Bereits vor Jahren wurde mir das Buch durch einen befreundeten Juristen empfohlen, der damals fast genau an meinem heutigen Punkt der Ausbildung stand. Unbedingt, meinte er, sollte man, gerade als junger Jurist, dieses Buch lesen, ja es zum Kanon der Ausbildung des Studenten der Rechtswissenschaften machen. Erschwert wurde dieses Vorhaben dadurch, dass besagtes Buch nicht mehr auf dem Markt ist. Aber statt verschiedene Antiquariate der Stadt mit einem konkreten Wunsch zu durchforsten, was durchaus erhebend sein kann, kommen diese, die Antiquariate und die Bücher, via Internet zu mir.
Die Geschichte der Justiz im 3. Reich ist, so merkwürdig es klingen mag, ein wenig beachtetes Thema. Nicht einmal Guido K. hat sich seiner angenommen und genauso bezeichnet, dass das scheinbar einzige Buch, welches sich kritisch damit auseinandersetzt, nicht mehr neu aufgelegt wird.
(Amazon spuckt mir zwar einige Ergebnisse aus, die sind dann aber sehr speziell wie “Zum Tode verurteilt: NS-Justiz und Widerstand in Kärnten” oder sehr teuer wie “Justiz im Dritten Reich 1933-1940: Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner” mit 99,80 €.) Nun aber zum Buch:
Ingo Müller beginnt nicht direkt im Dritten Reich, sondern sein erster Teil beginnt noch in der Zeit vor der Weimarer Republik und stellt kurz, aber gelungen die Entwicklung der liberalen Juristerei, nicht unbedingt Justiz, dar. Um dann im Hauptteil mit 170 Seiten die deutsche Justiz und ihre Verbrechen von 1933 bis 1945 skizzieren. Dies ist sehr faktenreich, vor allem viele verschiedene Prozesse, Beschuldigte, Richter und Nazigrößen erscheinen seitenweise und treten wieder ab. Erschreckend hier, wahrscheinlich besonders für den juristisch Vorgebildeten, die Perfidität mit der rechtliche Grundsätze und Auslegungsmethoden dazu genutzt werden sich Normen zum Spielball zu machen und so das Ergebnis nicht anhand der Norm gefunden wird, sondern die Norm zu dem gewollten Ergebnis hin interpretiert wird: Der Diebstahl von zwei Stück Seife kann so zur Wehrkraftzersetzung werden und ist “folgerichtig” mit dem Tod zu bestrafen.
Neben den ganz großen Namen wie Volksgerichtshofpräsident Roland Freisler, Reichsgerichtspräsident Bumke oder dem Staatsrechtler Carl Schmitt werden aber auch diejenigen Taten aus dem Dunkel geholt, die sich vorher hinten diesen versteckten. Die einzelnen Aufzählungen der “Taten”, “Verfahren” und Bestrafungen (hier keine Anführungszeichen) ist schonungslos, doch aber streckenweise auch eben nur die Aneinanderreihung der Fakten.
Es klingt was etwas komisch, aber von den Greultaten der Nazis hat man als mittelmäßig gebildeter Deutscher schon viel gehört und natürlich erschrecken diese umso mehr, wenn man konkrete Einzelfälle vor Augen geführt bekommt, aber die Integration der Nazischergen in den neuentstandenen Justizapparat der Bundesrepublik lässt einen kurz fassungslos zurück. Zwar war mir bewusst, dass man die neuen Beamten, Politiker und Richter auch irgendwoher bekommen musste und man nicht einfach die Verwaltung , Politik und Justiz mit vertriebenen Oppositionellen wiederauffüllen konnte. Aber die Umstände und Art und Weise wie dies tatsächlich geschah sind erschütternd. Ingo Müller berichtet nicht nur von Vorzeige-Nazis, sondern von Vorzeige-IDEOLOGEN, die Lehrstühle für Staatsrecht erhielten und Richtern, die hundertfach Todesurteile auf zweifelhaften Rechtsgrundlagen mit hanebüchenen Begründungen ausgesprochen haben und plötzlich Präsident eines Oberlandesgerichts werden. Dazu kommt der entwürdigende Umgang mit den Opfern, die nicht nur nicht rehabilitiert werden, sondern deren erlittenes Unrecht kleingeredet wird, während Alt-Nazis unbehelligt mit hohen Pensionen abgespeist werden.
Das Buch ist nicht durchweg einfach zu lesen, was primär an der Fülle der Fakten liegen mag, aber gerade der dritte Teil über die Nachkriegszeit ist die Lektüre wert. Mir ist nicht nur völlig unverständlich wie selbst die Bundesgerichte mit solchen Verbrechen und Verbrechern umgegangen sind, begünstigt durch die Gesetzgebung des Bundes die immer wieder “Verjährungsgeschenke” macht, sondern warum dieses Buch nicht aktualisiert und neu aufgelegt wird.
Wer sich gerne näher mit diesem Thema in literarisch aufbereiteter Form auseinandersetzen möchte, dem kann ich nur “Mein Jahr als Mörder” von Friedrich Christian Delius ans Herz legen, der halbfiktional vom Freispruch des Richters Hans-Joachim Rehse und dem Widerstandskämpfer Georg Groscurth handelt. Unbedingt lesen!
‘Die Angeklagten sind solch unermeßlicher Verbrechen beschuldigt, daß bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewußten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit der Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsgesetze und der der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts und unter der Autorität des Justizministerium mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.’
Es waren aber in erster Linie nicht die einzelnen ungeheuren Verbrechen, die das Gericht so schockierten, die vorangegangenen Prozesse hatten die Untaten des Dritten Reichs ja bereits hinlänglich aufgezeigt, sondern die Tatsache, daß sie unter dem Mantel des Rechts begangen worden waren: ‘Die Prostituierung eines Rechtssystems zur Erreichung verbrecherischer Ziele bringt ein Element des Bösen in den Staat hinein, das in offenen Greulen nicht enthalten ist.’
Das Fazit des Gerichts der Nürnberger Jursitenprozesse
[Nachtrag] Erfreulicherweise hat die Edition Tiamat Furchtbare Juristen neuaufgelegt.