich die Bibliothek, die früher als große Kleider- und Wäschekammer diente und der unnützeste Raum meines Hauses war. Hier verbringe ich die meisten Tage meines Lebens und die meisten Stunde der Tage.

Unweit von Bordeaux – 65 km mit dem Auto – befindet sich in einem winzigen Dorf im Perigord (–> siehe auch Bruno Krimis) ein Hogwarts-artiges Schloss. Umgeben von Weinbergen und einem Park liegt das Château de Montaigne. Wer hierher fährt muss sich für Kulissen erwärmen können, denn das eigentlich Schloss aus dem 14. Jahrhundert ist schon lange nicht mehr. Es wurde stetig umgebaut und nach einem Brand 1885 nur teilweise wieder aufgebaut. Einzig historisch sind zwei Wehrtürme. In einem lebte Michel Eyquem de Montaigne. Seine Nachfahren bewohnten das Schloss bis 1811 und nutzten den Turm als Kartoffellager, Hundezwinger und Hühnerstall. Inzwischen ist er so gut als möglich wieder in den Zustand gebracht worden, in dem er sich befand als Montaigne hier seine berühmten Essais verfasste.

Mit auf meine Reise dorthin nahm ich neben der Neuübersetzung der Essais von Hans Stilett, die es in zwei Ausgaben bei Die Andere Bibliothek erschienen ist (als Prachtband Essais: Erste moderne Gesamtübersetzung und handliche Reiseausgabe: Von der Kunst, das Leben zu lieben) das Buch Sarah Bakewells über Montaigne. Wie soll ich leben? oder das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten ist eine völlig andere Art sich Leben und Werk eines Philosophen zu nähern. Die zwanzig Fragen sind der Aufhänger auf 350 Seiten, zum Teil völlig unchronologisch, durch Montaignes Leben zu reisen. Die Antworten wie Lies viel, vergiss das meiste wieder, und sei schwer von Begriff! oder Habe ein Hinterzimmer in deinem Geschäft! zeichnen das Bild eines 500 Jahre alten Philosophen, dessen Fragen, Antworten und Lösungen sich auch in unsere Zeit bestens transformieren lassen. Nebenbei gelingt es Bakewell die Zeit Montaignes, Frankreich zerrissen von Religionskriegen, plastisch zu schildern und trotzdem äußerst unterhaltsam zu erzählen. Hilfreich ist dafür natürlich, dass Montaigne selbst ein äußerst unterhaltsamer, geistreicher Schriftsteller war, ein Philosoph, wie es selten ähnliche gab und geben wird.

 

Aberland – Gertraud Klemm

940Mehrfach habe ich die selten, aber wenn gut besprochene, Gertraud Klemm und ihr Aberland begonnen, mehrfach abgebrochen. Die Geschichte zweier Frauen zweier Generationen, Mutter und Tochter, Franziska und Elisabeth, begann mit einer Suada Franziskas in einem Satz über vier Seiten, ach hat sie es schwer mit dem Kind und ihre Promotion kriegt sie auch nicht fertig, weil ihr Mann so wenig hilft; der Lebensplan, die Wäsche, die Windeln, Abstillen, Altersabstand, zweites Kind, Kinderärzte, Schreibaby. Nichts für mich denke ich kurz angebunden.

Doch ich lasse mich Wochen später erneut darauf ein, sehr zögerlich, und bin überwältigt. Ja, manche der geschilderten Szenen und Figuren sind fast zu abziehbildchenhaft die Klischees der gelangweilten, nicht verwirklichten westeuropäischen Frau, aber diese gibt es eben auch genau so. Die Sorgen um den Kindergeburtstag nehmen groteske Züge an, der längst verlorene Kampf um den Ehemann mit dessen jüngeren Geliebten und natürlich weiterhin der Wunsch der modernen Frau nach Erfüllung irgendwo zwischen Kind und Karriere, nicht aber gleichzeitig den Eindruck erwecken eine schlechte Mutter zu sein, dies sind wohl (ich mag das kaum abschließend zu beurteilen) die tatsächlichen Probleme zweier (oder mehr) Generationen Frauen heute.

Ein bisschen versteht sie das Publikum, das unterhalten werden will, diese jungen Künstler sind anstrengend, Literatur ist es, und die von Schriftstellerinnen noch mehr, immer diese Autorinnen mit ihren persönlichen Befindlichkeiten, kaum geben sie etwas von ihrem Privatleben preis, frisst ihnen das Publikum aus der Hand, Selbstmitleid auf Honorarbasis, ob sich das nicht rächt, ich hätte auch Autorin werden sollen, dann könnt ich meine pummelige, komplexbelandene Mutter unter Aspik auf einem Silbertablett servieren, denkt sie, meinen notorischpolygamen Vater häppchenweise als Beilage und meinen Bruder, den Steuerfachtrottel, als Nachtisch.

Aberland ist in diesem Zitat fast komplett enthalten: Klemm sollte sich trauen mehr Punkte zu setzen, aber sie beobachtet genau und beschreibt in ihrem zynischen Ton auf den Punkt. Im Verlauf der Lektüre lässt es einen Schaudern wie sie auf die Welt sieht, man möchte verzweifelen wie ihre Protagonistinnen in deren Leben aufgerieben werden und doch immer weiterstrampeln. Die Gertraud Klemm schreibt in einer ganz offenen Sprache über Sexualität, Sex und Erotik, kommt dabei aber ganz ohne das zuweil Plakativ-Aufdringliche eines Houellebecq aus, dessen Pessimismus sie dagegen übernimmt. Dem Leser wird vorgeführt, dass der Rest des Lebens eines Westeuropäers nur noch darin besteht zuzusehen wie man mit dem Alter verlischt, Persönliches und Erreichtes bedeutungslos wird, bis man dement wird, nur noch da sitzt und sich einpinkelt. Tragischerweise hat Gertraud Klemm damit wahrscheinlich recht.

Philippe Muray über Louis-Ferndinand Céline

MSB Muray Celine Umschlag Druck.inddWer war Louis-Ferndinand Céline? Dieser sagenumwobene Schriftsteller, der Antisemit, der nach dem zweiten Weltkrieg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Beihilfe zum Mord Angeklagte, dieser Autor von dessen Reise ans Ende der Nacht, von dem Charles Bukowski sagte es sei das beste Buch, das in den letzten zweitausend Jahren geschrieben worden sei? Dies ist die Geschichte eines Mannes und eines Schriftstellers, die in dieser Form nur im 20. Jahrhundert möglich gewesen sein dürfte.

Philippe Muray geht in einem grandiosen “Langessay” den Fragen nach, die bis heute Louis-Ferndinand Céline umgeben: Was bedeutet die ungebrochene Begeisterung für seinen revolutionären Stil sowie für das Verbot, mit dem das finstere Hauptkapitel seines Lebens belegt ist? Wie kommt es, dass wir in seinem Antisemitismus nur ein kurzes Intermezzo sehen möchten, das uns freistellt, seine “vorher” und “nachher” entstandenen Werke ebenso unbefleckt wie unschuldig zu lesen? Denn eines steht fest, man kann Céline hassen oder lieben, aber seine beiden Hauptwerke Reise ans Ende der Nacht und Tod auf Kredit sind bahnbrechende Werke der Literatur, denn Céline hat mit literarischen Mitteln beispielhaft vorgeführt, wozu die Entfesselung der befreiten Negativität führte, deren albtraumartige politische Konsequenz wir zu Genüge kennen.

Muray schreibt auf sehr hohem Niveau, jeder Satz zitierenswert, wie man unschwer erkennen kann. Bereits auf den ersten dreizig Seiten steckt soviel Wissen und Weisheit über Leben und Werk Célines, dass man immer wieder Pausen einlegen muss, am besten parallel die beiden Romane liest. Ohne Vorwissen dürfte dieser Muray nicht lesbar sein. Hat man aber den Atem und die Geduld ist dies so ungefähr die detaillierteste und tiefste Möglichkeit sich diesem Scheusal und Genie zu nähern. Sollte ich demnächst Céline verschenken, dann nur in einem Paket mit Muray – großartig!

Alles Interessante ereignet sich im Dunkeln, ganz ohne Zweifel. Die wirkliche Geschichte der Menschen ist nicht bekannt.

Aus: Louis-Ferdinand Céline – Reise ans Ende der Nacht

Friedrich Forssman – Wie ich Bücher gestalte – Ästhetik des Buches

Friedrich Forssman wie ich bücher gestalte ästhetik des buches wallstein göttingenSchon in der Überschrift dieses Artikel ist ein schwerer gestalterischer Fehler, der sich komplett durch den gesamten Artikel zieht. Zwar sind Schriftart und Größe gut lesbar und (in meinen Augen) einigermaßen hübsch gewählt, doch sind das Bindestriche oder Gedankenstriche? Anders als Word, und auch dort gelingt es nicht immer, werden hier nicht automatisch Strichlängen angepasst, denn es gibt – (Bindestriche) und – (Gedankenstriche). Man kann nur hoffen, dass Friedrich Forssman diesen Blog nicht liest! 1

Denn bei Friedrich Forssman, dem Internetmenschen durch seinen eBook-Rant bekannt, ging ich achtzig Seiten in die Lehre. Wie ich Bücher gestalte heißt der Werkstattbericht des Buchgestalters und Typographen, der beim Göttinger Wallstein Verlag in der Reihe Ästhetik des Buches erschienen ist. In dieser widmen sich Autoren aus verschiedenen Disziplinen den einzigartigen ästhetischen, kulurellen und wahrnehmungspsychologischen Qualitäten des gedruckten Buches.

Forssman schreibt auch für Laien anschaulich über die Grundlagen der Buchgestaltung, die Gestaltung als Handwerk und (hier liegt ein bedeutender Unterschied!) Kunsthandwerk. In vier Teilen – Das Allgemeine, das Besondere, Das Innere, Das Äußere – gibt er nicht nur Einblick in die Tätigkeit selbst, sondern vermittelt auch seine Vorstellungen eines gelungen gestalteten Buchs. Ein fester Bestand ist für ihn hierbei etwa das Gestalten von Innen nach Außen, um im Anschluss einen Überblick über Vorteile verschiedener Schriftarten zu geben und wie diese zu setzen sind. Die Fachsprache des Setzers liest man nicht ohne Schmunzel: Geringe x-Höhe, recht glatt und vernünftigt, etwas spitz und scharf, in der Anwendung nicht sehr gutmütig.

Natürlich ist Lesbarkeit wichtig, sie ist aber nicht alles. Gestalten heißt auch, dem Benutzer gewisse Unbequemlichkeiten zuzumuten und ihm zuzutrauen, daß er Entscheidungen nachvollziehen kann und billigt, die zuungunsten des vordergründigen Funktionierens getroffen wurden, dafür zugunsten eines größeren Behagens, einer – etwas pathetisch gesagt – “höheren Richtigkeit”.

Kein altes Medium

Und, übrigens: Ich möchte nie, nie wieder auf ein Podium geladen werden – als amüsantes Buch-Fossil, als Kontrastprogramm zu den Zukunftsvisionären in Form von Google-Oligarchen, Börsenvereins-Geldverbrennern und analphabetischen Digitalhipstern mit ADHS im Vollbild – und mir noch ein weiteres Mal anhören müssen, »daß ja noch nie ein neues Medium ein altes Medium verdrängt habe«.

Friedrich Forssman

Die Erfüllung dieses Wunsches liegt nicht in meinen Händen, und der Streit ausgekaut. Wie man aber das alte Medium so gestaltet, dass es eine Kunst ist, erfährt man unterhaltsam und lehrreich von Forssman. Wie kunstvoll dann ein von Forssman gestalteter Text, wie wunderschön er ist, ein Blick in die Leseprobe der Kritische Gesamtausgabe von Walter Benjamin genügt, um dies zu erkennen. Um die Kunst wirklich wertschätzen zu können, sollte man aber Wie ich Bücher gestalte lesen, erst dann kann man wirklich ermessen wie viel Hirnschmalz und gestalterische Kreativität in stimmiger Buchgestaltung steckt.

Zu den vielen guten Eigenschaften von Büchern gehört, daß sie alt werden – wenn sie gut hergestellt sind, halten sie sogar ewig; wenn sie gut gestaltet sind, sind die Abnutzungsspuren vorgesehen und eingeplant.

Beitragsbild: The British Museum (CC BY-NC-SA 4.0)
Nachweis der Grafik zur Typographie

Die Sprache der Vögel – Norbert Scheuer

911Also wenn es zwei Dinge gibt, die ich nicht leiden kann sind es Vogelviecher und Krieg, aber dieses Buch…

Paul Arimond ist vor seinem Leben in der Eifel in den Krieg nach Afghanistan geflohen. Der zurückhaltende junge Mann vertreibt sich den Tag mit Vogelbeobachtungen und dem Zeichnen. Zwischen dem unspektakulären, aber im Kriegszustand immer angespannten Alltag wird der Grund für seine Flucht in Rückblenden gezeigt. Die Schuld an einem Autounfall, bei dem sein bester Freund schwer verletzt wurde, lastet auf ihm und hat sein altes Leben mit einem Schlag zerstört.

Norbert Scheuer, einer der Nominierten des Leipziger Buchpreises für Belletristik 2015, eilt in schnell, kurzen Sätzen durch die Geschichte, die sich am Ende wundersam in ein ausgewogenes Ganzes fügen. Die Lautstärke und Geschwindigkeit des Krieges prallen auf die Ruhe Pauls, die Sätze Scheuers wollen verweilen und werden durch die Story getrieben, das liebevolle Interesse Pauls für Vögel kontrastiert dessen Gleichgültigkeit für den Krieg, gar für Tote und Verletzte. Die menschlichen Verluste werden nur festgestellt, während der Sanitäter Paul Vögel bis ins Detail von Aussehen und Verhalten darstellt. Der Soldat sucht einen Ausweg aus dem Lager, aber nicht um zu desertieren, sondern nur um weiter ungestört beobachten zu können.

Ein so zauberhaftes Buch voller beeindrucktender Schönheit, trotz Krieg und Flattertier. Bitte unbedingt lesen!

Hanjo Kesting – Große Romane der Weltliteratur – Erfahren, woher wir kommen

Hanjo Kesting - Große Romane der Weltliteratur - Erfahren, woher wir kommen

Sie wissen nicht was Sie als nächsten Lesen sollen? – Lesen Sie diese Bücher!
Sie haben viel zu viel, was Sie noch lesen möchten? – Lesen Sie diese Bücher!

Hanjo Kesting hat 2008 für die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius eine Reihe mit dem Titel “Grundschriften der europäischen Kultur” im Hamburger Bucerius Kunstforum abgehalten, die sich großer Resonanz erfreute, in weiteren Städten auf Tour ging und in einer dreibändigen Ausgabe beim Wallstein Verlag Göttingen erschien. Kesting befasste sich in dieser Reihe mit den Grundlagen europäischer Literatur, Philosophie und Geistesgeschichte. Er begann mit dem Gilgamesch Epos und endete bei Nietzsches Ecce Homo. Nach Abschluss von “Grundschriften der europäischen Kultur” folgte “Große Romane der Weltliteratur” und wurde ebenso ein Erfolg wie der Vorgänger. Erneut hat der Wallstein Verlag eine dreibändige Reihe zum Abschluss herausgegeben, die seit letztem Jahr vorliegt und in deren Vorwort Hanjo Kesting das eigene Programm im Kontrast zu Die wunderbaren Falschmünzer von Rolf Vollmann abgrenzt.

Das [die vorliegende] ist für eine literarische Arche eine eher bescheidene Auswahl. Rolf Vollmann […] behandelte auf knapp 1050 Seiten mehr als tausend Romane […]. Da blieb im Durchschnitt nicht mehr als eine Seite für jedes Buch; selbst Hauptwerke der Romankunst wurden in aller Kürze besichtigt und beurteilt: fünf Zeilen über Verlorene Illusionen, zwölf über Anna Karenina (“eins der ganz großen Stücke des Genres zweifellos, aber beinahe war doch glaube ich Greta Garbo in dem Film das Schönste daran”), siebzehn Zeilen über die Kartause von Parma. Das Buch ist nicht ohne Reiz, es ist leicht, locker und amüsant geschrieben, voll sprachlicher Girlanden und Preziosen, es fordert Zustimmung Widerspruch heraus, ist insgesamt aber eher eine Plauderei für Kenner als jene Verführung zu Romanen, die der Untertitel in Aussicht stellt.

Kein Kanon!

Kesting macht in der Einleitung, neben Kollegenschelte, ebenso klar, dass er keine Kanonisierungsabsichten hegt. Hierfür reichen die 40 Bände nicht, er möchte keine Leseliste erstellen, die Lust am nicht der Zwang zum Lesen soll im Vordergrund stehen. Man bemerkt später in den einzelnen Vorträgen, dass tatsächlich das Anregen der Hauptgrund für Kestings Verträge war, aber auch wenn er vorweg seine Liebe zu Dickens oder französischer Literatur ausführt. Gegen das Festlegen eines Kanons spricht für Kesting ebenso der ewige Schrei ein Meisterwerk entdeckt zu haben (auch wenn die besprochenen Werke nun wirklich nicht dem Verdacht unterliegen demnächst vergessen zu werden oder nur zu scheinen.)

Wer die Literaturseiten der Zeitungen verfolgt, der stößt Jahr für Jahr, nein, Monat für Monat auf Bücher, die als Meisterwerke angepiesen werden, so zahlreich, dass die ganze Vergangenheit dahinter zu versinken scheint. Was wird davon bleiben? Geht man hundert Jahre zurück, erkennt man, dass die Prosa eines Spielhagen oder Paul Heyse (Nobelpreisträger immerhin), von Autoren also, die zu ihrer Zeit mindestens so hoch gestellt wurden wie Fontane, längst verwelkt ist.

Mit Leseproben!

Hanjo Kesting Große Romane der Weltliteratur Erfahren, woher wir kommenBedingt durch die Form der Veranstaltung, nämlich dass zwischen den Ausführungen Kestings die entsprechenden Stellen des Werks gelesen wurden, enthalten die drei Bände zahlreiche Ausschnitte aus den besprochenen Büchern. Das Preisen Kestings kann so direkt durch den Leser auf die Probe gestellt werden. Gerade diese kleinen Auszüge, von einer halben bis zu anderthalb Seiten, bereiten besonderes Vergnügen und führen dazu, dass man Kestings launigen, aber klugen Vorträge mit großem Vergnügen und Gewinn liest.

Von den vielen Werken, die Sie noch lesen wollten, sind hier wahrscheinlich einige dabei. Kesten ermuntert, ermutigt und fixt den Leser an diese Werke endlich zur Hand zu nehmen und bereitet dabei selbst ein großes Lesevergnügen.

Band I – 1600 -1850: Miguel de Cervantes: Don Quijote | Daniel Defoe: Robinson Crusoe | Antoine-François Prévost: Manon Lescaut | Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman | Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers | Karl Philipp Moritz: Anton Reiser | Jane Austen: Stolz und Vorurteil | Stendhal: Rot und Schwarz | Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen | William Makepeace Thackeray: Die Memoiren des Barry Lyndon | Emily Brontë: Sturmhöhe | Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe | Herman Melville: Moby Dick oder Der Wal

Band II – 1850 -1900: Gustave Flaubert: Madame Bovary | Iwan Gontscharow: Oblomow | Charles Dickens: Große Erwartungen | Iwan Turgenjew: Väter und Söhne | Fjodor M. Dostojewski: Der Spieler | Lew N. Tolstoi: Krieg und Frieden | Mark Twain: Die Abenteuer des Huckleberry Finn | Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich | Guy de Maupassant: Bel-Ami | Robert Louis Stevenson: Der Junker von Ballantrae | Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray | Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel | Karl Emil Franzos: Der Pojaz

Band III – 20. Jahrhundert: Joseph Conrad: Herz der Finsternis | Heinrich Mann: Der Untertan | James Joyce: Ulysses | Thomas Mann: Der Zauberberg | Franz Kafka: Der Prozess | F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby | Ernest Hemingway: The Sun Also Rises (Fiesta) | Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz | Joseph Roth: Die Kapuzinergruft | Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Gattopardo | Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen | Gabriel García Márquez: Der Herbst des Patriarchen | Günter Grass: Der Butt | Orhan Pamuk: Das schwarze Buch

Die herrliche Welt des Scheins – Berlin 1936 von Oliver Hilmes

Bundesarchiv, Bild 146-1976-116-08A CC-BY-SA 3.0

Die Propaganda, zumindest die rassistische, antisemitische, hält im August 1936 für kurze Zeit die Luft an, denn es ist Olympiade. Das Dritte Reich möchte sich von seiner besten Seite zeigen, friedvoll, friedliebend und weltoffen. Im selben Jahr hatte Hitler zwar die Verträge von Locarno gebrochen und die Wehrmacht im Rheinland einmarschieren lassen, aber dies sollte nicht die größte Sportveranstaltung der Welt stören. Ebenso wenig der bereits tobende Bürgerkrieg in Spanien, der heimlich von Deutschland auf Seiten Francos untersützt wird.

berlin 1936 oliver hilmes coverOliver Hilmes, bekannt durch seine Alma Mahler Biographie, seine Arbeiten zu Ludwig II., der Familie Wagner und Franz Liszt hat die Zeit der olympischen Spiele in Berlin als Aufhänger für sein neues Buch genommen. Der Berliner Historiker wirft sich ins Nachtleben der 30er Jahre, blickt hinter die Kulissen der Propaganda und schaut den Berühmten über die Schulter. Diese knapp zwei Wochen vom 1. bis zum 16. August 1936 reichen Hilmes um ein Panoptikum einer Epoche zu zeichnen, den letzten Akt der Inszenierung einer Regierung, eines ganzen Landes, das sich später voll Begeisterung in einen weltumspannenden Krieg werfen wird und hinter dessen Kulissen bereits die Vorbereitungen für diesen laufen.

Hilmes verschneidet geschickt Tagebuchaufzeichnungen von Harry Graf Kessler und dem unvermeidbaren Goebbels, offizielle Äußerungen und Pressemitteilungen und Wetterberichte mit Zeitzeugenberichten. Er nutzt der Technik, derer sich auch Florian Illies in 1913 bediente, Prominente einander beobachten zu lassen, wahre Begebenheiten so zu komponieren, dass hieraus nicht nur eine, sondern die Geschichte, entsteht. Also sitzt der junge Reich-Ranicki im Theater bei Gründgens, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt zieht mit Thomas Wolfe, einem geheimen Protagonisten des Buchs, um die Häuser und Mascha Kaléko verlässt ihren Mann, während alle sich das Maul über Pauline Strauss, die Frau des Komponisten Richard Strauss, zerreißen. Hierein fügen sich immer wieder Bilder, die das Kolorit der Zeit nachzeichnen. Einen großen Anteil hieran hat die Musik dieser Zeit, die zwischen wildem “Negerswing”, Propagandafanfaren und dem ewigen Wagner vorkommt.

Berlin 1936 ist vor allem daher so gelungen, weil Hilmes es schafft das Gleichgewicht aus unterhaltsamen Tratsch, nüchterner Meldung, Tagespolitik und Zeitgeschichte zu halten. Das Lokalkolorit wird nie aufdringlich und selbst bei den Skandalen und Stargeschichten beschleicht den Leser nie das unangenehme Gefühl der Schnüffelei. Zur Balance trägt bei, dass eben nicht nur Anekdoten von Stars nacherzählt werden, sondern Zeitgeschichte anhand des Lebens einfacher Bürger aufgezeigt wird, der Barbesitzer und Soldat auf Geheimmission, bereits gegängelte Juden und Sinti, Besucher der Spiele und Fans von Sportlern. Der in diesen beiden Wochen omnipräsente Sport fügt sich in Berlin 1936 in die Ausgewogenheit des gesamten Buches sein. Natürlich hat Jesse Owens seinen Auftritt, doch auch die Schilderungen der Ereignisse der Leibesertüchtigung, erzeugen keine erzählerlische Unwucht. Man möchte fast sagen, perfekt komponiert.

Oliver Hilmes hat bereits in seinen vorherigen Büchern gezeigt, dass Geschichte und Biographien unterhaltsam sein können. Spätestens jetzt hat er bewiesen, dass er auch ein großer Erzähler ist.

Beitragsbild: Bild: Bundesarchiv, Bild 146-1976-116-08A  CC-BY-SA 3.0

#einfachWeiterlesen – Nr. 1

Bücher sind nicht das ideale Medium für sämtliche ideellen Inhalte. Dies war immer so, aber jetzt ist es augenfällig geworden. Es wird einem zukünftig unangemessen erscheinen, in gedruckter Form Titel zu kaufen, von denen abzusehen ist, dass man sie nur einmal liest, möglicherweise sogar widerwillig, weil man es aus professionellen Gründen oder um mitreden zu können muss. Außerdem gibt es neue ästhetische Formen […], die im Print gar nicht denkbar sind.

Christiane Frohmann: Einfach Weiterlesen

Nicht selten habe ich postuliert niemals ein “eBook” zu lesen. Die alte Diskussion um Haptik, Geruch und deren Freunde hat inzwischen einen Bart wie Blogger vs. Feuilleton. Es gibt Titel, die im Druck nicht zu finanzieren sind, weil nur fünfzig Leute sie kaufen würden, weil sie zu kurz sind und Heftchen nur verkaufbar sind, wenn sich darin eine Krankenschwester in einen Arzt verliebt, oder Druck und dessen Vorlauf schlicht zu lange dauern würden, die Titel aber heute relevant sind.

Niemand verlangt, dass Du die Kölner Ausgabe von Böll auf dem Handy liest, man darf aber voraussetzen, dass Dir, wenn Du Literatur konsumieren willst, die Darreichungsform egal ist.

Es ist das Gesetz aller organischen und anorganischen, aller physischen und metaphysischen, aller menschlichen und übermenschlichen Dinge, aller echten Manifestationen des Kopfes, des Herzens und der Seele, dass das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist, dass die Form immer der Funktion folgt.

Louis Sullivan – „The tall office building artistically considered”

Drei Beispiele für die Möglichkeiten, die elektronische Titel bieten.

Arthur Cravan: König der verkrachten Existenzen

cover-arthur-cravan-koenig-der-verkrachten-existenzen-mikrotext-2016-400pxMan schämte sich der Homosexualität seines in ärmlichsten Verhältnissen gestorbenen Onkels, deswegen erfuhr Fabian Avenarius Lloyd erst zwei Jahre nach dessen Tod von seiner Verwandtschaft1 mit Oscar Wilde. Die eigentlichen Karrierepläne wurden aufgegeben, sich selbst stattdessen das Pseudonym Arthur Cravan. In Paris publizierte er in der Zeitung Maintenant, die er selbst gegründet hatte und verlegte, er veranstaltete absurde Veranstaltungen, bevor es Dada gab, und verbreitete Gerüchte über den verblichenen Onkel2. Als der erste Weltkrieg ausbrach desertierte er, ließ sich verabredungsgemäß sechs Runden vom ehemaligen Schwergewichtsweltmeister Jack Johnsohn3 verhauen, traf Leo Trotzki und ertrank bei einem missglückten Bootsausflug im Pazifik.

Die Kunst, die Kunst, ich scheiße auf die Kunst, schreibt Cravan und schafft in seinen bei Nautilus und in Auswahl Mikrotext erschienen Texten ebensolche. Er ätzt und spuckt Galle, streunt durch Paris, verspottet die etablierte Literaturszene, die ihm den Eintritt verwehrt. Der Nouveaubeton Paris’ – vor hundert Jahren.

Cravan trifft André Gide und schreibt darüber ein Portrait, das zugleich Karikatur und Spiegelbild ist. Der berühmte Text über sein Treffen mit Oscar Wilde war so detailliert und passend, dass nicht Wenige Cravan glaubten der Meister sei noch am Leben4

Emmanuel Bove: Gesamtausgabe

Man wird sich fragen, warum Bove so lange vergessen blieb. In den Literaturgeschichten taucht sein Name so gut wie nicht auf; von einigen kurzen Rehabiloitationsversuchen abgesehen, waren die mesiten der rund dreißig Bücher, die er geschrieben hat, lange Zeit unauffingbar. Gewiss war die außerordentliche Diskretion des Menschen, bis zum völligen Rückzug, einer der Gründe für seine Vergessenheit.

bovelesebuchbildaSo schreibt Jean-Luc Bitton in seinem Essay Haben Sie Emmanuel Bove gelesen?, der dem kostenlosen Bove-Lesebuch voransteht, der bei der Edition diá erhältlich ist.

Die Frage jedoch: Wie konnte man diesen Schriftsteller vergessen?, kann auch der Biograph Bitton nicht erklären. Rilke und Beckett verehrten ihn, die Kritik hat ihn gefeiert und die Antwort soll natürlich sein: er wurde nicht vergessen und soll wiederentdeckt werden. Eine erste Renaissance gab es bereits als Peter Handke begann Bove neu zu übersetzen. Meine Freunde, Armand und Bécon-les-Bruyères. Eine Vorstadt sind Anfang der 80er bei Suhrkamp erschienen. Danach wurde es wieder ruhiger. Mit Auslaufen des Urheberrechts macht die Edition diá nun das Gesamtwerk Boves wieder zugänglich. Wieso sich dieses zu Entdecken lohnt, weiß wieder Bitton.

Boves Stärke ist es, dass er seine Figuren nie verachtet oder verurteilt, er schaut ihnen, wie ein Laborant durch das Mikroskop, beim Leben zu. Und er beschreibt uns schlicht, was er sieht, was er gehört hat und was wir nicht mehr sehen oder ausdrücken können, mit einer fast besessenen Sorge ums Detail.

Zum Einstieg in das Werk Boves lohnt das umfangreiche, kostenlose Bove Lesebuch, das man bei der Edition diá herunterladen kann.

Weitere Informationen zu Leben und Werk findet man auf der eigens eingerichteten Homepage für emmanuelbove.de.

Rowohlt Rotation

978-3-644-05371-7Kurz vor der Leipziger Buchmesse startete Rowohlt sein neues Digital-Imprint Rowohlt Rotation, erkennbar an rororo, Rowohlts Rotationsromane, angelehnt, das Format das Rowohlt im Nachkriegsdeutschland zu neuer Berühmtheit verhalf. Man konnte günstig und damit für den Leser erschwinglich Taschenbücher, die zu Beginn nur 1 DM kosteten, mittels Rotationsdruck herstellen und so die neue Bundesrepublik mit Literatur versorgen. Bereits die ersten drei Titel – G.K. Chestertons Das fliegende Wirtshaus, William Faulkners Licht im August und Graham Greenes Die Kraft und die Herrlichkeit – spiegeln deutlich wider, was früher unter Unterhaltung verstand, die man günstig unters Volk bringen konnte, aber auch den neuen Anspruch des Digital-Imprints, denn dort kann man als Äquivalent zu Nobelpreisträger Faulkner heute Texte von Vladimir Nabokov, Jonathan Franzen oder Kurt Tucholsky kaufen, statt Graham Green gibt es Joachim Fest über Hannah Arendt oder Stewart O’Nan und anstelle von Father Brown immerhin noch Simon Beckett oder, denn das ist Unterhaltung heute, Jojo Moyes.

Lest doch einfach weiter.

Was eBooks leisten können, das Wiederzugänglichmachen von fast verlorenen oder vergessenen Texten, zeigen alle diese drei Beispiele. Wer nicht bei Nautilus die große Cravan Ausgabe kaufen möchte, kauft bei Mikrotext für Handy oder eReader, Bove wird im Ganzen wieder verfügbar, ein Lesebuch, das gratis erhältlich ist, kann und soll Geschmack machen oder vor Fehlkäufen bewahren und Rowohlt kann aus dem Archiv eines Jahrhunderts Verlagsgeschichte Texte heraussuchen und verfügbar halten, die möglicherweise sonst in dessen Untiefen verschwinden würden. Den Tucholskytext Seifenblasen gibt es bisher nur in Band 16 der Gesamtausgabe versteckt, Uwe Naumanns Mon Oncle – Lieber Klaus wäre zu kurz für den Druck, zu interessant und einzigartig5 um im Wust der Neuerscheinungen zu erscheinen und verloren zu gehen.

To be continued.

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