Von meinem Stuhl aus ist mir London viel näher als die 17th Street.

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Helene ist Lektorin und Drehbuchautorin und immer etwas knapp bei Kasse, trotzdem möchte sie die Bücher, die sie in der Bibliothek begeisterten, besitzen. Aber nicht in den hässlichen, auf billigem Papier und mit schäbigen Einbänden versehenen, Bänden, die sie in den USA bekommt. Bücher, die sie liebt, hätte sie gerne in einer schönen Ausgabe. Sie interessiert sich vor allem für Biographien, Tagebücher und Briefwechsel. Romane, abgesehen von Jane Austen oder Tristram Shandy, liest sie nicht, denn das sind Bücher über Dinge, “die Leuten, die nie gelebt haben, nicht zugestoßen sind”.

Um ihr schmales, aus nur drei Kisten bestehendes, Regal mit entsprechenden Bänden zu füllen, wendet sie sich im Oktober 1949, in Ermangelung des modernen Onlinehandels und auch etwas der eigenen Faulheit geschuldet, an das Antiquariat Marks & Co in der 84, Charing Cross Road, London.

Bei der ersten Bestellung bleibt es nicht und zusammen mit ihren speziellen Wünschen gibt Helene auch immer mehr von ihrer Person preis. In sehr deutlichem Ton formuliert sie ihr Begehr und schilt auch schonmal ihren Gegenüber Frank Doel, falls dieser zu langsam liefert oder die Ware nicht ihren Vorstellungen entspricht. Als Helene von den Rationierungen im London der Nachkriegszeit erfährt, schickt sie das erste Carepaket via Dänemark in die Buchhandlung und versorgt die ihr ans Herz wachsenden Engländer über den Ozean mit Hilfe des dänischen Versandhandels immer wieder mit Eiern und Fleisch. Obwohl durch mehr als 5500 km getrennt, entspinnt sich langsam eine Brieffreundschaft, nicht nur mit Frank, der eifersüchtig die Korrespenz mit Helene für sich beansprucht, sondern auch mit dessen Frau, anderen Mitarbeitern des Antiquariats und der Nachbarin der Familie Doel.

Das Herzstück, neben der Geschichte einer wundersamen Freundschaft, bildet die Liebe Helenes zur Literatur und ihre Suche nach interessanten Ausgaben mit Geschichte.

Ich liebe Widmungen auf dem Vorsatz und Randnotizen; ich mag das Gefühl von Verbundenheit, das entsteht, wenn ich Seiten umschlage, die jemand vor mir bereits umblätterte, und Abschnitte lese, auf die jemand, der schon lange nicht mehr lebt, meine Aufmerksameit gelenkt hat.

Groß ist Helenes Entrüstung als eine der Sendungen in die Seiten eines anderen Buches eingewickelt ist; größer nur wenn die Lieferung nicht ihrer Vorstellung entspricht.

Das ist nicht Pepys’ Tagebuch, das ist die elende Zusammenstellung von EXZERPTEN […], herausgegeben von irgendeinem übereifrigen Kerl, der in der Hölle verfaulen möge! Ich könnte ausspucken davor! […] Ich werde mich mit diesem Ding behelfen, bis Sie mir einen richtigen Pepys finden. Und DANN, dann werde ich dieses Ersatzbuch auseinander nehmen, Seite für Seite, und SACHEN DARIN EINWICKELN.

Helene schreibt in ironisch-frotzelnem Ton, während Frank in der Sprache seiner Briefe, trotz der entstehenden emotionalen Nähe, leicht distanziert bleibt. Von der rein geschäftlichen Korrespondenz entwickelt sich diese zu einer Brieffreundschaft. Herr Doel, der Sachbearbeiter einer Bestellung, wird zum Freund Frank, die Geschäftsbeziehung zu einer Patenschaft Helenes für die Belegschaft eines ganzen Ladens auf einem anderen Kontinent.

84, Charing Cross Road, eine der ersten Publikationen des Atlantik Verlags, ist ein kleines Buch über eine Freundschaft, die durch die Liebe zur Literatur enstanden und zusammengehalten, und am Ende vom Leben eingeholt wird. Allein Helenes schnodderiger Ton und ihr Witz lohnt die Lektüre.

Der Bericht zu Helenes, im Verlauf der Korrespondenz immer wieder verschobenem, Londonbesuch ist als Die Herzogin der Bloomsbury Street erschienen. Eine Seite mit Hintergründen zur Geschichte der Buchhandlung Marks & Co und ihrer Belegschaft ist hier erreichbar (englisch).

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

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