Alice Munro

“Writing this letter is like putting a note in a bottle – And hoping it will reach Japan”
Alice Munro, To reach Japan

Aus Nobel-gegebenen Anlass ein paar Worte von Saskia zu Alice Munro.

Alice Munro war ein Märchenkind. Die kleine Meerjungfrau von Hans Christian Andersen hatte es der kanadischen Farmerstochter besonders angetan, eine fremde Geschichte voller Sehnsucht und Verlangen. Nur das Ende war ihr ein wenig zu traurig und so schrieb sie kurzerhand ein neues.

Viele Jahrzehnte später ist Alice Munro (82) Literatur-Nobelpreisträgerin und irgendwo in ihren bedächtigen Kurzgeschichten ist sie eine Märchen-Erzählerin geblieben. Nicht im Sinne von abenteuerlichen Feen- und Fabelgeschichten. Ihre weiten kanadischen Landschaften sind eher kühle Einöden als verzauberte Märchenwälder. Prinzessinnen werden nicht von feuerspeienden Drachen bewacht, sondern von strengen Vätern und Kleinstadt-Konventionen. Bei Munro haben die Märchen Grauschleier, niemand will die Welt erobern, weil schon der nächste Schritt mühsam genug ist.

 Trotzdem wohnt allen ihren Geschichten ein unbedingter Wille zur Magie inne. Mikro-Magie vielleicht, die in alltäglichen Momenten und winzigen Dosen wirkt. Immer wieder gibt es Augenblicke, die einen Charakter verändern und ein paar Zentimeter wachsen lassen. Eine Hausfrau arrangiert ein Kammerkonzert im eigenen Wohnzimmer und lehnt sich damit zum ersten Mal gegen den Schraubstockwillen ihres Mannes auf. Eine Party bei einem Kollegen schickt eine Dichterin auf eine lange Zugreise, die sie weg von ihrer vernünftigen Ehe in die Ungewissheit führt. Munros Figuren müssen in den kurzen Geschichten nicht zwingend irgendwo ankommen. Viele Fragen bleiben unbeantwortet, viele Konflikte ungelöst, wichtig ist nur, dass sich jemand auf einen Weg gemacht hat.

Dass die Erzählungen trotzdem so eindrücklich sind, liegt daran, dass Alice Munro ein nachhaltiges Sprachkraftwerk ist. Mit ihrem langsamen Erzählstil nimmt sie die kleinen Schritte ihrer Figuren ernst und verleiht ihnen Kraft, ohne sie durch sprachliches Feuerwerk zu überhöhen.

Die Autorin beherrscht die Kunst, mit wenigen Sätzen die Essenz einer Situation zu beschreiben. So beginnt ihre Erzählung „Haven“ mit einer Bemerkung über die Haarlänge der Dorfjugend. Es waren die Siebziger, die Haare waren länger, aber längst nicht so lang, dass wirklich jemand Anstoß nehmen konnte.  Dieses Detail setzt den Ton für den Rest der Geschichte: es gibt keine Revolution, nicht mal eine offene Konfrontation, sondern höchstens feine Risse in erstarrten Strukturen.

 Mit oder ohne Nobelpreis ist Alice Munro eine lupenreine Literatin, motiviert durch ihre Lust am Erzählen und dem Format der Kurzgeschichte. Ihre Worte erinnern an verblichene Fotografien, die zwar etwas Verlorenes zeigen, auf denen der Zauber des Moments aber noch zu erahnen ist. Vielleicht ist dies ein seltener Fall von perfekter Arbeitsteilung zwischen einer Autorin und ihren Figuren: Viele Protagonisten scheinen kalt und emotional blutarm, doch die Märchenleserin Alice Munro besitzt genug Magie, um voll Wärme von ihnen zu erzählen.

Saskia ist Studentin, freie Journalistin und Kunstvermittlerin in unterschiedlichen Prozentsätzen. Im Bloggen ist sie genauso erfahren wie Alice Munro.