Richard Yates – Elf Arten der Einsamkeit

006610480-elf-arten-der-einsamkeitErfreut bin ich, dass nach langer Pause mal wieder eine Gastrezension von Manu hereingetrudelt ist. Mein Freund der sehr gute Jazzpianist schreibt über Richard Yates – Elf Arten der Einsamkeit:

Wie rezensiert man am besten eine Sammlung thematisch verwandter Kurzgeschichten?

Diese Frage zu beantworten, fiel mir zunächst nicht leicht. Ich habe mich entschieden, exemplarisch eine der „Elf Arten der Einsamkeit“ herauszupicken, um daran die Meisterschaft des Autoren Richard Yates abzuleiten.

Ein wirklich guter Jazzpianist

Carson Wyler und Ken Platt sind die besten Freund, unzertrennlich schon seit Kindertagen; und das, obwohl sie unterschiedlicher nicht seien könnten. Carson ist Mädchenschwarm, sieht aus wie ein Modellathlet, ist eloquent, geistreich, ein wahrer „Player“. Ken dagegen ist dick, schwitzend, irgendwie entstellt, unsicher, oft schüchtern und gehemmt; nur durch den Kumpel Carson kann er glänzen. Die Freundschaft ist innig, wenn auch nie ausgeglichen gewesen, und so sucht Ken ständig nach Zeichen der Anerkennung und Bestätigung, ein Lächeln, ein Nicken, ein lobendes Wort oder irgendein anderes Zeichen von Carson.

Die beiden sind nach ihrem Yale-Abschluss nach Frankreich gereist, wollten eine Europatour machen. Doch Carson blieb zunächst in Paris (eine Affäre mit einer Kunststudentin), wollte dem Freund nach Cannes am kommenden Wochenenden nachreisen (es sollte mehr als einen Monat dauern). Und Ken? Er verlebte vier einsame und verzweifelte Wochen in Südfrankreich. Kein Mädchen wollte mit ihm tanzen, zu Nichts und Niemand sollte er Anschluss erhalten – bis er zuletzt doch noch einen vermeintlichen Triumph verzeichnen sollte.

Das Buch beginnt mit einem Anruf in Paris – Ken erreicht per Ferngespräch den Freund in einer Pariser Bar – und stellt ihm erwähnten Sid vor, einem „Magier an den Tasten“ und „gutem Freund“, den er hier in Cannes aufgetrieben habe. Er wolle ihn sogar die Ehre erweisen und in den IBF aufnehmen – International Barflies, einem Club von Eingeweihten, zu denen die beiden Ex-Studenten auch gehören. Erkennungsmerkmal ist der besondere (und alberne) Ritualgruß (das Nachahmen eines Fliegengeräuschs) – eine Geste, die noch von Bedeutung sein soll. Carson ist neugierig auf Kens Entdeckung, löst sich von seiner Affäre (derer er überdrüssig war) und reist alsbald nach Cannes.

Und tatsächlich, Sid, ein farbiger Amerikaner, der in Cannes ein kleines Jazzlokal besitzt, erweist sich als ein spannender, intelligenter Zeitgenosse, eine Bekanntschaft, die er seinem Freund Ken gar nicht zugetraut hätte.

Im weiteren Verlauf des Abends bröckelt jedoch Kens Begeisterung für den Pianisten, als dieser berichtet, er wolle baldmöglich zurück in die Staaten, da er sich von Casinobesitzer Murray Diamond „das große Geld“ in Vegas verspricht. Von der Magie von Cannes, seines Lokals und seiner Kunst allein wolle er nicht Leben.

Entsetzt über die „Prostitution“ des Klavierspielers versucht er, dessen Gesinnung zu entlarven, sein Interventionsversuch wird aber von Carson schnell abgekanzelt. Durch die Zurechtweisung kleinlaut und verzagt geworden, verdüstert sich Kens Stimmung wieder.

Als die beiden am nächsten Abend in Sids Café Zeuge eines „Charme-Schauspiels“ für den widerlichen Diamond werden, wandelt sich die Beziehung von Carson und Ken jedoch völlig. Zunächst erstaunt über Sids unterwürfiges Gebahren und dessen völlig „degenerierten“ Verhalten, gibt Carson seinem dicken Kumpel nun doch Recht – Ken erntet endlich die so sehr erhoffte Bestätigung. Doch anstelle des von ihm vorgeschlagenen, demonstrativen Verlassens von Sids Café will Carson bleiben, und das unwürdige Schauspiel nicht unkommentiert lassen.

Ken ist die Situation extrem unangenehm. Als schließlich Sid, um Mr. Diamond zu beeindrucken, die beiden Freunde nun erstmals „bemerkt“ und mit dem eingeweihten IBF-Gruß – gut sichtbar für den Vegas-Mann – anzusprechen versucht, geschieht es. Carson lässt den Pianisten völlig auflaufen, tut so, als wisse er gar nicht, was die Albernheit zu bedeuten habe, gibt den Irritierten. Die Tour wird Sid gehörig vermiest, alle Zuschauer bemerken den Affront, als dann Carson völlig gelassen das Lokal verlässt und Sid blamiert zurücklässt.

Ken ist außer sich, will dem Freund draußen am liebsten schlagen und die Peinlichkeit aus ihm herausprügeln, als er plötzlich etwas bei Carson bemerkt, was er noch nie gesehen hat. Hier das schöne Zitat:

„Und, Ken, fandest du es nicht witzig?“ fragte Carson.

 

Nicht das, was er sagte, war von Bedeutung – eine Weile schien es, als würde nichts, was Carson sagte, je wieder Bedeutung haben -, es lag daran, daß sein Gesicht von einem Ausdruck heimgesucht wurde, der Kens Herzen auf unheimliche Weise vertraut war, der Ausdruck, mit dem er selbst, Fettarsch Platt, sein ganzes Leben lang andere angesehen hatte: gehetzt, verletzlich und schrecklich abhängig, der Versuch eines Lächelns, ein Bick, der sagte, bitte, lass mich nicht allein.

Es ist schon etwas ironisch, dass eine Kurzgeschichte einer so langen Zusammenfassung bedarf – und ich entschuldige mich für etwaige Langatmigkeit. Aber die Intensität, die Richard Yates mit dieser (und mit fast jeder anderen Geschichte im Buch „Elf Arten der Einsamkeit“) zu erzeugen vermag, hat mich schwer beeindruckt. Der Bruch bzw. Wechsel der Positionen beider ungleichen Freunde zueinander sowie die Demaskierung der interindividuellen Beziehungsverhältnisse gelingt geradezu meisterlich und erklärt, warum Yates, der oft mit Updike und Salinger genannt wird, neuerdings ein Wiederentdecken zu erleben scheint.

Insgesamt decken die Kurzgeschichten des Bandes einen kompletten Querschnitt durch die Lebensverhältnisse und Konzepte in den USA der Fünfziger Jahren ab, anhand deren es tatsächlich gelingt, elf mal in unterschiedlichster Weise und Intensität das Wort Einsamkeit zu definieren.

Absolute Leseempfehlung, vor allem für Nicht-Einsame.

Manu hat außerdem Rezensionen geschrieben zu:

Die Kunst des Feldspiels und In einer Person

Kategorien Allgemein Rezensionen

Tilman berät als Rechtsanwalt Verlage, Autoren und andere Kreative im Urheber- und Medienrecht. Als Blogger hat er sich sowohl im Bereich der Literaturkritik als auch -vermittlung in der Branche einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Winterling ist zudem als Jurymitglied (u.a. Hamburger Literaturförderpreise) und Moderator von Lesungen tätig, sowie gefragter Interviewpartner (u.a. Deutschlandfunk, Radio Eins), wenn es darum geht verständlich und unterhaltsam über rechtliche Themen und solche des Bloggens zu berichten.