Zweimal habe ich meinen Einsatz für die sonntägliche Lyrik erst verpasst, 64 Einträge hat diese Kategorie gesammelt und (zumindest mich) einmal wöchentlich in Berührung mit schönen, großen und erschütternden Gedichten gebracht. Trotzdem fällt es mir manchmal nicht leicht Neues für jeden Sonntag zu finden, Copyright-Probleme mit lebenden oder erst kürzlich (vor weniger als 70 Jahren) verstorbenen Autoren grenzen die Auswahl zudem etwas ein. Daher wird es die Lyrik Abteilung ab sofort nur noch in veränderter Form geben: Nicht der Ablauf einer Zeitspanne, sondern meine persönliche Begeisterung für ein Gedicht soll der Grund für dessen Veröffentlichung hier sein.
Besonderes Schmankerl anlässlich dieser Änderung und auch (mit) Anstoß hierfür ist meine kürzliche Lektüre der Gedichte Helmut Kraussers Verstand & Kürzungen, aus denen ich mit freundlicher Genehmigung des DuMont Verlages einzelne Gedichte an dieser Stelle veröffentlichen darf.
Verstand & Kürzungen ist als Lyrik Band derart ausgewogen und gelungen, dass ich ihn schon mehrmals von vorne nach hinten durchgearbeitet oder spontan aufgeschlagen habe. Das Buch versammelt zwei grandiose Tiergedichte in einer U-12-Abteilung, neue und “Bonus”-Gedichte Kraussers, hat eine eigene Ü-18-Abteilung mit Schmuddel, Coverversionen bekannter Gedichte und Neuübersetzungen Kraussers von den seiner Meinung nach 33 besten Shakespeare Sonetten.
Der Ü-18-Abteilung ist eine Warnung vorangestellt – Die folgenden Gedichte können Gefühle nicht nur verletzen, sondern auch verursachen. – und dies sagt fast alles was man über Kraussers Lyrik wissen muss. Sie kratzt und beißt, ist unbequem und schamerfüllend, abstoßend und anziehend zugleich, keines dieser Gedichte, und das gilt für den gesamten Band, wird man gleichgültig konsumieren. Wer hier nicht voll Verzücken oder Abscheu zu schreien beginnt, hat keine Gefühle, die man verletzen könnte, welche hervorzurufen scheint ebenso unmöglich.
Grandios ist schon der Krausser, welcher durch seine Lyrik spricht, in den Erläuterungen seiner Cover-Versionen oder in der Vorbemerkung der Sonette richtet er sich direkt an den Leser und entstaubt erfrischend Klassiker, entfernt was nicht wert ist bewahrt zu werden und stellt heraus was grandios dem Dichtergenie gelang. Mit Respekt, aber nicht ohne fundierte (beißende) Kritik, wird ein jeder behandelt, auch Shakespeare oder was der Leser heute aus ihm macht.
Diese Sonette erschienen zuvor im Berliner
Hochroth-Verlag in drei schmalen Bändchen,
die weiterhin dort bestellt werden können –
es ist eine der schönsten Editionsformen,
die ich kenne. Warum ich nur 33 der 154
Sonette übersetzt habe? Ich habe alle übersetzt,
die ich gut fand. Mehr fand ich eben nicht.
Proportional ähnlich geht es mir mit seinen
Stücken, und die christushafte, völlig unkritische
Verehrung, die ihm in letzter Zeit wieder
zuteil wird, geht mir ziemlich auf den Zeiger.
Mehr noch nerven aber die vielen Plapperer,
die von nichts ‘ne Ahnung haben, kaum Englisch
können, schon gar kein elisabethanisches
Englisch, aber als allererstes (und immer so
gönnerhaft und kennerisch) fallenlassen,
daß an die Originale halt doch nichts rankäme.
Allein die Idee die Vorbemerkungen wie die folgenden Sonette zu setzen ist zwar nur eine kleine Idee, aber bereits ein deutliches Zeichen für die Lust, mit der Krausser an und mit Texten spielt. Welche noch deutlicher wird, wenn er sich den Cover-Versionen widmet, in diesen geht es nicht, wenigstens in den meisten Fällen, um Verbesserungen. Krausser interessiert sich “schlicht”, was er aus diesem oder jenem Einfall gemacht hätte – hätte er ihn gehabt. Seine Auswahl reicht von Ovid, Rilke, Brecht und Hölderlin, über William Blake, Goethe und Benn, zu Heine und Nietzsche. Vor allem aus diesen Cover-Versionen werden in nächster Zeit einige, mit der Gegenüberstellung des Originals, hier erscheinen. Ich freue mich sehr dies mit euch teilen zu können und kann jeden, aber auch jeden Lyrikmuffel, nur ermuntern dieses Buch zu kaufen, noch nie wurde man so einzigartig zur Liebe zu einer Gattung bekehrt.