Es ist der Alltag, der unser Leben ausmacht!

Die Tagebücher von Samuel Pepys sind vor nicht allzu langer Zeit bei Reclam neueditiert aufgelegt worden, meine Frau Mama erwarb sie, ich schmökerte rein, begann mich aber schnell zu langweilen, kenne den Kerl ja nicht. Über seine Urteile zu Shakespeare Stücken kann ich schmunzeln:

“Ein Sommernachtstraum” […], ein Stück, das ich noch nicht gesehen habe und auch nie wieder sehen werde, denn es ist das geschmackloseste, lächerlichste Zeug, das ich mein Lebtag gesehen habe.

michaelmaarheutebedecktundkuehlWarm geworden bin ich trotzdem mit ihm nicht. Das London des 17. Jahrhunderts ist ein ziemlich schwarzer Fleck in meiner Bildung. Aber jetzt habe ich ein Buch genossen, das mir alle Arbeit abnahm: Heute bedeckt und kühl – Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf von Michael Maar erschienen bei C.H.Beck. In seinem Großessay hat Maar die (subjektiv) wichtigsten und interessantesten Tagebücher großer Literaten ausgewertet. Natürlich sind die bekannten Diaristen (tolles Wort!) Thomas Mann, Ernst Jünger, Franz Kafka, Harry Graf Kessler, sowie besagter Pepys allesamt vertreten, aber auch Menschen, die  und/oder ihr Tagebuchwerk ich nicht kannte: Sylvia Plath, Brigitte Reimann, Julien Green und Henri-Frédéric Amiel.

Aufhänger für die Kapitel sind die Fragen “Warum Tagebuch schreiben” und “Warum die Tagebücher anderer lesen”, aber bereits mit den ersten Zitaten gerät Maar ins Schwärmen, kommt aus dem Zitieren nicht mehr raus, ein riesiger Berg von Fundstellen türmt sich auf, eine kurioser, witziger, nachdenklicher als die andere. Man braucht einen sehr großen Zettel, um die ganzen Werke mitzuschreiben, auf die man beim Lesen Lust bekommt. Ein nicht versiegender Brunnen von Neuentdeckungen: Die Tagebücher von John Cheevers sind so grandios, dass ich unbedingt seine Romane lesen will, Susan Sontag, Walter Kempowski, Harry Grad Kessler, Peter Rühmkorf, Brigitte Reimann jetzt wo ich sie privat kenne, will ich mehr von ihnen lesen und selbst wenn Arno Schmidt als der unsympathischste Griesgram aus seinen Tagebüchern heraustritt, macht die Lektüre derselben Lust auf seine Bücher.

Einziger Wermutstropfen das häufige Versteckspiel am Anfang eines jeden Kapitels, wenn der Urheber der zitierten Tagebücher erst gegen Ende preisgegeben wird, am Anfang noch spannendes Stilmittel, unterliegt es mit fortlaufender Wiederholung zäher Abnutzung.

Dann wieder weiß Maar aber scheinbar so leicht Dinge zu erklären, wenn er bei der Lektüre der Tagebücher Victor Klemperers oder Anne Franks, nebenbei feststellt:

[…] weil der Mensch sich das Schlimmste immer nur am Einzelschicksal vorstellen kann und weil dieses Schlimme besonders empfunden wird, wenn es ein fröhliches junges Mädchen trifft.

Genau so ist es, mehr ist dazu nicht zu sagen!

Aber den Grund für die erhebende, interessante Lektüre von Tagebüchern bringt dann Walter Kempowski in den eigenen Aufzeichnungen auf den Punkt und damit möchte ich schließen.

Weiter in den Tagebüchern von Pepys. Der Vormarsch der Türken in Ungarn, die Pest in London. Ich las die ganze Nacht. Die Alltäglichkeiten sind es, die diese Aufzeichnungen so interessant machen. “Kaufte mir heute eine grüne Brille.” Das ist es. Das macht unser Leben aus.

Inzwischen twittert Samuel Pepys übrigens.

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

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