Leon de Winter polarisiert, Theo van Gogh hat polarisiert und beide haben sich nicht riechen können.
Jetzt muss aber erstmal sortiert werden: Leon de Winter ist einer der Schriftsteller der Niederlande und geistert immer wieder durch die Medien, eben nicht nur wegen seiner Bücher, sondern auch wegen seiner Religion und seinen Attacken auf den Islam.
Theo van Gogh, tatsächlich der Urenkel von dem gleichnamigen Bruder des großen Vincent, war ein niederländischer Filmemacher, der nicht zuletzt aufgrund seines gewaltsamen Todes traurige Berühmtheit erlangte. 2004 wurde er auf offener Straße von Mohammed Bouyeri niedergeschossen, dieser schnitt ihm die Kehle auf und heftete mit einem Messer ein Bekennerschreiben an (in) seinen Körper. Anlass war ein islamkritischer Kurzfilm van Goghs (siehe unten) – Submission – in dem eine Muslima die Unterdrückung der Frau in der islamischen Welt und Religion anprangert.
Theo van Gogh und Leon de Winter waren sich nie grün, weil van Gogh de Winter immer wieder dessen (angeblicher) Zurschaustellung seines jüdischen Glaubens und die Vermarkt seiner Familiengeschichte vorwarf – eine Fehde die über 20 Jahre dauerte, sich nicht nur in Beschuldigungen erschöpfte, sondern Beleidigungen und Lügen beeinhaltete.
Umso erstaunlicher daher, dass in de Winters neuem, heute erscheinenden, Buch Auftritt 1 dem verstorbenem Filmemacher und dem Tag seines Todes gebührt. Doch van Gogh “erwacht” wieder im Himmel und hier gehen die Verwicklungen los. Er bekommt einen ihn anleitenden “Engel-Erzieher” zur Seite gestellt, der ihn auf seinem Weg zu Stufe 2 des Verstorbenseins begleitet und ihm die Betreuung eines (lebenden) Ex-Gangsters aufträgt. Dass Engel Jimmy zufällig dem Verbrecher Max Kohn nach seinem Tod sein Herz gespendet hat, der vor Jimmy mit einer verflossenen Liebe liiert war, die jetzt mit dem Autor, de Winter selbst, zusammen kommt, lässt bereits auf mannigfache Verwicklungen schließen, die im Laufe des Buches immer verzwickter, aber auch raffinierter werden. Alle Verbindungen sind, bis auf eine unglaubwürdige, um den Kreis zu schließen, etwas hineingedokterte Halbbruderschaft, von erheiterndem Einfallsreichtum.
Doch in diesem Buch geht es nicht (nur) um ein lustiges Ränkespielchen zwischen Engeln, sondern um die Bedrohung durch Terrorismus in Europa, denn elf junge Marokkaner planen einen Anschlag auf die Oper in Amsterdam und der Anführer dieser Bande ist der Sohn der ehemaligen Rechten Hand des van Goghs zugewiesenem Schützling. Während immer weitere persönliche Verwicklungen ans Licht kommen, stellt sich heraus, dass der Anschlag auf die Oper nur Schritt eins in einem perfiden Plan war.
Obwohl ich ein belastbarer Leser bin musste ich bei folgender Szene schwer schlucken:
Er zog etwas hervor, was er die ganze Zeit hinter seinem Rücken versteckt hatte. Flügel. Wunderschöne weiße Flügel im weißesten Weiß, das Theo je gesehen hatte, transparent wie Glas, leicht wie Luft, zart wie der feinste Samt.
Das ist nicht starker Tobak, das ist drüber und wenn mir eine solche Schilderung nicht erst auf Seite 385, sondern 25 vorgesetzt worden wäre, man hätte mich wahrscheinlich vergrault. Aber trotz des Himmelszenarios weiß de Winter seine Figuren realistisch zu führen, vermengt Realität und Fiktion geschickt und schafft einen Roman, der packend die Sorgen des modernen Europa vor dem nicht zu beherrschenden, weil nicht einzuschätzenden und zu fassenden Terror, und der eigenen Geschichte im Zeitgeist der Niederlande zusammenfügt. Sympathisch, wenn auch nicht immer glaubhaft, macht er auch vor der eigenen Person nicht halt und lässt sich Dingen sagen wie:
“Oder klingt das jetzt wieder zu rechts […]?”
LdW ist aber auch derselbe Autor, der seine sympathische Freundin Sonja Geert Wilders für seinen Rechtspopulismus angreift (und dies überaus überzeugend):
Ich kenn mich mit dem Islam nicht aus. […] Aber man kann die Leute nicht ungestraft Jahr für Jahr in ihrer tiefsten Überzeugung beleidigen. […] Und damit sind Sie nicht nur für sich selbst, sondern für uns alle Risiken eingegangen. Im Grunde für die gesamte Gesellschaft. Sie haben Extremisten provoziert. Die werden nicht weniger extremistisch, wenn man Reden über sie hält, wie Sie es tun.
Der polarisierende de Winter hat ein Buch geschrieben, in dem alle Pole zwischen denen er sich aufreibt und er aufgerieben wird, vorkommen und erstaunlich unvoreingenommen miteinander konkurrieren. Am Ende bricht er, zum Glück, noch ironisch mit den Engeln und lässt mich aufatmen als ihm van Gogh im Traum erscheint.
“Bring mich als Engel in deinem Buch unter.”
“Das ist zu viel des Guten, Mensch.”
“Mach einen Engel aus mir. Aber wir haben keine Flügel. Den Fehler darfst du nicht machen.”
[…]
“Ohne Flügel. Warte… Nein, mach mal mit Flügeln. Ist nicht verkehrt, wenn die Menschen denken, dass wir Flügel haben…”
Ein gelungener Roman zwischen Realität und Fiktion, der dazu anregt auch mal hin und wieder in unser Nachbarland zu schauen und was dort politisch so am vorgehen und kochen ist.