Ist man überhaupt noch Schriftsteller, wenn man nicht mehr in der eigenen Sprache gelesen wird?
Ein gebrochener, verbitterter Mann kommt Ende 1941 in Brasilien, genauer Petrópolis nahe Rio, an; er ist Exiliant, Jude, einer der größten Schriftsteller seiner Zeit; er ist Stefan Zweig. Mit ihm reist seine junge Ehefrau Lotte, geb. Altmann. Beide machen schwere Zeiten durch. Zweig hat alles verloren, was ihm lieb und teuer war, angefangen bei seiner geliebten Autographensammlung, den Büchern, seinem prächtigen Haus auf dem Kapuzinerberg in Salzburg über die deutsche Leserschaft, denen die Lektüre seiner Bücher verboten ist, bis zu seinen Freunden und der Heimat. Seit seiner Flucht aus Salzburg, bereits 1934, wird Zweig nirgendwo mehr heimisch, London, Bath, New York und Petrópolis, an keinem Ort schafft er es seinen Schmerz zu überwinden, seine Verletzungen zu kurieren und überall stürmen Menschen auf ihn ein, wollen seine Fürsprache für ein Visum, brauchen Geld. Stefan Zweig, der vielleicht empfindsamste Autor dieser Jahre, verzweifelt zusehends; der Flucht vor den Häschern, folgt die Flucht vor seiner Verantwortung.
An der Seite des bald 60 werdenden steht seine Frau Lotte, noch keine 30, von Asthma gepeinigt, zerfressen von Zweifeln, wie sie ihrem Heroen gerecht werden kann, gefangen in der Distanz des Sie, mit dem sie ihren eigenen Ehemann noch immer anspricht, umgeben vom Schatten der ersten Frau, von der sich Stefan nie vollends gelöst hat.
Auf den ersten Anschein ein weinerliches Buch dieses Vorgefühl der nahen Nacht, der Titel übrigens einem Gedicht Zweigs angelehnt; ständig bricht Lotte in Tränen aus, Stefan kapselt sich immer mehr ab, kommt zum Teil als menschenverachtendes, wehleidiges Ekel daher, nur mit der selbstmitleidigen Nabelschau der eigenen Probleme beschäftigt während Europa brennt, seine Freunde und Familie sterben.
Er will niemandem zur Last fallen. Doch seine Tat wird in alle Ewigkeit Schande über seinen Namen bringen. […] Er hat die leidende Menschheit im Stich gelassen und Fahnenflucht begangen, […]. Er hat sich wie ein Feigling verhalten, während man von ihm erwartete, dass er sich als Vorbild und Held zeigte.
Da ich aber ein großer Zweig Verehrer bin, kenne ich ihn, weiß ihn sozusagen zu nehmen. Mehrfach habe ich bereits seine Welt von gestern gelesen, seine Maria Stuart, viele seiner Novellen und Essays, auch seinen Roman Rausch der Verwandlung. Dazu die Biographie von Oliver Matuschek, die Comic Adaption Die letzten Tage von Stefan Zweig von Laurent Seksik, dem Autor dieses Romans, und Guillaume Sorel. Die Formel Anderen ging es noch schlechter mag zwar auf den ersten Anschein immer als Totschlagargument herhalten, blendet aber doch auch die Befindlichkeiten eines sensiblen, gebrochenen alten Mannes aus. Vielleicht macht man es sich zu einfach, wenn man ihm nur das Verpassen von Rettungschancen durch seinen Freitod vorwirft, hatte seine Verzweifelung wohl schon depressiv-krankhafte Züge, wurde sein Lebensunmut in den 40er Jahren pathologisch: er war ausgelaugt, er glaube an nichts mehr, schreibt Seksik und liegt damit wohl sehr richtig. Etwas Nachsicht bitte mit diesem armen Mann.
Aufgrund der bedrückenden Situation, in der sich Stefan und Lotte befinden, ist es selbstverständlich, dass Laurent Seksik keinen leichtfüßigen Roman zu Papier bringt, ebenso dass bei der Verarbeitung dieses Themas hin und wieder die Schwelle zum Kitsch überschritten wird. Und auch wenn ich diesen sonst so verteufle, möchte ich Nachsicht mit Seksik üben, denn er schreibt weitesgehend eine einfühlsame Betrachtung. Die, in den Mund und die Gedanken der Beteiligten gelegten, Passagen erscheinen glaubhaft und nie zu aufgesetzt. Besonders hat mich die hergestellte Verbindung zwischen Zweigs Kleist-Essay und dem Tod der beiden Dichter beeindruckt, die Parallelitäten sind erstaunlich! Nicht nur die offensichtliche Parallelität des gemeinsamen Freitodes, sondern auch Details, wie die Wahl einer scheinbar unbeteiligten Partnerin, im Schatten der eigentlichen großen Liebe, die mit in den Tod gezogen wird, arbeitet Seksik heraus. Besonders einfühlsam beschreibt er dabei die Reaktion der Protagonisten, als sie sich selbst dieser Parallelitäten bewusst werden.
Trotz der leichten Lesbarkeit würde ich dieses Buch demjenigen ohne zweigsche Vorbildung nicht unbedingt empfehlen, da hier nur ein kleiner, sehr düsterer Ausschnitt aus Zweigs Biographie dargestellt wird, der keineswegs repräsentativ für sein Leben steht, welches vor allem zu Salzburger und Wiener Tagen durch eine Fülle schöner und lebensbejahender Geschichten und Begegnungen geprägt war. Den Verehrern Zweigs möchte ich diesen Roman dafür umso mehr ans Herz legen, sucht dieser doch auf vielfältigste Weise diesem großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts nahe zu sein; Seksiks Roman ist in seiner fiktiven Innensicht eine lesenswerte Alternative zur historischen Außensicht.