1. Gebot juristischer Klausuren: Du sollst keine Besinnungsaufsätze schreiben!
So wurde es mir vor dem Examen eingetrichtert. Wer im Examen über Dinge schreibt, die nichts mit dem eigentlich zu lösenden Fall zu tun haben, läuft Gefahr bzw. ist auf dem besten Weg durchzufallen. Die einzige Gefahr, die mir beim Schreiben eines Besinnungsaufsatzes innerhalb einer Literaturkritik droht, ist der abgesprungene Leser. Hier also der Besinnungaufsatz über ein Mammutwerk, das ich zum Zeitpunkt der Rezension nicht mal im Ansatz beendet habe, aber dazu sogleich.

Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre von Heimito von Doderer gehört mit Sicherheit in die Kategorie des modernen Klassikers. In der vorliegenden Ausgabe von C.H.Beck umfasst sie schlanke 950 Seiten und selbst Daniel Kehlmann, einer unserer Vorzeigeintellektuellen gibt im Nachwort zu, dass er, salopp ausgedrückt, viele Dinge in diesem Buch nicht versteht. Sagen wir, etwas ernster, der Zugang ist recht schwierig. Dreimal startete ich die ersten 30 Seiten, dreimal las ich den berühmten ersten Absatz von dem abgefahrenen Bein der Mary K. und über Bulgaren und Rumänen in Wien. Und an diesem wird schon die Schwierigkeit der Lektüre offenkundig: Parenthesen und in diesen noch eine solche, als würde Doderer während er schreibt noch eine dringend zu erzählende Begebenheit einfallen, die nicht auf-, sondern eingeschoben wird. Dazu kommt, dass sich das “epische Gefüge [des Romans] zerlöst […] in das Einzelne, Episodische, in Assoziationen, Reflexionen und Kommentar” (Fritz Martini in: Deutsche Literaturgeschichte). Man weiß nicht mehr was genau zur Handlung gehört und was nicht, die unvermitteleten Zeitsprünge tun für die Verwirrung ihr übriges. Verlässlich eigentlich nur der Ort der Handlung; zumeist die, in Wien realexistierende, Strudlhofstiege, aber Achtung: was für die Handlung in den Jahren 1923 bis 1925 gilt, gilt nicht zwangsläufig für die Rückblenden in die Jahre 1911/12, hier reist der Leser vielmehr durch ganz K.u.K.-Österreich. Adalbert Schmidt fasst es in Literaturgeschichte unserer Zeit so zusammen:
Die keineswegs romanhafte Handlungen des […] Werkes, der seelischen Topographie einer Stadt, werden immer wieder von Abhandlungen und Reflexionen über die verschiedensten Themen (über geschichtliches Denken, lateinische Grammatik, Sprachgeschichte, dicke Damen, Kaffeehausatmosphäre nebst einem in spätmittelhochdeutscher Sprache verfaßten Bericht über einen Hexenprozeß) überwuchert […].
Doderer hat also alles drin: ein Panoptikum Wiens nach der Jahrhundertwende, in der Vor- und Zwischenkriegszeit. Dieses Buch ist derartig verwinkelt, seine einzelnen Geschichten so unabhängig, dass man bei jedem Wiederlesen Neues entdeckt. Die, sagen wir diplomatisch, für 950 Seiten spärliche Handlung um Melzer macht den Einstieg in ein schweres Buches auch nach längeren Lesepausen erstaunlich leicht.
Man interessiert sich gar nicht für all die groß- und kleinbürgerlichen Wiener Schicksale, all die Verwicklungen und Verstrickungen? Dann kann, so Kehlmann, Doderers Beschreibungskunst allein die Lektüre zum reinen Glück machen. Nur langen Atem sollte man haben. Beispiel gefällig? Bereits das dem Roman vorangestellte Gedichte, inzwischen auch in Wien an der Strudlhofstiege angebracht, lässt die Kunst Doderers erkennen.
Wenn die Blätter auf den Stufen liegen
herbstlich atmet aus den alten Stiegen
was vor Zeiten über sie gegangen.
Mond darin sich zweie dicht umfangen
hielten, leichte Schuh und schwere Tritte,
die bemooste Vase in der Mitte
überdauert Jahre zwischen Kriegen.Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.
Warum also dieses Buch lesen? Weil sich in einem solchen Werk ein ganzer Kosmos öffnet, weil durch seine Komplexität immer wieder neue Interpretationsmöglichkeiten entstehen. Die Komplexität führt natürlich zu einer schwereren Lesbarkeit, aber wer es einfach mag, greift zwischendrin wieder zur Unterhaltungslektüre – die Strudlhofstiege läuft nicht weg. Aber und das soll bitte das Ergebnis des Besinnungsaufsatzes sein, sie vermag auch soviel mehr zu geben als nur eine Geschichte, aber auch mehr als nur Sprachkunst – die Strudlhofstiege ist ein potenzielles Buch für die einsame Insel. Das Schicksal ist ein mieser Verräter hat man irgendwann zum 100. Mal gelesen und kann in der Geschichte und den Charakteren nichts neues mehr entdecken (ich möchte auch stark bezweifeln, ob hierfür eine 100-malige Lektüre notwendig ist); Doderer wird mit immer neuen, bisher unentdeckten Facetten aufwarten (allerdings wage ich auch nicht den Effekt von 100 Mal Strudlhofstiege abzusehen).
Wenn man sich ein solches Mammutwerk vornimmt, dann bitte auch in der entsprechenden Ausstattung. Der C.H.Beck Verlag macht in seiner Jubiläumsausgabe alles richtig und zeigt wie Büchermachen geht: in bedrucktes blaues Leinen gebunden, gestaltetes Vorsatzblatt, topographischer Anhang mit den Schauplätzen des Romans in Wien und das Nachwort von Daniel Kehlmann, der sowieso besserer Kritiker als Schriftsteller ist – nimm das eBook!