Longlistlesen: Pfaueninsel – Schönheit ist Willkür.

Thomas Hettche hat den Deutschen Buchpreis nicht bekommen und ich kann mangels Kruso-Erfahrung nicht sagen, ob das so richtig oder falsch ist. Wie in vorherigen Beiträgen zu Long- und Shortlist-Büchern angeklungen, ist mir, wahrscheinlich auch den meisten anderen, nicht so richtig klar was der Deutsche Buchpreis auszeichnen soll, wann die Kunst bei der Preisvergabe hinter dem abzusehenden Absatzerfolg zurücktreten muss. So wie man hört, muss bei Kruso die Kunst die Nase vor der Verkäuflichkeit haben, der Preis dient also einer Förderung eines Künstlers und der Bewerbung seiner Kunst – so sollte es sein.

Was das alles mit Hettches Pfaueninsel zu tun hat? Dieses Buch ist mit Sicherheit kein Selbstläufer was den Verkauf angeht: das Sujet etwas sperrig, Preußen im 19. Jahrhundert nicht die Leckerbissenlektüre der Massen, Hettches Sprache an die Zeit angepasst, zudem legt der Autor weniger Wert auf Unterhaltung als auf das Schaffen einer eigenen Welt.

Nun kann ich also keinen Vergleich zwischen Kruso und Pfaueninsel anstellen. Ich kann aber sagen was Hettche sehr gut gelungen ist und was mir missfällt.

Daß man sie Schloßfräulein nannte, war nichts als ein Maskenspiel in der Spielzeugwelt der Pfaueninsel, wie alles andere hier auch, wie der Gutshof, bei dem es ganz gleichgültig war, wieviel Milch die Kühe gaben, wieviel Wolle die Schafe, alles nur Maskerade, Kulisse wie die Mauern des Schlosses, die nicht aus Steinen, sondern aus bemalten Brettern bestanden. Schlossfräulein, dachte Marie, und begann zu weinen, war sie nur in dieser Welt der Lüge, in der wirklichen aber ein Monster.

Maria Dorothea Strakon, genannt Marie, ist noch kleines Mädchen als sie zusammen mit ihrem Bruder auf die Pfaueninsel gebracht wird. Klein werden sie und ihr Bruder, dem Wuchs nach, immer bleiben und sich so in die Kuriositäten dieser Lustinsel der preußischen König nahtlos einfügen. Die Zwerge sind nur eine Attraktion inmitten von Palmen und Rosengärten, Löwen und Affen, einem Riesen und einem Südseeinsulaner, einem Vorzeigedorf, das nur, wie scheinbar die ganze Insel, um seinerselbst Willen existiert. In dieser Spielzeugwelt findet fast das gesamte Leben von Marie statt, um sie herum kommen und gehen Könige und es werden Kriege geführt, ihr Leben wird hiervon nur peripher berührt. Am jeweiligen Herrscher braucht sie eigentlich nur zu interessieren, ob dieser weiterhin die Pfaueninsel unterhält.

9783462045994Nicht nur über der Liebe Maries, sondern ihrem ganzen Leben, liegt eine Last, die sie seit einem Zusammentreffen mit der Königin Luise bedrückt. Ihren Bruder Christian hatte Luise Monster genannt und damit ein Trauma hervorgerufen, dass beide zu verarbeiten suchen. Christian lebt wie ein Faun in den Wäldern und die monströse Zwergin kehrt sich nach innen. Sie versucht ihren Körper und ihren Geist zu ergründen, die Grenzen zwischen Menschen und Monstern zu verwischen. Sie erfährt Liebe und Verlust, sie verspürt Verlangen und wird benutzt und um sie herum zerfällt eine Märchenwelt, in die sie immer weniger zu passen scheint. Bis auch sie als letzter Anachronismus aus dieser verschwindet.

Marie und ihr Bruder Christian haben tatsächlich auf der Pfaueninsel gelebt, beide waren kleinwüchsig. Vielmehr weiß man aber nicht über sie. Auch fast alle auftretenden Personen, zumindest die historischen, haben so oder so ähnlich gelebt. Durch das Aufgreifen der Geschichte zweier fast völlig Unbekannter nimmt und gibt sich Hettche die Freiheit seine Hauptfiguren in einer historischen Welt spielen zu lassen ohne sich historisch binden zu lassen, sich den Rahmenbedingungen zu unterwerfen und gleichzeitig in seiner Gestaltung völlig frei zu sein. So hat Hettche etwa seine Sprache an die der Zeit angepasst, schreibt also nicht nur Shawl und daß, sondern auch im Stil dem 19. Jahrhundert gemäß. Hieraus entstehen Passagen von vollendeter Schönheit, wenn er beispielsweise Marie das Werben des Pfaus beobachten lässt.

Ob die Henne ihn erhören wird? Marie betrachtete den balzenden Hahn mit Sympathie. Sie würde sich nicht zieren. Niemals würde sie schön sein, dachte sie traurig und verfolgte gebannt das Spiel zwischen den beiden. Wie er seinen Schmuck werbend immer wieder nach der Henne hindrehte, und wie sie ihn scheinbar nicht beachtete. Wie grotesk ist doch diese Schleppe, dachte Marie, wenn sie sich nicht zum Rad aufspannt, und das tat sie ja meistens nicht. Wie sehr sie den Pfau behinderte. Schönheit ist Willkür. Es gab sie nicht, wenn er ihr nicht gefiel. Ganz egal, ob ich ihn schön finde, dachte Marie, nur ihr muß er gefallen.

Dazu erlaubt sich der Autor die Idee Chamissos Peter Schlemihl auftreten und ihn ausgerechnet einen Schattenriss von Marie fertigen zu lassen. Das rubinrote Glas, das der Alchimist Johannes Kunckel erfand, lässt er zu einem zentralen Motiv der Geschichte werden; auch Kunckel lebte einmal auf der Pfaueninsel. Hettche tobt sich kreativ an den Fakten aus, dass die Funken sprühen und es eine Freude ist, ihm zu lauschen. Vor allem schildert er empathisch die Lieben und Leiden von Maire. Zu Hochform und Meisterschaft läuft er auf, wenn er Marie über ihre Sorgen und Ängste, um ihre Stellung in der Welt und ihr Bild nach außen, reflektieren lässt.

Weil Hettche aber so völlig in seiner Zeit und Welt aufgeht, entstehen, besonders in der Mitte der Lektüre, auch Phasen von Zähigkeit, selbst die schönsten Passagen scheinen etwas sperrig, der Plot kommt nicht voran und plätschert zum Ende hin aus.

Pfaueninsel fordert Aufmerksamkeit und die Bereitschaft des Lesers sich auf sie und ihre Bewohner einzulassen. Hettches Sprache will dies ebenso. Pfaueninsel in der U-Bahn lesen? Vergiss es! Fünf Minuten vor dem Einschlafen? Ebenso! Nimmt man sich aber die Zeit und dem Buch den Raum, den es braucht, entfaltet sich eine eigene Welt, die zwar, wie im echten Leben, Schwächen hat, in der es sich aber sehr gut leben lässt.

Pfaueninsel ist ein außergewöhnliches Buch, das als Gesamtkunstwerk preiswürdig ist. Ein Buch, das ist keine traditionelle Kategorie so richtig passen will. Ob der Deutsche Buchpreis diesem Buch hätte gerecht werden können, kann ich nicht beantworten. Die Recherche-, Kreativ- und Fleißarbeit die Hettche geleistet hat ist aller Ehren wert.

Und am Ende muss man auch den Kiepenheuer & Witsch Verlag auf die Gestaltung dieses Buches sehr loben. Blaues Leinen, mit so etwas wie Gummi (?) oder Vinyl (?) bedruckt, auf dem Vorsatz eine historische Karte der Gegend und angenehm großzügiger Satz, preisverdächtigt.

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.

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