Frankfurt liest ein Buch – und zwar das eines Sohnes der Stadt: Siegfried Kracauer, einen so vielseitigen Mann, dass Wikipedia ihn als “Journalist, Soziologe, Filmtheoretiker und Geschichtsphilosophen” führt. Dieser äußerst vielseitige Mann und Vorzeigeintellektuelle schrieb aber auch einen großen Roman, der vergessen und nun zu Recht wieder in den Fokus der Feuilletons gerückt wurde.
Ginster heißt der Protagonist des Werkes, dass zur Zeit des ersten Weltkriegs spielt. Der junge Mann hat gerade seinen Doktor in Architektur gemacht und wohnt nach dem Studium in “M.” nun wieder in “F.”(-rankfurt). So eine richtige Freude scheint ihm sein Beruf aber nicht zu machen, auch hat er keine Freunde im klassischen Sinn, sondern vielmehr nur Bekannte, mit denen er sich zwar trifft und diskutiert, die er aber auf Distanz hält. Von Frauengeschichten braucht man bei einem solchen Grantler gar nicht sprechen.
“Ich habe schon oft darüber gegrübelt”, fuhr Ginster aus einem ihm unerklärlichen Sprechzwang fort, “worin sich die anderen von mir unterscheiden. Die Menschen sind an ihrem Leben interessiert, sie haben Ziele für sich, wollen besitzen und etwas erreichen. Jeder Mensch, den ich kenne, ist eine Festung. Ich selbst will nichts. Sie werden mich nicht verstehen, aber am liebsten zerrieselte ich. Das hält die Menschen von mir fern. Ich schlafe in einem gleichgültigen Zimmer und besitze nicht einmal eine Bibliothek.”
Leidenschaftslos, desinteressiert und isoliert zieht dieser Kerl mit dem komischen Spitznamen durch die Stadt und ergeht sich in Betrachtungen dieser, als der erste Weltkrieg ausbricht. Er beschreibt die Menschen, die Euphorie, aber auch die Sorgen um sich herum und lässt sich selber weiter treiben. Er will nicht in den Krieg ziehen, wurde zwar nach der Musterung zurückgestellt, kann also weiter und vorerst sicher zu Hause bleiben. Als eigentlich auch er eingezogen werden soll, rettet ihn immer wieder sein Arbeitgeber mit Reklamationen, durch die er immer wieder zurückgestellt wird. Er selbst positioniert sich gar nicht wirklich, lässt sich treiben, als er schlussendlich doch in der Kaserne landet, verzichtet er auf die angebotene (erneute) Zurückstellung, weil er die wochenlangen Verzögerungen satt hat. Aber die Ausbildung zum Soldaten geht ebenso gleichgültig an ihm vorüber wie die Auszeichnung seines Chefs bei einem Architekturwettbewerb mit Ginsters Plänen für einen Ehrenfriedhof.
Gleich zu Beginn der Ausbildung erfuhr Ginster, daß ein richtig geführter Krieg von Kleinigkeiten abhing, deren Bedeutung für Schlachten ihm früher entgangen war. So durfte er morgens das Deckbett nicht unordentlich liegen lassen, sondern hatte es nah erfolgtem Schütteln durch Kneten und Streichen in die vorschriftsmäßigen Winkel zu pressen.
Gerade die Isoliertheit Ginsters macht ihn zu einem perfekten Beobachter und mit seinem Desinteresse entlarvt er gesellschaftliche, menschliche und politische Unsinnigkeiten und Schwächen. Der lakonische Stil Kracauers entwickelt einen ganz eigenen Humor, einen solchen der manchen Menschen eigenen ist, die gar nicht lustig seien wollen und es dadurch umso stärker sind.
Wenzels Frau war eine Schatulle, der ein paar von den hellblonden Kindern entsprangen, die fortwährend vorausliefen und wiederkehrten. In der Zwischenzeit verdoppelten sie sich manchmal. Während des Gehens knöpfte Wenzel, der auch den Bauch an dem Marsch teilnehmen lassen wollte, die Weste auf. […] Ginster, der sich ebenfalls anstrengt, gesellig zu sein, war froh, daß ihm Kamillen einfielen, denn die Frau beschäftigte sich viel mit hygienischen Kräutern. Rast gemacht wurde in einem Forsthaus, in dem sie die mitgebrachten Stullen auswickelte. Ganz bescheiden, aber bitte, gerne gegeben, wir habe nicht mehr. Vor lauter Genügsamkeit wäre sie fast zerplatzt.
Die Lektüre ist stellenweise aufgrund des Charakters Ginsters etwas sperrig, dies lässt den Leser die klemmigen Situationen, in die er gerät aber umso deutlicher spüren. Der Blick des (selbstgewählt) Unbeteiligten auf Gesellschaft und Personen zur Zeit des ersten Weltkriegs stellt eine ungewohnte Perspektive dar, die im Laufe der Lektüre einen ganz eigenen Reiz entwickelt. Dadurch, dass sich Ginster bewusst emotional und praktisch aus allem heraushält entsteht ein Roman, der eben nicht nur “hier und da ganz humorvoll” ist, schöne “Metafer[n]” (sic!) liefert, aber “keinen vom Hocker reisst” (so ein Rezensent bei amazon), sondern eine Zeit durch ein ganz eigene Sicht ganz neu darstellt.