Doppelrezension: Das flüchtige Paradies und Pazifik Exil

das-fluechtige-paradiesNach der Machtergreifung Hitlers  ’33 begann das intellektuelle Deutschland auszubluten. Nicht nur die jüdischen Dichter und Denker, sondern die meisten Schöngeister, deren Kunst nicht nazikonform war, die etwas auf sich und ihre Werte hielten, kehrten Deutschland den Rücken. Viele flohen vorerst nur nach Frankreich oder in die Schweiz, denn Deutschland sollte nicht allzuweit in die Ferne rücken, falls Hitler doch nur eine politisch radikale Modeerscheinung bleiben sollte, könnte man alsbald in seine eigentliche Heimat zurückkehren. Erste Anlaufstelle wurde ein kleines Fischerdorf an der Côte d’Azur: Sanary-sur-Mer. Sie wurde die “Hauptstadt der deutschen Literatur im Exil”. Viele der großen Deutschen und Deutschsprachigen dieser Zeit haben sich dort getroffen und hier spielt auch der größte Teil von “Das flüchtige Paradies – Künstler an der Côte d’Azur” von Manfred Flügge. Ein gut lesbares Sachbuch über alle wichtigen Bewohner der Enklave am Meer. Neben einer kurzen Einführung zur Geschichte Sanarys werden in jedem Kapitel die verschiedensten Charaktere dieser Zeit dargestellt. Selbstverständlich Feuchtwanger und die Manns, Werfel samt Alma, aber auch René Schickele, Julius Meier-Graefe und Bruno Frank. Dazu gesellen sich weitere Personen, die mir vorher unbekannt waren, Franz Hessel (Schriftsteller), Friedrich Wolf (Arzt, Schriftsteller und Politiker), Sybille Bedford (Journalistin) und Walter Bondy (Maler). Die Geschichte jedes Einzelnen macht Lust wiederum mehr über ihn und sein Werk vor und nach dem Exil zu erfahren. Ein sehr schöner Einstieg in die Welt der Exilianten!

michael-lentz-pazifik-exilNachdem der Krieg aber auch Frankreich erfasst hat, werden alle Deutschen, auch die, die inzwischen ihre Staatsbürgerschaft wechseln konnten, Feinde der Franzosen oder werden als Nazispione oder solche des Kommunismus verdächtigt. An dieser Stelle, nämlich dem Versuch in die USA zu gelangen, die z.B. auch von Remarque in “Die Nacht von Lissabon” verarbeitet wurde, setzt “Pazifik Exil” von Michael Lentz ein. Franz Werfel mit Frau Alma, Heinrich Mann mit Frau Nelly und Neffe Golo fliehen über die Pyrenäen nach Spanien, um von dort in die USA zu gelangen. Lentz schreibt allerdings kein Sachbuch, sondern er schlüpft von Kapitel zu Kapitel in seinen jeweiligen Protagonisten. Marta Feuchtwanger darf auf Skiern nach der Machtergreifung eröffnen, Katia Mann nach dem Tod Thomas’ schließen – zwei Frauen, die so häufig im Schatten ihrer großen Männer standen. Bert Brecht ist ein Grantler, Schönberg ein fragiles Sensibelchen, Alma die antisemitische Matrone und Thomas Mann der Superstar, der sich seiner Größe und Wirkung bewusst ist. Jede Person hat seine eigenen, seinem Charakter entsprechende, Schreibe und Grundstimmung, Abwechslung ist also garantiert. Auf Grund der nötigen Vorkenntnisse der Personen ist somit aber die Lektüre nicht für jeden zwingend empfehlenswert. Für Einsteiger also lieber ein Sachbuch a la Flügge, für Kenner ist die Version Lentz’ aber ein spannenderer, anderer Blick auf die deutsche Elite zwischen ’33 und ’45. Dass Lentz selbst Schriftsteller, und ein guter, ist, merkt man, auch wenn mir sein Stil teilweise zu überbordend gerät. Ich musste, ehrlich gesagt, die ersten knapp 30 Seiten der Selbstreflexionen über Schnee, Bäume und Getier überspringen. Umso erheiternder dann aber die Stellen, wenn sich Werfel und Heinrich Mann kurz vor ihrer beschwerlichen Flucht beim Kafka-Zitieren verbessern, die Auswüchse der Abneigung Thomas Manns und Brechts und das Herumreiten auf Manns’ selbstgefälligem “Wo ich bin ist Deutschland”.

Unter dem Strich zwei völlig konträre Bücher, die sich aber wunderbar ergänzen und einen tollen Einblick in Zeit, Leben, Werk und, bei Lentz, auch das Innenleben der Künstler im Exil geben. Für Interessierte eine absolute Leseempfehlung. Für diese bietet sich aber auch obengenanntes Remarque Werk “Die Nacht von Lissabon” oder die Biographie von Oliver Hilmes zu Alma Mahler-Werfel, Madame kannte sie eben alle, an. Gleichsam eine wissenschaftliche und eine literarische Aufarbeitung dieser Zeit.

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Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.