Das Gedenkjahr zum Beginn des ersten Weltkriegs ist momentan allgegenwärtig. Einzelne Bücher wurden bereits kurz vor ’14 lanciert – siehe 1913 von Florian Illies – oder haben schon vor Jahreswechsel hohe Wellen geschlagen, wie Die Schlafwandler von Christopher Clark, das zum neuen Standardwerk über den großen Krieg zu werden scheint. Neben all diesen wichtigen Werken von Historikern, Populärwissenschaftlern und Schriftstellern erschien im März aber ein Buch, das siebzig neue Perspektiven liefert, die bei den anderen etwas untergehen: 70 Innenansichten.
In Über den Feldern hat der Manesse Verlagsleiter Horst Lauinger eine internationale, weltliterarische Gesamtschau von Kurzgeschichten, Essays und Novellen zum Ersten Weltkrieg zusammengestellt. Anders als die meisten Veröffentlichungen von Historikern stehen hier nicht politische Zusammenhänge und die Wechselwirkung von Menschen als Kanonenfutter, sondern das Individuum als Kriegsteilnehmer im Fokus. Als Schauplatz dient nicht allein die Front, sondern auch und vor allem, “die inneren Fluchten, Ideen- und Seelenräume sowie, nicht minder umkämpft als die Gefechtszonen der Außenwelt, die Territorien des Gewissens”, wie der Herausgeber in der editorischen Notiz treffend zusammenfasst.
Mit sicherer Hand hat Lauinger Texte ausgewählt, deren Zusammenstellung nicht genug gelobt werden kann. Zu den sowieso Großen dieser Zeit – Hemingway, Zweig, Proust, Musil, Woolf, Döblin, Conrad, Brecht, Faulkner, Kafka – treten die Texte der großen Pazifisten – wie Romain Rolland oder Émile Verhaeren – dagegen bleibt Thomas Mann, anders als Heinrich, aufgrund seiner Kriegsbegeisterung außen vor, denn die Tendenz der Veröffentlichung ist versöhnlich und friedlich. Daher haben nicht nur Manns Betrachtungen eines Unpolitischen hier nichts verloren, sondern auch der vom Krieg berauschte Ernst Jünger fehlt. Doch wird beispielsweise mit Louis-Ferdinand Céline, dem Italofaschisten Gabriele d’Annunzio oder Rudyard Kipling, der zu Beginn des Krieges noch zum bedingungslosen Kampf gegen die Hunnen aufrief, auch umstrittenen Autoren Gehör verschafft, nie jedoch mit allzu tendenziösen Texten, sondern immer nur mit solchen, die der aufmerksame Leser entsprechend einordnen kann. Hierzu gesellen sich in Deutschland eher unbekannte Autoren wie Akutagawa Ryunosuke, Mohammad Ali Dschamalzade oder Miroslav Krleza.
Insgesamt handelt es sich um Texte aus 16 Sprachen, darunter auch auf dänisch, serbokroatisch, japanisch, persisch und armenisch, viele neu- oder erstmals übersetzt. Über Landes- und Sprachgrenzen hinweg vereint dieses Buch große Literatur. Der Rücken des in bedrucktes Leinen gebundenen Buchs hält Wort so er von einer weltliterarischen Gesamtschau spricht, von einem universellen Panorama, das menschliche Abgründe beleuchtet, die Realität des Krieges zeigt und aber auch, und hierin ist es groß, mit unvermuteten Hoffnungs- und Glücksmomenten überrascht. Denn mögen die historischen Bearbeitungen in diesem Jahr Pflichtlektüre, die Kür dürfte nunmehr Über den Feldern sein. Denn hier wird aufgezeigt, dass trotz dieser weltumfassenden und -verschlindenden Katastrophe, in und im Angesicht dieser dunklen Zeit große Literatur geschaffen wurde, die uns heute noch bewegt.