Im März gab es nicht nur die Buchmesse in Leipzig, mit Bloggerpatenschaft, Lukrez und Klaus Binder, nicht nur Interviews und Gequengel über die Büchergilde, es wurde auch gelesen.
Dr. Tod – Nicholas Kulish/Souad Mekhennet
Der Titel klingt etwas übertrieben, doch so wurde Aribert Heim, einer der letzten verfolgten NS-Kriegsverbrecher genannt. Im KZ Mauthausen hat dieser Arzt auf brutalste Art und Weise Menschen umgebracht und ist nach Ende des Krieges einfach verschwunden. Dies war nicht nur den Wirren im zerstörten Deutschland, sondern auch der Durchsetzung der neuinstallierten Verwaltung mit Altnazis und dem Schutz von Geheimdiensten geschuldet. “Wir sind hier der Ansicht, dass sein Wert als Informant unendlich viel größer ist als jeder denkbare Nutzen, den er im Gefängnis haben könnte”, ließ etwa der CIC (der ehemalige militärische Abwehrdienst der USA) über Klaus Barbie intern verlautbaren. Heim war zwar nicht so nützlich wie Barbie, aber auch (lange) kein so bedeutender Name, dass viel Aufhebens um sein Verschwinden gemacht wurde. Doch im Laufe der Jahre wurde durch Tod der Gesuchten und bereits abgeschlossene Strafverfahren der Kreis um Heim enger, doch gedeckt durch seine Familie und geschickte Taktik seines Anwalts hatte sich dieser inzwischen nach Ägypten abgesetzt, finanziert durch Grundbesitz in Deutschland, der ihn lange Zeit finanzierte. Heim wurde, anders als Barbie, nie geschnappt. Nie musste er sich daher vor einem Gericht für seine Taten verantworten und trotzdem kommen die Autoren fast zu einem versöhnlichen Resümee:
Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern ist nicht einfach etwas, das bald der Vergangenheit angehören wird. Sie schuf einen Präzedenzfall für die Ahndung von Völkermord überall auf der Welt.
So ist Dr. Tod zwar eine Geschichte des Versagens deutscher und internationaler Strafverfolgung, eine Ansammlung von Missgeschicken, Vertuschungen und Fehlurteilen, aber auch eine Mahnung und die Entwicklungsgeschichte eines Rechtsstaats.
In diesem Zusammenhang sei auch an Furchtbare Juristen erinnert, das erfreulicherweise neu aufgelegt wurde.
Ein Liebesabenteuer – Alexandre Dumas (d.Ä.)
Alexandre Dumas hat solche Großklassiker der Unterhaltung wie Die drei Musketiere oder Der Graf von Montechristo geschrieben. Neben diesen beiden Bestsellern stammen aber noch unzählige Theaterstücke, Novellen, historische Romane und Werke zur französischen Küche aus seiner Feder. Ein Liebesabenteuer, eine stark autobiographisch gefäbrte Geschichte, wurde letztes Jahr vom Manesse Verlag erstmals übersetzt. Eine junge Schauspielerin trifft den bereits gealterten Dumas und erbittet von ihm die Einführung in die wichtigen Künstlerkreise von Paris. Sie macht dem als Aufreißer berüchtigten Schriftsteller aber sofort klar, dass sie Mann und Kind in der Heimat hat. Dumas ist trotzdem betört und folgt Lilla auf ihrer Reise durch Europa.
Eine wunderbar leichte Geschichte voller Witz (köstlich allein wie Dumas sich über die Deutschen ereifert) und Romantik, Freundschaft und Liebe: Leichte Unterhaltung mit gehobenerem Niveau, zum in einem Zug Wegschmökern.
(Diesen Alexandre Dumas nicht mit seinem Sohn verwechseln. Der schrieb unter anderem Die Kameliendame.)
Über die Natur der Dinge – Lukrez/Klaus Binder
Eine der Entdeckungen des Monats und ein Segen der Bloggerpatenschaft, aus der sich ein sowohl interessanter als auch schmeichelhafter Briefwechsel mit Klaus Binder anschloss. Für Freude der Philosophie, für solche des schönen Buchs und die mit Ruhe und Ausdauer. Bitte Lukrez lesen und ruhig auch mal die Übersetzungen vergleichen. Zur ausführlichen Rezension aufs Zitat klicken.
Die Sprache der Vögel – Norbert Scheuer
Also wenn es zwei Dinge gibt, die ich nicht leiden kann sind es Vogelviecher und Krieg, aber dieses Buch… ich bin ein bisschen sprachlos (was natürlich nur ankündigt, dass nun ein Redeschwall folgt).
Paul Arimond ist vor seinem Leben in der Eifel in den Krieg nach Afghanistan geflohen. Der zurückhaltende junge Mann vertreibt sich den Tag mit Vogelbeobachtungen und dem Zeichnen. Zwischen dem unspektakulären, aber im Kriegszustand immer angespannten Alltag wird der Grund für seine Flucht in Rückblenden gezeigt. Die Schuld an einem Autounfall, bei dem sein bester Freund schwer verletzt wurde, lastet auf ihm und hat sein altes Leben mit einem Schlag zerstört.
Norbert Scheuer, einer der Nominierten des Leipziger Buchpreises für Belletristik, eilt in schnell, kurzen Sätzen durch die Geschichte, die sich am Ende wundersam in ein ausgewogenes Ganzes fügen. Die Lautstärke und Geschwindigkeit des Krieges prallen auf die Ruhe Pauls, die Sätze Scheuers wollen verweilen und werden durch die Story getrieben, das liebevolle Interesse Pauls für Vögel kontrastiert dessen Gleichgültigkeit für den Krieg, gar für Tote und Verletzte. Die menschlichen Verluste werden nur festgestellt, während der Sanitäter Paul Vögel bis ins Detail von Aussehen und Verhalten darstellt. Der Soldat sucht einen Ausweg aus dem Lager, aber nicht um zu desertieren, sondern nur um weiter ungestört beobachten zu können.
Ein so zauberhaftes Buch voller beeindrucktender Schönheit, trotz Krieg und Flattertier. Bitte unbedingt lesen!
Unerbittliche Freunde – Fritz J. Raddatz
Über den Tod des Helden immer noch nicht hinweg, lese ich momentan alles was mir in die Finger kommt, auch diesen schmalen Band, in dem Kritiken und Interviews Raddatz’ mit dem (Ex-)Freund Günter Grass zusammengestellt wurden. Wirklich nur für Fans des einen oder anderen. Literaturkritik ist größtenteils nicht derart zeitlos, dass sie auch nach Jahren noch einfach genossen werden könnte. Kein Wunder also, dass dieses Buch vergriffen ist und nicht neu aufgelegt wurde, Leserschaft, jenseits von Maniacs wie mir und vielleicht noch Biographen, dürfte hiermit schwer zu machen sein.
Oona & Salinger – Frédéric Beigbeder
Ist diese Jahr irgendetwas mit Salinger, dass die Bücher über ihn derart aus dem Boden wachsen? 5 Jahre tot oder 96. Geburtstag? Nicht wirklich ein Grund zu feiern, aber die Fans danken es und nehmen alles was es über das Phantom J.D. Neues gibt, auch wenn es nicht seiner Feder entstammt. Frédéric Beigbeder, selbst bekennender Salinger-Fan, schreibt also eine halbfiktionale Geschichte über die Jugend des Idols; so halbfiktionale Bücher schreiben ja heute alle.
Unter Fans tritt man aber manchmal in Konkurrenz wer das Vorbild besser kennt. Fasst der Franzose also Der Fänger im Roggen zusammen als kurzen Roman, der die Geschichte eines Jungen erzählt, der aus seinem Internat geworfen wird, im Central Park herumstreift und sich fragt, wo die Enten hingehen, wenn der See im Winter zugefroren ist, möchte man ihm an Gurgel springen und schreien “Es geht doch nicht um die Enten!”.
Nicht gänzlich unvoreingenommen beginne ich also dieses Buch, das bereits mein viertes des Autors ist, und bin überrascht wie schnell er mich doch wieder gefesselt hat. Kein Konkurrenz mehr. Beigbeder beschreibt wie der junge Jerry die Tochter des amerikanischen Literaturnobelpreisträgers Eugene O’Neill, Oona kennen und lieben lernt. So wenig man über Salinger weißt, so ist doch bekannt, dass diese, seine erste, Liebe ihn für sein ganzes Leben prägte. Jerry und Oona, die mit ihren beiden Jetset-Freundinnen das New York vor dem zweiten Weltkrieg aufmischt, kreisen umeinander, lernen sich vorsichtig kennen und bald verbindet die 15-Jährige und den jungen Schriftsteller eine zaghafte Beziehung, die aber nur kurz halten wird. Jerry zieht in den zweiten Weltkrieg und Oona lernt den deutlich älteren Charlie Chaplin kennen, wird dessen vierte Frau und gebärt ihm acht (!) Kinder. J.D. kommt verändert aus dem Krieg wieder, schreibt einen Weltbestseller, trauert Oona nach und zieht sich wenig später für immer zurück.
Mir bleibt nichts übrig als den Hut zu ziehen. Beigbeder schafft es sogar Salingers Ton aufzugreifen ohne ihn zu imitieren. Er flicht fiktive Briefe und authentische Anekdoten ein, der Autor schaltet sich mit Kommentaren dem Erzählten zu und ja, am Ende glaubt man sogar, dass alles genau so gewesen ist. Denn, nach Beigbeder, trieb Hemingway Salinger in die Einsiedelei, Oona war der Grund, dass er immer jüngere Frauen hatte. Liest man ganz genau “hin”, ist dieses Buch nicht nur ein Buch über den literarischen Helden des Autors, sondern auch über die Abscheu des Krieges und dessen Folgen.
Oh ein herrliches Buch über echte Fakten und unechte Wahrheiten, die sich genau so zugetragen haben könnten. Beibeder lesen, dann Salinger lesen und dann einen Chaplin Film ansehen, dann wieder Salinger lesen. Allein die Szenen wie die beiden junge Oona und J.D. einander kennenlernen und sich schüchtern näherkommen, man möchte wieder 15 sein – oder lieber doch nicht?
Ein ganzes Leben – Robert Seethaler
Robert Seethaler wird von allen geliebt. Sein Trafikant in den Himmel gehoben. Nach dessen Lektüre hatte ich mit dem Mann bereits abgeschlossen, zu vorausschaubar und zu gefühlig, weil aber wenige Seiten und mein letzter Kauf bei der Büchergilde eine zweite Chance für Robert S. mit Ein ganzes Leben.
Die Geschichte des Andreas Egger, des verkrüppelten Ziehsohn eines bösen Bauern, der die eigenen Kinder diesem vorzieht, der zum starken Hilfsarbeiter heranwächst, seine Behinderung durch Kraft, Geschick und Schläue ausgleicht, stumpfsinnig liebt und Verluste erleidetet, erduldet, erduldet und erduldet, bleibt für mich auch nur die alte Mär vom ungeliebten Findelkind, die des dummen Glücklichen. Everybody knows, never go full retard.
Dann lest lieber nochmal Die Sprache der Vögel (s.o.).
Bonsai – Alejandro Zambra
Eine kleine andersartige Liebesgeschichte, nicht Seethaler, sondern so wie der es gerne könnte. Alejandro Zambra, ein junger Chilene, schreibt einen Kurzroman über die zwei Studenten verbindende Leidenschaft für Literatur und die schier unerschöpfliche Liebe eines jungen Mannes zu einer Frau über den Tod hinaus. Kein Kitsch, kein Schmalz, kein Wort zuviel, kein Seethaler. Leicht, sexy, wunderschön, traurig – gut!
Julios und Emilias Eigenheiten waren nicht nur sexueller Natur (obwohl auch dieser), nicht nur emotionaler (dies zur Genüge), sondern gewissenmaßen auch literarischer. In einer besonders glücklichen Nacht las Julio zum Spaß ein Gedicht von Rubén Darío vor, das Emilia vorspielte und banalisierte, bis ein buchstäblich sexuelles Gedicht daraus geworden war, ein explizit sexuelles Gedicht samt Schreien und Orgasmen. Von da an wurde eine Gewohnheit daraus, aus diesem lauten – leisen – Lesen jede Nacht vor dem Vögeln.
Der gute Deutsche – Christian Bommarius
Dunkle deutsche Geschichte zu Beginn und Abschluss des Monats. In der Kolonialzeit haben sich die wenigsten westlichen Staaten mit Ruhm bekleckert. Über die Historie des deutschen Reichs aus diesem Kapitel, weiß man aus der Schule zumeist nur, dass wir zu spät kamen, Wilhelm II. im Wettlauf um wichtige Rohstoffe versagt hat und aus der Kompensation und den Verwicklungen der Erste Weltkrieg (mit-)entstand. Wie widerwärtig man sich aber vor 100 Jahren, vor nur vier Generationen, im Namen Deutschlands in Afrika ausgetobt hat, wird meist verschwiegen.
Grundlage der Bewirtschaftung Afrikas durch unsere Vorfahren waren Verhandlungen, die in etwa so zusammengefasst werden können: Euer Hwg. melde ich ganz gehorsamst, dass das Dorf Maomu abgebrannt ist. Die Einwohner waren vorher aufgefordert, mit mir zu verhandeln. Sie liefen jedoch fort und waren trotz Versprechungen und Drohungen nicht dazu zu bewegen zur Unterredung zu kommen. Da sie den Pflanzungsleiter Rehbein an seiner Plantagenarbeit hindern, keine Arbeiter stellen und sich auch sonst widersetzlich zeigen, brannte ich darauf hin das Dorf ab. Diese Vorgehensweisen sind heute nur noch von Hausverwaltungen in Hamburg und München oder bei Mobifunkanbietern üblich, stehen einer Nation, die auszog das glorreiche deutsche Rechtssystem als Segen in “unkultivierte” Länder zu bringen, aber sehr schlecht zu Gesicht.
Eine Geschichte über persönliche Bereicherung an Schwachen, Vertragsbrüche der verlogenen Rechtshüter und -bringer mit dem Tiefpunkt der Hinrichtung eines der Enkel des Königs, der sich mit den Deutschen eingelassen hatte. Zur Aufarbeitung leicht übersehener deutscher Geschichte unbedingt zu empfehlen.
Hier begegnet uns übrigens auch ein alter Bekannter: Józef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski, klar der schrieb besser als Bommarius, der war aber auch Joseph Conrad. Eine andere Art sich dieser Zeit zu nähern daher natürlich dessen Herz der Finsternis.