1. Der Auswahl der Damen und Herren von Manesse kann, darf, sollte man trauen, denn haben Ahnung von dem was sie tun und ohne diesen Verlag wäre meine, deine, unsere Welt der Klassiker um einiges ärmer. Mit größstes Plus ist die Vielfalt der verlegten Werke: durch sämtliche Epochen, über alle Länder- und Kulturgrenzen werden Werke zum ersten Mal veröffentlicht, neuübersetzt oder -aufgelegt. Selbstverständlich, dass in einem so breit aufgestellten Programm für jeden etwas dabei, aber nicht alles für jeden etwas ist.
2. Ich breche keine Bücher ab (eigentlich; zumindest nicht nachdem ich mir einen entsprechenden Prozentsatz der Seiten zum Einlesen gegeben habe. Schwammige Sache, denn dieser kann auch mal zwischen 20 und 50 Prozent liegen).
3. “Das Buch der Snobs” breche ich ab, obwohl ich über 60 Prozent plus Nachwort bereits gelesen habe.
William Makepeace Thackeray war Schriftsteller im viktorianischen Zeitalter und hatte eine sehr scharfe Zunge. In der Satirezeitschrift “Punch” erschien monatlich eine Kolumne dieses Gentleman über Snobs, die derart erfolgreich war, dass es sich direkt lohnte dieselben noch einmal als Buch herauszugeben. Er wetterte über achtbare, geistliche, militärische, politische Snobs; Snobs in der Universität, der Ehe, in Clubs, solche die zum Essen laden und solche die zum Essen einladen werden. Der Autor wettert ohne laut zu werden, mit bissiger Ironie und bloßstellend, ohne dass der Adressat es merkt. Thackeray schildert so viele verschiedene Typen des Snobs und trotzdem kann man sich den Beschriebenen vorstellen, meist kennt man (leider) noch ein Beispiel persönlich.
Immer habe ich die Art bewundert, wie man in unserem Lande Ränge vergibt; wie dem […] kleinen Geschöpf (es wurde erst vorige Woche noch ob mangelhafter Orthographie verprüfgelt) die Befehlsgewalt über große bärtige Krieger erteilet wird, welche allen Gefahren von Klima und Kampf getrotzt haben; wie er – da er das Geld besitzt, ein Offizierspatent zu kaufen – über Männer gestellt wird, die tausendmal mehr Erfahrung und Verdienst haben […].
Versucht man nun diesen Text von 1849 in die heutige Zeit zu übersetzen, man entdeckt in seinem Kern eine Gesellschaftskritik, die man kongruent auf so manches Verhältnis in Politik und Wirtschaft gestern, heute, morgen übertragen kann.
Weil ein Bursche ein Lord ist, verleiht ihm die Universität nach zwei Jahren einen akademischen Grad, den ein anderer erst nach sieben erwirbt. Weil er ein Lord ist, muss er sich keiner Prüfung unterziehen. Wer die Reise zum College […] nicht unternommen hat, würde derlei Unterschiede in einer Bildungseinrichtung nicht glauben, so absurd und ungeheuerlich erscheinen sie.
Liest man auch hier nicht Wort für Wort zwischen den Zeilen… dann muss nichts erläutert werden.
Ganz gleich wie schäbig oder trostlos, niemand wird je sagen, er habe einen Laden. Ein Kerl, dessen Warenbestand nur aus einer Semmel oder einem Glas mit Lutschern besteht, nennt seine Hütte “Amerikanisches Mehlkaufhaus” oder “Kolonialwarendepot” oder derlei.
…
Und so könnte und könnte ich fortfahren und zitieren aus einem Buch das – manessetypisch – von erlesener Qualität, in Leinen gebunden, mit Lesebändchen, einem pointierten, aufschluss- und lehrreichen Nachwort von Asfa-Wossen Asserate und Anmerkungen des Übersetzers Gisbert Haefs zu über 350 Personen, Orten, Plätzen und Redewendungen nicht besser gemacht sein könnte.
Warum ich es nicht zu Ende lese? Weil es kein Buch ist, das von vorne bis hinten gelesen werden will, nicht werden muss. Vielmehr stehen die einzelenen Rubriken, wenn auch teilweise über mehrere Einzelbeiträge verteilt, für sich und sind auch so lesbar. Die Lektüre in Häppchen ist sogar empfehlenswert, denn auf Grund meiner vielen Wissenslücken in britischem Lokalkolorit musste ich viel nach hinten blättern.
Also: wer sich für diese Zeit und die Gesellschaft dieser Zeit in England interessiert, Freude an wirklich feingezeichneten Charakterisierung von Typen hat und etwas Geduld mitbringt, kann hier ein Buch entdecken, dass leider größtenteils auch nur allzugut in unsere heutige Gesellschaft passt. Daher werde ich es wohl auch noch einige Male aus dem Regal nehmen, wenn ich schmunzeln will – wer einen Roman lesen will, lese einen Roman.