Edna O’Brien – Die kleinen roten Stühle

edna o'brien die kleinen roten stühleNach Cloonoila – ein kleines, irisches Nest – kommt ein Fremder und sucht nach einer Herberge. Er ist gutaussehend und geheimnisvoll. Im Dorf ist man Neuankömmlingen gegenüber skeptisch, was durch dessen schillernden Berufsbeschreibungen Dichter, Heiler, Sexualtherapeut noch verstärkt wird, der Gipfel sein Wunsch sich dort niederzulassen. Die Kirche schaltet sich ein, doch Dr. Vlad wickelt nicht nur deren Vertreter ein, sondern weiß bereits bei den ersten Patientinnen mit Erfolgen zu überzeugen oder sich geschickt bei der Polizei Nachfragen zu entziehen. Aus vielerlei Perspektive erfährt man wie das Dorf sich von dem geheimnisvollen Doktor – mit Lyrik, mit Wanderungen und Heilungen – einlullen lässt.

Als Hauptfigur kristallisiert sich im Laufe des Romans die kinderlose, mit einem älteren Mann verheiratete Fidelma heraus. Sie verliebt sich in den Fremden, wünscht sich von ihm ein Kind und empfängt dieses auch. Doch die Vergangenheit des Doktors holt das gesamte Dorf ein als er eines Tages festgenommen und offenbar wird, was er tatsächlich ist, ein Kriegsverbrecher des Bosienkriegs auf der Flucht. Cloonoila ist in heller Aufruhr und Fidelma wird von Agenten heimgesucht, die an ihr die Rache verüben, die für den Doktor vorgesehen war.

Edna O’Brien, Jahrgang 1930, hat mit Die kleinen roten Stühle, dieses Jahr im Steidl Verlag erschienen, wahrlich eine faszinierend, bedrückende Geschichte der neueren europäischen Geschichte verarbeitet. Dr. Vladimir Dragan ist dem bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher Radovan Karadžić nachempfunden, der erst im letzten Jahr von dem UN-Kriegsverbrechertribunal für seine Teilnahme am Massaker von Srebrenica zu einer Haftstrafe von 40 Jahren verurteilt wurde.

Grigori Rasputin (um 1914/16)
Grigori Rasputin (um 1914/16)

Dass Kritiker und Kollegen sich nun vor Begeisterung überschlagen, liegt an der unfassbaren Wucht, mit der Edna O’Brien die Gräuel von Massakern, Belagerungen und Hass schildert, ohne diese wirklich zu schildern. Ein Meisterwerk – sagt Philip Roth auf dem Buchrücken zurecht – weil hier nicht plump sämtliche Widerlichkeiten, zu denen – auch die moderne, europäische – Menschheit – auch noch im ausgehenden 20. Jahrhundert – fähig war, geschildert werden, sondern auf irische Idylle, persönliche Schicksale, die bisher keine anderen Sorgen als Kinderlosigkeit oder das Schließen der eigenen Boutique hatten, gepfropft werden. Meisterwerk, weil auf diesem Hintergrund in Nebentönen, in Stimmungen das unfassbare Leid gezeichnet werden und dazu diese schier unglaubliche Geschichte des Doktors, einer Geschichte des Leugnes, von Arroganz und Mitleidlosigkeit. O’Briens Doktor ist ein Rasputin und Wunderheiler, ein Seher. Sie schafft eine Figur, die ihre Abgründe in scheinbarer Menschenfreundlichkeit verbirgt und im Hintergrund hört man die Schreie der Geschundenen und Toten. Die Gewalt ist über 300 Seiten greifbar, nimmt den Leser brutal gefangen und wird aber nie voyeuristisch geschildert. Die kleinen roten Stühle tatsächlich ein Meisterwerk!

Kategorien Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

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